Ein Gott, der Politik spielte
Dunkle Jahre – Die "Große Proletarische Kulturrevolution"
Von Wolfram Adolphi *
Als »eines der seltsamsten Ereignisse der Geschichte« hat der amerikanische China-Historiker John
K. Fairbank die chinesische Kulturrevolution (1966-1976) einmal beschrieben, und er meint damit,
dass ihre Ursachen, ihr Anlass und ihr erratischer Verlauf nur schwer zu begreifen sind. In der Tat
sind die Deutungsanstrengungen bis heute nicht abgeschlossen.
Fest steht, dass Mao Zedong in jeder Hinsicht im Zentrum des schwer überschaubaren Geschehens
stand – und zwar in einer Doppelrolle als eine Art Kaiser und Revolutionsführer zugleich. Immer war
in China die Macht von oben gekommen – nun kam von dort also auch die Macht zur
Selbstzerstörung, und das war möglich, weil – so noch einmal Fairbank – Mao nicht nur Kultobjekt
war, sondern auch der anerkannte Chef eines jeden in der von ihm ins Leben gerufenen
Revolutionsorganisationen: »ein Gott, der Politik spielte«.
Den Anfang des dramatischen und immer widersinniger werdenden Geschehens markiert zu Beginn
des Jahres 1966 die Tatsache, dass Mao nach den verheerenden Wirkungen der von ihm in Gang
gesetzten »Hundert-Blumen-Bewegung« (1957/58) und des ebenfalls von ihm zu verantwortenden
»Großen Sprungs nach vorn« (1958/59), auf den seine innerparteilichen Gegner um Liu Shaoqi und
Deng Xiaoping von 1961 bis 1965 mit einer Berichtigungsbewegung reagiert hatten, am Rande des
vollständigen Machtverlustes steht. Da es ihm nicht gelungen ist, die Gongchandang, die KP Chinas,
von innen heraus wieder seinen Ideen und Plänen zu unterwerfen, startet er – wie Konrad Seitz,
einer der profundesten deutschen China-Analytiker formuliert – einen »Volksaufstand« gegen sie.
Vor dem »revisionistischen« Weg, den seiner Auffassung nach die KPdSU eingeschlagen hat, will er
sie bewahren, in eine wahrhaft revolutionäre Partei sie zurückverwandeln.
Im August 1966 lässt er die Roten Garden (Hongweibing) bilden: Gruppen von Schülern und
Studenten, die er bei sechs gewaltigen Massenversammlungen mit insgesamt mehr als zehn
Millionen Teilnehmern aus dem ganzen Land auf dem Tiananmen-Platz auf den »Schlag gegen die
Alten Vier« – die alten Ideen, die alte Kultur, die alten Bräuche und die alten Gewohnheiten –
einschwört. Und die jungen Leute nehmen den Schwur ernst. Sie reißen mit ihren Attacken alle
Schranken nieder. Es geht gegen die örtlichen und regionalen Parteifunktionäre, aber auch gegen
die Lehrer, gegen die Intellektuellen, oft gegen die eigenen Eltern, sowieso gegen jeden, der in
Verdacht gerät, mit dem Ausland in Verbindung zu stehen. Unzählige Stätten der alten chinesischen
Kultur werden verwüstet. »Mit der Hochstimmung, Angst, Erregung und Spannung im Land«,
schreibt mit Jonathan D. Spence ein anderer herausragender amerikanischer China-Kenner, »wuchs
sprunghaft die Gewalt«, und weiter: »Das Ausmaß der Gewalt und die Wut der jugendlichen Roten
Garden gegen die ältere Generation lassen ahnen, wie frustriert sich die chinesische Gesellschaft im
Grunde fühlte.« Jahrelang seien die jungen Leute »zu revolutionärer Opferbereitschaft, sexueller
Abstinenz und absolutem Gehorsam gegenüber dem Staat angehalten und in allem fortgesetzt
überwacht« worden, nun »befolgten sie begierig die Weisung, alle Zurückhaltung fahren zu lassen,
und suchten sich naturgemäß diejenigen als Zielscheibe aus, denen sie die Schuld an ihrem
beengten Dasein gaben.«
Mitte 1967 werden die Hongweibing so stark, dass sie Teile des Staatsapparates übernehmen und
die Regierung handlungsunfähig machen. Noch immer und in allem Getümmel glauben sie, dass
Mao als Allwissender die Hand über sie halte, aber nun werden viele von ihnen selbst zum Opfer,
denn Mao, der jetzt auch die eigenen Felle davonschwimmen sieht, lässt die Armee und
Arbeitereinheiten gegen sie aufmarschieren. Es kommt in verschiedenen Teilen des Landes zu
bewaffneten Auseinandersetzungen mit Tausenden von Toten. »Ein bisschen Bürgerkrieg«, sagt
Mao in diesen Tagen, »was kann daran schon so schlimm sein.«
Im Sommer 1968 werden die Hongweibing demobilisiert, Millionen Jugendliche zur »Umerziehung«
aufs Land geschickt. 1969 kommt die Welle der Gewalt für viele zur Ruhe, nicht aber für die
Intellektuellen, die als »Stinkende Neunte Kategorie der Klassenfeinde« bis zu Maos Tod 1976
verfolgt und gedemütigt werden.
Die Gongchandang ist 1969, als die Revolution offiziell für beendet erklärt wird, nicht
»revolutionärer« als 1966. Aber: Mao steht wieder unangefochten an der Spitze. Der Preis ist
unvorstellbar hoch. Wie viele Opfer genau es sind, die diese Kulturrevolution gefordert hat, ist noch
immer unbekannt. Um die 100 Millionen Menschen waren direkt an ihr beteiligt, um die 500 Millionen
indirekt in Mitleidenschaft gezogen. Die »Säuberung« der Gongchandang erfasste rund 60 Prozent
ihrer Funktionäre. Wohl eine halbe Million Menschen sind durch Gewalttaten zugrunde gegangen,
unzählige erlitten dauernde körperliche und seelische Schäden. Aus dem Kreis der einst engsten
Kampfgefährten Maos kamen durch die Attacken der aufgeputschten Massen und der
Sicherheitsorgane Liu Shaoqi und Peng Dehuai zu Tode. Viele Künstler – unter ihnen der
weltbekannte Schriftsteller Lao She – nahmen sich das Leben.
Zum »Seltsamen« der Kulturrevolution gehört, dass ihre Ideologie zu einer der Triebkräfte der
Studentenbewegung in den USA und in Westeuropa zu werden vermochte, und auch, dass sich die
USA noch in kulturrevolutionärer Zeit (1971/72) zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der
VR China entschlossen. Wer immer diese Revolution zu ergründen versucht, darf um ihre
internationalen Wirkungen keinen Bogen machen.
Und wie steht es um chinesische Forschungen zu diesem so einschneidenden Ereignis? Helmut
Peters, Nestor der DDR-Chinaforschung, liefert dazu gerade dieser Tage mit seinem Buch »Die VR
China: Aus dem Mittelalter zum Sozialismus« interessantes Material. Um aber die Komplexität eines
solchen Ereignisses, das immer mehr außer Kontrolle gerät, weil Millionen zu Akteuren werden,
besser zu begreifen, scheint mir ein auf den ersten Blick weitab vom chinesischen Thema liegendes
Buch sehr hilfreich: Karl Schlögels »Traum und Terror. Moskau 1937«. Die Revolutionen des 20.
Jahrhunderts sind noch längst nicht zu Ende diskutiert.
Von unserem Autor erschien jetzt »Mao. Eine Chronik« (Neues Leben, 192 S., br., 12,90
* Aus: Neues Deutschland, 17. Oktober 2009
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