Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Henry Kissinger über China zwischen Tradition und Moderne

Eine harmonische Gesellschaft

Von Wolfgang Triebel *

Er ist zweifellos ein exzellenter Kenner der Vergangenheit und Gegenwart Chinas. Henry Kissinger ist zudem ein aufmerksamer Berobachter internationaler Geschehnisse. Der US-amerikanische Fachmann für Außenpolitik hat nun eine voluminöses Buch über das aufstrebende »Reich der Mitte« geschrieben, das Beachtung verdient.

In den ersten drei Kapiteln blickt der Diplomat in die Geschichte zurück, untersucht u. a. die Strategie des kaiserlichen Mandarins Wei Yuan (1794- 1856), der im Opiumkrieg von 1840 von der Diplomatie »der Europäer um ein Gleichgewicht der Kräfte« auf seine Weise lernte. Er empfahl, »raffgierigen Staaten Konzessionen zu gewähren« und sie »an der Beute zu beteiligen«. Diese Taktik nannte er, »Barbaren gegen Barbaren einzusetzen«. Die Kolonialmächte sollten sich gegenseitig bekämpfen. Kissinger attestiert Chinas Beamten, gegenüber Ausländern stets ein »unerschütterliches Selbstbewusstsein« gezeigt zu haben.

Schwerpunkt des Buches ist Chinas auswärtige Politik unter Mao Zedong. Kissinger schreibt: »Mao Zedongs Sieg war in Washington mit Bestürzung aufgenommen worden und hatte eine Debatte darüber ausgelöst, wer für den ›Verlust‹ Chinas verantwortlich sei.« Peking wiederum argwöhnte, Washington könnte diesen »Verlust« rückgängig zu machen versuchen. »Diese Befürchtung sah Mao 1950 bestätigt, als Präsident Truman … die Siebente Flotte in die Taiwanstraße entsandt «, bemerkt Kissinger. USAußenminister Acheson nannte hingegen im gleichen Jahr die Integrität Chinas »im nationalen Interesse Amerikas«; jeder, der die Integrität Chinas verletze, handele »damit gegen unsere eigenen Interessen «. Acheson war also weitsichtiger als Obamas Außenministerin Hillary Clinton heute.

Noch zwanzig Jahre vergingen, ehe China und die USA gemäß dem »Erfordernis der Zeit«, so Kissinger, »zwangsläufig einen Weg zueinander « fanden. China benötigte nach den militärischen Konflikten mit Indien und der UdSSR sowie dem Chaos »Kulturrevolution« Hilfe von außen. Die USA hatten im Vietnamkrieg an Ansehen verloren. In Europa war der KSZEProzess in Gang, der von den Amerikanern wie auch den Chinesen misstrauisch verfolgt wurde. Bei der nunmehrigen Annäherung beider Staaten war Kissinger als Außenminister Verhandlungsführer. Er versteht sich heute noch als Architekt der Annäherung. Wie er in diesem Buch gesteht, beeindruckten ihn die strategischen Fähigkeiten von Ministerpräsident Zhou Enlai, dessen »akribische Analyse langfristiger Trends, das sorgfältige Studium der taktischen Operationen und eine davon getrennte Prüfung der operativen Entscheidungen«. Indem Kissinger die Talente seines Gegenübers betont, unterstreicht er freilich auch sein eigenes Geschick, amoralische Ansinnen in der US-Außenpolitik bedeckt zu halten. Das heißt nicht, dass er für friedliche internationale Beziehungen nicht aufgeschlossen gewesen wäre.

Bis zum Untergang der UdSSR beruhten, laut Kissinger, die Beziehungen zwischen Amerika und China auf einem »Dreiecksdenken «. Beide unterstellten Moskau unlautere oder gar aggressive Absichten, verdächtigten die Kremlführung, weltweite Hegemonie anzustreben. Nach Zhou Enlais und Maos Tod war Deng Xiaoping Hauptgesprächspartner für Kissinger. Über ihn vermerkt der Autor, er habe wie »der höchste aller Mandarine« regiert, kaum lautstark in der Öffentlichkeit, eher ein unsichtbarer Herrscher, aber stets omnipräsent. Kissinger schätzte ihn. Deng war der Organisator des wirtschaftlichen und internationalen politischen Aufstiegs der VR China.

Schließlich befasst sich der Autor mit den erneut gestörten Beziehungen zwischen China und den USA. Das Feindbild Sowjetunion ist entfallen, für beide Staaten. Das Weltkräfteverhältnis wurde neu justiert. Rivalitäten richten sich auf Geopolitik, statt auf Ideologien. Chinas Politiker lehnten »die Ausbreitung politischer Prinzipien über die eigenen Grenzen hinaus« strikt ab, bemerkt Kissinger. Und er klagt sodann: »Die Amerikaner dagegen bestanden darauf, dass ihre Wertvorstellungen universell anwendbar seien.« US-Präsident Clinton behaupte 1992, China würde eines Tages »das gleiche Schicksal erleiden wie die kommunistischen Regime in Osteuropa und die ehemalige Sowjetunion«. Sein Außenminister Warren wollte »eine friedliche Evolution Chinas vom Kommunismus zur Demokratie« befördern. Diese hoffte er vor allem durch die Unterstützung von NGOs in China »voranzutreiben«. Doch Chinas Politiker lassen sich von niemandem in ihre Innen- und Außenpolitik hineinreden.

Kissinger bezeugt, im »Reich der Mitte« werde eine harmonische Gesellschaft aufgebaut, in der niemand Armut leidet. Die Chinesen wollen mit anderen Völkern friedlich zusammenleben. Kissinger zitiert den einflussreichen chinesischen Außenpolitiker Dai Bingguo, der im Dezember 2010 erklärte, »am Weg der friedlichen Entwicklung festhalten« zu wollen. »Da ich ein ganzes Jahrzehnt lang viele Stunden im Gespräch mit diesem nachdenklichen und verantwortungsbewussten Spitzenpolitiker verbracht habe, ziehe ich weder seine Aufrichtigkeit noch seine Absichten in Zweifel«, kommentiert der US-Diplomat. Sein Buch sei der jetzigen US-Administration wie auch Pentagon- Strategen und NATO-Generalen als Pflichtlektüre verordnet, um sie von ihrer aggressiven Chinaphobie zu befreien.

Henry Kissinger: China. Zwischen Tradition und Moderne. Bertelsmann Verlag. 608 S., geb., 26 €.

* Aus: neues deutschland, 2. Februar 2012


Zurück zur China-Seite

Zurück zur Homepage