Der chinesische Transformationsprozess
Von Helmut Peters*
Die VR China hat in den zurückliegenden 25 Jahren einen wirtschaftlichen
Aufschwung genommen, den zuvor niemand für möglich hielt. Das können
selbst jene politischen Kräfte nicht leugnen, die einer sozialistischen Entwicklungsrichtung
dieses Landes entgegenwirken und den chinesischen Transformationsprozess
in Richtung Kapitalismus umzulenken bestrebt sind.
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung haben sich in der Volksrepublik zugleich
überaus ernste gesellschaftliche Probleme entwickelt. Sie haben ihre
Ursache sowohl in der Politik der KPCh wie im permanenten Druck des internationalen
Kapitals.
Der bisherige Transformationsprozess in der VR China hat in der materiellen
Sphäre noch keine Elemente, Beziehungen und Strukturen hervorgebracht, die
die qualitativ höhere Entwicklungsstufe des Sozialismus gegenüber dem
Kapitalismus verkörpern würden. Im zurückliegenden Jahrzehnt haben sich
zudem zunehmend Elemente und Kräfte entwickelt, die der sozialistischen
Entwicklung des Landes entgegenstehen oder gar entgegenwirken.
Am Beispiel der VR China tritt damit eine Thematik in den Vordergrund, die
in der internationalen Arbeiterbewegung seit der Russischen Oktoberrevolution
umstritten ist – die nichtkapitalistische Entwicklung mehr oder weniger
vorkapitalistischer Länder zum Sozialismus. Bekanntlich hat es in der bisherigen
Geschichte noch kein Land gegeben, in dem dieser Weg bis zu Ende beschritten
werden konnte. Es ist daher auch nicht erwiesen, dass ein solcher
Weg überhaupt gangbar ist.
Charakter und Entwicklung des chinesischen Transformationsprozesses
Der chinesische Transformationsprozess vermittelt zwei wesentliche Erkenntnisse:
Zum einen ist eine reale und umfassende Einschätzung der historischen
Ausgangsbedingungen für die Transformation von erheblichem Einfluss auf
ihren Verlauf. Mao Zedong und damit die KP Chinas hatten beispielsweise
unter dem Einfluss Stalins den Grad der Kapitalisierung in der chinesischen
Gesellschaft am Vorabend der Gründung der Volksrepublik Chinas überschätzt [1]
und zugleich die Festigkeit der feudalen Zivilisation unterschätzt.
Dieses Herangehen an die chinesischen Realitäten sollte gravierende Auswirkungen
haben. Sie können an den Ereignissen der Jahre 1958-61 und 1966-
1976 abgelesen werden. In den letzten Jahren hat diese Problematik im Zusammenhang z.B. mit Erscheinungen des Patriarchalismus unter den Parteikadern
in China vermehrt Aufmerksamkeit gefunden.
Zum anderen ist die Überwindung der feudalen Zivilisation mit einer mehrtausendjährigen
Geschichte gerade in großen Ländern wie China ein besonders
langwieriger und komplizierter Prozess. Dabei geht es nicht nur um die
Überwindung der ökonomischen Rückständigkeit, wie ursprünglich im Grunde
auch von der KP Chinas gesehen. Es geht vielmehr um einen umfassenden
und tiefgreifenden Sprung im Zivilisationstyp.[2]
Aus den bisher vorliegenden Erfahrungen praktischer nichtkapitalistischer Entwicklung
wissen wir auch, dass dieser Prozess einher gehen muss mit der kritischen Aneignung
der Fortschritte der materiellen wie geistigen Zivilisation der Menschheit
im Kapitalismus. Es ist ein Verdienst vor allem Deng Xiaopings, dieses dialektische
Herangehen an den Kapitalismus aus dem Erbe Lenins [3] wieder aufgegriffen und in
die Reform- und Öffnungspolitik der KP Chinas eingeführt zu haben.
Aus meiner Sicht hat sich bisher in der VR China eine gesellschaftliche Transformation
aus weitestgehend vorkapitalistischen und kolonial deformierten Verhältnissen
zum Sozialismus unter Umgehung der kapitalistischen Gesellschaftsformation
vollzogen. Theoretische Überlegungen von Marx und Engels sowie die
Theorie und Praxis der NÖP Lenins vermitteln die Überlegung, dass ein solches
Land ohne eine entsprechende progressive Unterstützung von außen die mittelalterliche
Rückständigkeit in sozialistischer Richtung schwerlich überwinden kann.
Diesen Faktor verkörperte für China in den Anfängen des Transformationsprozesses
im wesentlichen die UdSSR. Dieser Faktor wirkte jedoch eingeschränkt. Ökonomisch
förderte er maßgeblich die Schaffung des Kernstücks der chinesischen
Industrie. Für die neue politische und geistige Zivilisation in China vermochte er
jedoch aufgrund der eigenen Begrenztheit keine wegweisenden Impulse zu geben.
Dennoch beeinträchtigten der Wegfall dieses Faktors und die Konfrontation mit
der UdSSR und fast allen anderen sozialistischen Ländern den weiteren Verlauf
des chinesischen Transformationsprozesses erheblich. Auf die alte Zivilisation zurückgehende
Elemente drängten sich in den Vordergrund der Politik der KPCh. Zugleich vergrößerte sich nicht nur die wirtschaftliche Kluft zwischen der VR China und der kapitalistischen Welt. Auch der ökonomische Abstand Chinas zu einer Reihe Entwicklungsländer nahm wieder zu.
Die Lage änderte sich mit dem Übergang der KP Chinas zu einer Reform- und
Öffnungspolitik. Zwei wesentliche Momente sind hier hervorzuheben – der
Kurs auf Anpassung der Produktionsverhältnisse an den realen Entwicklungsstand
der gesellschaftlichen Produktivkräfte und der Kurs auf Nutzung des
Kapitals. Wie in der NÖP Lenins musste die KP Chinas nun versuchen, vornehmlich das internationale Kapital als „Vehikel“ (Lenin) für die Überwindung der
wirtschaftlichen Rückständigkeit zu nutzen und auf diesem Wege eine bedeutende
Steigerung der gesellschaftlichen Arbeitsproduktivität zu erreichen.
Facetten des chinesischen Formationswechsels
Der chinesische Transformationsprozess hat viele Seiten. Sie greifen ineinander
und beeinflussen sich gegenseitig.
a) Wandel von der traditionellen Agrargesellschaft zu einer modernen Industriegesellschaft
Von grundlegender Bedeutung im Transformationsprozess ist der Wandel von
der dörflichen Ackerbaugesellschaft zur städtischen Industriegesellschaft.
Sein primärer Indikator ist die Industrialisierung des Landes. Nach chinesischen
Einschätzungen befindet sich der Industrialisierungsprozess heute, 55 Jahre
nach Gründung der Volksrepublik, für das gesamte Land gesehen in seiner mittleren
Phase. Diese Entwicklung ist nach Regionen und Zweigen höchst ungleichmäßig
verlaufen. Beispielsweise ist die Industrialisierung in der entwickeltsten
Region des Landes, im Yangtse-Dreieck (Shanghai, Jiangsu, Zhejiang),
weitgehend abgeschlossen und bereits mit der High-Tech-Industrie verbunden.
Von diesem Niveau sind viele Gebiete in Mittel- und vor allem in
Westchina noch weit entfernt.[4] Und die Industrialisierung der Landwirtschaft ist
bisher noch gar nicht in Sicht. Dieser Zweig der Volkswirtschaft entwickelt sich
nach wie vor fast ausschließlich auf der Grundlage manueller Tätigkeit in kleinen
Familienbetrieben. Die KP Chinas hat sich nun wieder ein hohes Ziel gesetzt:
Das Land soll im Jahre 2020 industrialisiert sein. Die konkreten Kriterien,
an denen die Erfüllung dieser Aufgabe gemessen werden soll, sind mir nicht bekannt.
Die Erfahrungen zeigen jedoch, dass sich die KPCh für die Modernisierung
des Landes wiederholt unrealistische Ziele setzte. So scheint mir auch die
unter dem früheren Generalsekretär des ZK der KPCh Jiang Zemin gestellte
Aufgabe nicht erfüllbar, bis zum Jahre 2010 das sozialistische Dorf zu schaffen.
Im marxistischen Verständnis hieße das, bis zu diesem Zeitpunkt eine vergesellschaftete
und mechanisierte Großlandwirtschaft aufzubauen. Überaus schwierig
dürfte es auch sein, die Industrialisierung in Mittel- und Westchina stärker voranzubringen.
Ungeachtet dieser Orientierung vollzieht sich weiterhin eine Abwanderung
von qualifizierten wie unqualifizierten Arbeitskräften und Kapital
aus diesen Gebieten in das marktwirtschaftlich fortgeschrittene Ostchina.
Ein weiterer Indikator für den Wandel von der traditionellen Agrargesellschaft
zur einer Industriegesellschaft ist die Urbanisierung. Typisch für den bisherigen
gesellschaftlichen Wandel ist das auffällige Zurückbleiben der Urbanisierung
hinter der Industrialisierung. Die entscheidende Ursache für diese Kluft
war die Abschottung der Stadt gegenüber dem Dorf nach dem Beispiel der
sowjetischen Industrialisierungspolitik unter Stalin. Diese Trennung in der
Entwicklung von Stadt und Land begann mit der Einführung einer dualistischen
Wirtschaft- und Sozialstruktur am Vorabend des „großen Sprunges
nach vorn“. Sie erstreckte sich auf 14 für Leben und Produktion maßgebliche
Bereiche [5], in denen die Stadt durch Subventionen und niedrigere Preise privilegiert
wurde. Die ländliche Bevölkerung hingegen wurde davon nicht nur
ausgeschlossen. Sie hatte zudem bis in die unmittelbare Gegenwart auch die
Hauptlast der Industrialisierung des Landes und der regionalen Ausgaben
(Bewässerungswirtschaft, Infrastruktur, Bildungswesen u.a.) zu tragen.[6] In dieser
dualistischen Struktur hatte der Dörfler so gut wie keine Chance, Stadtbewohner
zu werden. Im Ergebnis dieser Differenzierung bildet sich eine Lage heraus, in der
eine für China moderne städtische Zivilisation und rückständige arme ländliche
Gebiete nebeneinander bestehen. Städtische Bürger erhielten eine für chinesische
Verhältnisse gute Bildung, während auf dem Dorfe Analphabetentum und niedriges
Bildungsniveau verbreitet blieben. Die Dörfler waren ihrer ökonomischen, sozialen
und juristischen Lage nach Bürger zweiter Klasse. Eine Entsendung auf das
Dorf glich im Grunde einer Art Verbannung.
Unter dem Einfluss der Marktwirtschaft in den ökonomisch fortgeschrittenen
Regionen des Landes und der damit erforderlichen Mobilität der Arbeitskräfte
begann dieses dualistische System mehr und mehr zu bröckeln. Schließlich
ging auch die Administration dazu über, dieses System einzuschränken und
abzubauen. Die nun beschleunigte Urbanisierung ist zu einem wesentlichen
Faktor geworden, der einen neuen Wirtschaftsboom ausgelöst hat. 98 Millionen
so genannte Bauern-Arbeiter (nongmin-gong) sind derzeit aus den Dörfern
unterwegs, um als billige Arbeitskräfte in den Städten Ostchinas anzuheuern.
Sie arbeiten dort vielfach unter faktisch rechtlosen und menschenunwürdigen
Bedingungen. Obendrein wurde vielen von ihnen der sauer verdiente
Lohn vorenthalten. Die Gesamtsumme der in den zurückliegenden Jahren
nicht ausgezahlten Löhne überstieg 100 Milliarden Yuan.[7] Die Zentralregierung
sah sich deshalb zu entschiedenen Maßnahmen veranlasst, damit die bislang
vorenthaltenen Löhne bis 2006 ausgezahlt werden. Dieser Lohn macht
einen bedeutenden Anteil des Einkommens der bäuerlichen Familien aus.
b) Wandel vom traditionell „gesetzlos“ (willkürlich) regierten
Staat zu einem modernen Rechtsstaat
Chinesische Juristen bezeichnen diese Veränderung auch als Übergang von
der Herrschaft der alten Sitten und Gebräuche zur Herrschaft der Rechtsprinzipien.
Mit Sitten und Gebräuchen sind hier wohl vor allem die Regeln des
Konfuzianismus im Leben der Familie wie des Staates gemeint, ausgelegt und
durchgesetzt durch die jeweils Herrschenden. Im alten China gab es kein
Recht im modernen Sinne und folglich auch kein Rechtsbewusstsein. Nach
dem Sturz des Kaiserreiches und in der Chinesischen Republik kam es zwar
zu einigen legislativen Fortschritten. An der traditionellen Praxis änderte sich
dadurch so gut wie nichts. Progressive Ansätze zu einem modernen Recht gab
es hingegen in den Befreiten Gebieten, ohne jedoch die analphabetisierten
„Massen ergreifen“ zu können. In der Praxis dominierte die „Weisung“ (zhi-
shi) der Parteiführung bzw. sehr bald Mao Zedongs als Vorsitzendem der Partei.
Daran änderte sich auch nach der Gründung der Volksrepublik nicht viel.
Über die Legislative bestimmte im Grunde die engere Parteiführung, in der
Mao das letzte Wort hatte. Bezeichnend war, dass – wie im Falle des Gesetzes
über die nationale Autonomie – die Ausführungsbestimmungen viele Jahre
auf sich warten ließen. Die einzige Art und Weise der Führung wurde die
Kampagne, durch eine „oberste Weisung“ ausgelöst und durchgeführt. Ein typisches
Beispiel dafür war die „Kulturrevolution“. Hier wurden auf Weisungen
Mao Zedongs die geltenden Gesetze der Volksrepublik nicht nur außer
Kraft gesetzt, sondern es wurde auch massiv gegen diese verstoßen.
Vor allem die Erfahrungen der „Kulturrevolution“ veranlassten die KP
Chinas, mit der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik künftig solchen
„gesetzlosen Zuständen“ vorzubeugen. Ich glaube mich daran zu erinnern,
dass in den 1980er Jahren auch begonnen wurde, sich der Verbreitung
eines modernen Rechtsbewusstseins im Volke zuzuwenden.[8] 1996
verkündete Generalsekretär Jiang Zemin den Kurs, das Land gestützt auf
Gesetze zu regieren und einen sozialistischen Rechtsstaat (Fazhi-guojia)
aufzubauen. Dem wirkte jedoch vor allem die verstärkte Konzentration der
Macht in den Händen der „Ersten“ in den Regionen, der Parteisekretäre,
entgegen. Sie vereinigten in ihrer Person das Recht auf die letztliche Entscheidung
in allen wichtigen Fragen ihres Machtbereichs, auf die Exekutive
und die Kontrolle innerhalb wie außerhalb der Partei. In ihrem Bereich
bestimmten sie von ihren Interessen aus, was Gesetz ist bzw. wie bestehende
Gesetze auszulegen sind. „Die regionale Macht verwandelte sich
damit in die Macht bestimmter Personen. Und diese absolute Macht wird
zur Quelle der Korruption.“[9] So setzte sich die Praxis fort, dass bestehende
Gesetze in den Regionen nicht befolgt werden, wenn sie den regionalen
oder den persönlichen Interessen der „Ersten“ zuwiderlaufen. Auf den
Dörfern herrschte häufig nicht das geschriebene Recht, sondern Beamtenwillkür
vor. In den 1990er Jahren zwangen z.B. Partei- und Staatsfunktionäre
in den Dörfern der Provinz Anhui den Bauern immer wieder neue
Abgaben auf. Widersetzten sich die Bauern dieser Willkür, wurden sie geschlagen
und sogar in illegale örtliche Gefängnisse verschleppt, die nicht
wenige nur als Leichen wieder verließen.[10]
Nach seiner Wahl zum Generalsekretär des ZK der KP Chinas und zum Vorsitzenden
der VR China begann Hu Jintao, Partei und Regierung auf eine verstärkte
Einhaltung und Durchsetzung der beschlossenen Gesetze zu orientieren.
In den Mittelpunkt seiner Bemühungen rückte die Stärkung der Autorität
der Landesverfassung. So fordert er, dass sich alle Parteien, Organisationen
und Personen dem Grundgesetz der VR China unterzuordnen haben. In den
Führungskreisen scheint es aber nach wie vor maßgebliche Kräfte zu geben,
die dies im Interesse ihrer Macht und Privilegien für die KPCh nicht akzeptieren
wollen.[11] Mit der Entwicklung der Marktwirtschaft sind vielfältige Interessengruppen
entstanden, in denen politische und ökonomische Macht vereint
sind; auch sie kennen nur das Recht, das ihnen nutzt. Im Volk ist das
Rechtsbewusstsein nach wie vor erst schwach und höchst ungleichmäßig entwickelt.
Es ist noch selten, dass ein Bürger seine Rechte gegenüber dem Beamten
bzw. dem Staat einklagt. Offensichtlich steht die VR China bei der
Schaffung eines Rechtsstaates noch am Anfang ihres Weges.
c) Wandel von einer stark zentralisiert geplanten und gesteuerten
Staatswirtschaft [12] zur Marktwirtschaft
Die Volksrepublik China begann ihre Entwicklung auf einem noch wesentlich
rückständigeren Entwicklungsniveau als Russland zur Zeit der Oktoberrevolution.
Unter diesen Bedingungen war das stark zentralisierte System der Wirtschaftslenkung [13]
in der ersten Entwicklungsphase der VR China ausgesprochen effektiv. Es
ermöglichte die Mobilisierung aller verfügbaren Kräfte und Mittel, um schnell die
Kriegsschäden zu überwinden, die Produktion auf die Lösung der entscheidenden
Probleme der Gesellschaft zu konzentrieren, die Industrialisierung des Landes
einzuleiten und Naturkatastrophen zu begegnen. In seinem Wesen widersprach
dieses System jedoch dem historischen Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte.
Mit der forcierten Vergesellschaftung des Eigentums an Produktionsmitteln
begann dieser Widerspruch hervorzutreten und in den Jahren der „drei roten
Banner“[14] erstmals nachhaltig in Erscheinung zu treten.
Mit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik ging die KP Chinas dazu über,
dieses System der Wirtschaftsleitung im Ergebnis anhaltender Auseinandersetzungen
stufenweise zu reformieren. Im Wesen ging es dabei um das Verhältnis
von Plan und Markt und um die Anpassung des Systems an die sich
neu herausbildende vielfältige Eigentumsstruktur. 1990/1991 setzte sich in der
Frage, wie die Entwicklung der Wirtschaft beschleunigt werden könnte, die
Orientierung auf die Marktwirtschaft gegenüber der Position „Verbindung
von Plan- und Marktwirtschaft“ durch. Pragmatisch abgesegnet wurde diese
neue Orientierung durch Deng Xiaoping im Frühjahr 1991 in Shanghai.
Deng begründete seine Auffassung wie folgt: Plan und Markt, beides gäbe es
sowohl im Sozialismus wie im Kapitalismus. Planwirtschaft und Marktwirtschaft
seien nur verschiedene Methoden zur Entwicklung der Produktion, die
beide sowohl im Kapitalismus wie im Sozialismus angewendet werden könnten.
In China hieße das (durch die Dominanz des Gemeineigentums) „sozialistische
Marktwirtschaft“. Auf dieser gedanklichen Konstruktion beruht seither die
offizielle Position der KP in dieser Frage. Dazu habe ich drei Anmerkungen. Erstens
fehlt mir das logische Verständnis für die faktische Gleichsetzung von Plan
und Panwirtschaft bzw. Markt und Marktwirtschaft. Zweitens ist die Marktwirtschaft
aus meiner Sicht keine Methode, sondern ein System, in dessen Rahmen
sich die Wirtschaft bewegt und realisiert. Einer Methode sind keine ökonomischen
Gesetzmäßigkeiten immanent, einer Marktwirtschaft hingegen schon. Drittens
dürfte heute von einer Dominanz des Gemeineigentums in der Wirtschaft der
VR China kaum noch die Rede sein (darüber unten mehr).
Werfen wir schließlich einen Blick auf die reale Marktwirtschaft im heutigen
China: Obwohl sie erst in den Anfängen entwickelt ist, können wir doch bereits
an ihren Auswirkungen erkennen, dass sie den gleichen ökonomischen
Gesetzen wie im Kapitalismus unterliegt (Wirtschaftszyklen, Herrschaft des
Profits, erbarmungslose Konkurrenz, Ursache der sozialen Polarisierung, kein
ökologisches „Gewissen“ usw.).
Mit dem Übergang zur Marktwirtschaft 1992 begann ein neuer Abschnitt in
der Reform- und Öffnungspolitik der KP China. Schritt für Schritt entstanden
formell fast alle Institutionen einer Marktwirtschaft. Diese Marktwirtschaft
war von Anfang an darauf gerichtet, für die Modernisierung Chinas in wesentlich
größerem Umfang als zuvor internationales Kapital ins Land zu holen. In diesem
Prozess sind sowohl die Bereiche, in denen dieses Kapital zugelassen ist,
ständig erweitert als auch die Bedingungen für die Realisierung des Kapitals ständig
günstiger gestaltet worden. Obwohl auch das neue einheimische Kapital hier
mit einbezogen worden ist, geht es der KPCh primär um die Nutzung des internationalen
Kapitals, insbesondere des Kapitals der Multis.
Als China Ende 2001 der WTO beitrat, war die chinesische Marktwirtschaft
in ihrer Ausbildung immer noch nicht über bestimmte Rahmenbedingungen
hinausgekommen. Die Funktionen der Regierung waren der Marktwirtschaft nicht angepasst. Institutionen und Methoden der bisherigen hochzentralisierten
Wirtschaftsleitung schränkten die Funktionsweise einer Marktwirtschaft
merklich ein. Die entscheidenden Teile des staatlichen Sektors waren noch
nicht in die Marktwirtschaft entlassen worden (z.B. keine Trennung von Regierung
und Unternehmen). Die Bedingungen für die Aufnahme der VR China
in die WTO zwangen nun die chinesische Führung, das Tempo für eine
volle Ausbildung der chinesischen Marktwirtschaft in Übereinstimmung mit
ihren Zusagen gegenüber der WTO zu beschleunigen.
Darauf richteten sich die ersten Schritte der neuen Partei- und Staatsführung
unter Hu Jintao. Die 3.Tagung des 16. ZK der KPCh im Oktober 2003 hat mit
ihrem „Beschluss über einige Fragen der weiteren Entwicklung der sozialistischen
Marktwirtschaft“ darauf orientiert, die noch bestehenden größeren
„Systemhindernisse“ grundlegend zu beseitigen. Offenbar geht es darum, die
chinesische Marktwirtschaft bei gleichzeitiger Verstärkung der staatlichen
Makroregulierung und -kontrolle durch eine Anpassung an die internationale
(kapitalistische) Marktwirtschaft voll funktionsfähig zu machen.
d) Wandel aus einer nach außen hin relativ abgeschlossenen zu einer nach außen hin offenen Gesellschaft
Die Entwicklung der Volksrepublik vor und nach Einleitung der Reform- und
Öffnungspolitik beweist, dass China nach wie vor eines äußeren „Vehikels“
bedarf, um den Übergang von der traditionellen Agrargesellschaft zu einer modernen
Industrie- und weiter zu einer von der neuen wissenschaftlich-technischen
Revolution geprägten Gesellschaft vollziehen zu können. Wie in der NÖP Lenins
ist die Nutzung des Kapitals auch in China objektiv eine besondere Form des
Klassenkampfes. Sie schließt Zusammenarbeit und Auseinandersetzung, Möglichkeiten
und Risiken für den Sozialismus ein. Die Frage ist letztlich, welche der
beiden Seiten in diesem Prozess obsiegt. Im Unterschied zu Lenin vermeidet es
die KP Chinas jedoch, hier von einem Klassenkampf zu sprechen.
Öffnung des Landes bedeutet im heutigen Stadium der ökonomischen Globalisierung
in erster Linie Öffnung gegenüber dem internationalen Finanzkapital
mit seinen Institutionen Weltbank, IWF und WTO und Öffnung gegenüber
den internationalen Multis. Im Vergleich zur NÖP Lenins hat die Zusammenarbeit
mit diesem Kapital völlig neue Dimensionen und Wirkungen. Das ausländische
Kapital spielt heute eine unverzichtbare und wesentliche Rolle im
Produktions- und Reproduktionsprozess des Landes. Es reißt Mauern ein, die
der Bildung eines einheitlichen nationalen Marktes entgegenstehen („Öffnung
nach innen“). Ausgehend von seinen Interessen nimmt es maßgeblichen Einfluss
auf die Ausformung der chinesischen Marktwirtschaft. Von den internationalen
Multis erwartet die chinesische Regierung, dass sie einen großen Teil
der umgerechnet etwa 400 Milliarden US-Dollar für die Modernisierung der
staatlichen Unternehmen aufbringen. Mit der Verlagerung von produzierendem
Gewerbe nach China hat das Kapital nicht nur die Industrialisierung des
Landes – allerdings häufig in der Art des Manchester-Kapitalismus – beschleunigt. Es hat mit seinen Investitionen auch maßgeblich dazu beigetragen, China enger und fester an die kapitalistische Weltwirtschaft anzubinden. 55 Prozent des chinesischen BIP werden heute über seine Außenwirtschaft realisiert. Ein bedeutender Teil des chinesischen Ex- und Imports hängt von Bedürfnissen und Interessen des ausländischen Kapitals in China ab. Auf dieser Grundlage und
befördert durch die moderne Informationstechnologie hat sich der internationale
Kapitalismus damit auch völlig neue Möglichkeiten geschaffen, seine Konsumtions-
und Lebensart, seine Kultur, seine Ideologie und seine Werte in entscheidende
Teile der chinesische Gesellschaft hineinzutragen.
Ausdruck der Öffnung Chinas nach außen ist das Bemühen der KP Chinas,
sich die Fortschritte der geistigen Zivilisation der Menschheit seit der Französischen
Revolution anzueignen. Führende kapitalistische Mächte sind dabei
bestrebt, die heutigen bürgerlichen Werte, Auffassungen und Kategorien als
angebliche Verkörperung dieser Fortschritte zu vermitteln.
Im Ergebnis der Öffnung nach außen tritt die VR China heute als eine eigenständige
Kraft in der Weltarena auf, die mit ihren nationalen Interessen auch
Verantwortung für die internationale Entwicklung zu übernehmen bereit ist.
Nichtkapitalistische Entwicklung Chinas aus heutiger Sicht
Chinas Wirtschaft boomt und belebt damit die Weltwirtschaft. In China
herrscht die Auffassung vor, dass das Land seit zwei bis drei Jahren in eine
neue Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs eingetreten sei. Bei einer konsequenten
Makroregulierung und -kontrolle und einer Abschwächung der
ökonomischen und sozialen Widersprüche könne auf längere Sicht ein gesundes,
schnelles und anhaltendes Wachstum der Wirtschaft von acht bis neun Prozent
gesichert werden. Dadurch würden die gestellten Hauptziele erreichbar – Abschluss
der Industrialisierung des Landes, nochmalige Vervierfachung des BIP
und allseitiger Aufbau der „Gesellschaft des kleinen Wohlstandes“ bis 2020,
grundlegende Modernisierung des Landes bis Mitte des 21. Jahrhunderts. Gleichermaßen
konkrete Angaben über den Aufbau des „Sozialismus chinesischer
Prägung“ ließen sich in den mir zugänglichen Quellen nicht auffinden.
Einige Faktoren sprechen für die Möglichkeit einer solchen Entwicklung. Die
KP Chinas hat schließlich in den ersten zwei Jahrzehnten bis zur Wende in
das neue Jahrhundert das BIP des Landes vervierfachen und damit einen
grundlegenden Wandel der chinesischen Gesellschaft einleiten können. Die
Volksrepublik ist mit dieser Entwicklung dem absoluten BIP nach auf den 3.
Platz in der Welt nach den USA und Japan vorgerückt, wenngleich sie gemessen
am BIP p.c. noch hinter dem 100. Platz in der Welt liegt. China ist in einigen
Bereichen der Forschung inzwischen in die Weltspitze vorgestoßen. Die
KP Chinas verfügt heute über reiche Erfahrungen in der Reform- und Öffnungspolitik.
Sie hat seit den 1990er Jahren gezeigt, dass sie imstande ist,
ökonomische Krisen durch „eine weiche Landung“ zu überwinden. Nicht zuletzt
lassen die von der neuen Partei- und Staatsführung eingeleiteten Kurskorrekturen [15] erkennen, dass die Partei weiterhin imstande ist, bestimmte Fehlentwicklungen zu erkennen und entsprechende Änderungen vorzunehmen. Schließlich hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten die
internationale Stellung der VR China deutlich gefestigt und ihr weltweiter
Einfluss merklich erhöht. Dennoch rechne ich damit, dass die künftige
Entwicklung des Landes wesentlich schwieriger und komplizierter verlaufen
wird als bisher. Was spricht für eine solche Überlegung?
Die VR China ist noch weit von einer tatsächlich sozialistischen Gesellschaft
entfernt. Deng Xiaoping soll Anfang des Jahres 1985 in einer Rede vor Partei-
und Staatsfunktionären in Tianjin davon gesprochen haben, dass die VR China
in ihrer Entwicklung noch 40 bis 50 Jahre hinter dem Kapitalismus zurückliege.[16] Betrachten wir das Land insgesamt, so dürfte sich daran bis heute nichts Entscheidendes geändert haben. In der Volksrepublik sind noch keine sozialistischen Elemente, Beziehungen und Strukturen herangewachsen, die dem Ansturm des internationalen Kapitals in der heutigen Welt unter allen
Umständen standhalten könnten.
Die allgemeine Orientierung auf Mischeigentum an Produktionsmitteln und
Umgestaltung der Unternehmen in Aktiengesellschaften zeigen an, dass sich
die ökonomische Basis für die Weiterführung des Transformationsprozesses
weiterhin grundsätzlich verändert. Offensichtlich ist das bisherige Gemeineigentum
in seiner Gesamtheit hinsichtlich Effektivität, Qualität, Management
und Organisation der Produktion dem internationalen Kapital und in einigen
dieser Kriterien sogar dem einheimischen Privatkapital unterlegen. Der Staat
hat augenscheinlich weder die Mittel noch die Kraft, das bisherige Gemeineigentum
als Ganzes international konkurrenzfähig zu machen. Damit ist dem
Kapital der Weg geöffnet, die ökonomische Basis der chinesischen Gesellschaft
weitgehend zu durchdringen. Das betrifft auch den Sektor der Banken
und Versicherungen. Erste Privatbanken bestehen bereits, und 2006 werden
die ausländischen Banken in der Volksrepublik in den Geschäftsbedingungen
den chinesischen gleichgestellt sein.
Trotz Gegenmaßnahmen der Regierung entwickeln sich bisher die unrationellen
Strukturen im ökonomisch-sozialem Bereich weiter. Das betrifft vor allem
die Beziehungen zwischen Akkumulation und Konsumtion, zwischen dem 2.
und 3. Sektor der Wirtschaft, die Erweiterung der Kluft in der Entwicklung
von Stadt und Land, zwischen den Regionen und zwischen den Wirtschaftszweigen.
Das Zurückbleiben des 3. Sektors in seiner Entwicklung z. B. vermindert
die Möglichkeit, das weitere Anwachsen der hohen Arbeitslosigkeit
in den Städten aufzuhalten. Die Konsumtion bleibt in ihrer Entwicklung weiter erheblich hinter dem Wachstum des BIP zurück. Das steht der Vergrößerung
der effektiven Binnennachfrage entgegen und belässt die chinesische
Wirtschaft in der gegenwärtigen Abhängigkeit vom Zyklus der kapitalistischen
Weltwirtschaft. Hinzu kommt das extreme Ausmaß der sozialen Polarisierung
durch die Kluft in der Einkommensentwicklung zwischen den verschiedenen
Bevölkerungsschichten. Es muss erwartet werden, dass sich die
ökonomischen und sozialen Widersprüche mit der vollen Ausprägung der chinesischen
Marktwirtschaft nach den Forderungen der WTO[17] in der nächsten
Zeit weiter verschärfen werden.
Die jetzige Partei- und Staatsführung stellt mit allem Nachdruck die Aufgabe,
die Wachstumsweise der Volkswirtschaft grundlegend zu verändern und zu
einem ressourcesparenden und ökologisch verträglichen Wachstum überzugehen.
Es geht dabei im Schwerpunkt um den sparsamen Umgang mit Energie,
Wasser, Erdöl und generell um die komplexe Nutzung der knappen natürlichen
Ressourcen des Landes. Für diese Umstellung im Wachstum der Wirtschaft
müssen allerdings erst einmal die Voraussetzungen in der Wirtschaft
und in den Haushalten geschaffen werden. Das schließt auch ein Umdenken in
der breiten Masse der Bevölkerung ein. Deshalb wird die Lösung dieses
dringlichen Problems kostenintensiv, schwierig und langwierig sein.
Bereits heute importiert China ein Drittel seines Verbrauchs an Erdöl. Es
muss für seine wachsende Wirtschaft sogar schon Kohle einführen, obwohl es
das Land mit der höchsten Kohleförderung in der Welt ist. Das bekräftigt
meine These, dass die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft künftig noch
stärker als bisher von äußeren Faktoren abhängig sein wird.
Die jahrzehntelange extensive Bewirtschaftungsweise auf Kosten der Umwelt
zeigt heute ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft wie auf das Leben und die
Gesundheit der Bevölkerung. Häufigkeit und Ausmaß der Naturkatastrophen
in China haben seit den 1950er Jahren deutlich zugenommen. „Die gegenwärtige
Umweltsituation ist im gesamten Lande ernst.“[18] Betrachten wir diese
Problematik am Beispiel der Ressource Wasser. Für die Flussläufe im Norden
besteht die Gefahr, dass sie austrocknen, und im Süden sind die Flussläufe
allgemein verdreckt. Von über 600 Städten im Lande mangelt es in über 400
an Wasser. Das Wasser in über 90 Prozent der Städte ist ernsthaft verschmutzt.
40 Prozent der Wasserquellen können bereits kein Trinkwasser
mehr liefern. Auf den Dörfern leiden immer noch 65 Millionen Menschen an
Wassernot. Schon dieses Beispiel zeigt: China wird künftig auch in diesem
Bereich erheblich mehr als bisher an Mitteln und Kräften aufwenden müssen.
Nur dann wird es möglich sein, eine ökologisch gesunde und nachhaltige
Wirtschaft zu entwickeln und die Gesundheit seiner Bevölkerung zu schützen.
China wird sich auch mit seinen Nachbarländern über die Nutzung der grenzüberschreitende
Gewässer verständigen müssen. Derzeit wird z. B. durch die
Zurückhaltung von Wasser des Mekong in der Provinz Yunan das Leben der
Fischer in Kambodscha und der Reisbauern in Südvietnam gefährdet.
Nicht minder große Anstrengungen wird China weiterhin bei der Bekämpfung
von Aids und gegen die Verbreitung von Drogen unternehmen müssen. Die
Zahl der Menschen, die in China mit HIV infiziert sind, beträgt bereits über
eine Million. Nach Schätzungen der UNO könnte diese Zahl bis 2010 auf
zehn Millionen angewachsen sein.
Nichtkapitalistische Entwicklung unter den Bedingungen Chinas bedarf einer
starken politischen Macht, die vor allem in den Arbeitern und Bauern verankert
ist und bei der Nutzung des Kapitals die sozialistische Ausrichtung des
Transformationsprozesses abzusichern vermag. Die NÖP zeigt, wie Lenin unter
den Bedingungen des jungen Sowjetrussland an diese Problematik heranging.
Seiner Ansicht nach würde das Wesen des proletarischen Staates nur
dann unverändert bleiben, wenn „die Entwicklung des Kapitalismus nur bis zu
einem gewissen Grade zu(ge)lassen“ wird. Das hinge „nicht nur von der
Staatsmacht ab, sondern noch mehr vom Reifegrad des Proletariats und der
werktätigen Massen im allgemeinen...“. Lenin betonte die entscheidende Rolle
der Gewerkschaften in der NÖP bei „der sozialistischen Organisierung der
Industrie und der Leitung der staatlichen (Industrie)“[19] und die Bedeutung,
die der Organisierung des Bündnisses der Arbeiterklasse mit den Bauern zukam.
Diese Grundzüge der NÖP dürften von allgemeiner Bedeutung für eine
nichtkapitalistische Entwicklung sein.
Ein grundlegendes Problem der Volksrepublik China sehe ich in der überaus
schwachen Verankerung der politischen Macht in der Arbeiterklasse und der
werktätigen Bauernschaft. Das Bündnis der Arbeiter und Bauern ist im Grunde
nur Deklaration. Arbeiter wie werktätige Bauern hatten bisher im Unterschied
z.B. zur Bourgeoisie keine Möglichkeit, ihre Klasseninteressen gegenüber
dem Kapital und dem Staat selbständig zu artikulieren, wahrzunehmen
und zu verteidigen. Die chinesische Führung geht heute jedoch gegen die verbreitete
massive Verletzung der „legalen“ Rechte und Interessen der Werktätigen
vor. Im Unterschied dazu bewegt sich in den oben genannten politischen
Grundfragen bisher nichts. Im politischen Machtapparat bleiben Arbeiter und
Bauern weiterhin völlig unterrepräsentiert.
Das System und die Struktur der politischen Macht haben sich in China seit
den 1950er Jahren nicht wesentlich verändert. Die hochzentralisierte Macht
verhindert ihre wirksame Kontrolle und bedingt die Schwäche der Demokratie
in Partei und Staat. Überdies hat die Marktwirtschaft in Partei und Staat die
Institution der Interessengruppe hervorgebracht, die ihre jeweiligen Ziele in
der Politik zu verwirklichen trachtet. Das beeinträchtigt z.B. die effektive
Nutzung der Makropolitik zur Steuerung des Marktes. Mit der Marktwirtschaft wurde der Partei- und Staatsapparat auch zum Hauptangriffspunkt für Korruption. Verletzung der Parteidisziplin und der Gesetze entwickelte sich zu einer allgemeinen Erscheinung unter den Führungskadern (den „Ersten“
der jeweiligen Region oder Einheit). Auch am Vorabend des 83. Jahrestages
der Gründung der KP Chinas musste das ZK einschätzen wie viele Parteikomitees
von der Ebene des Gebiets bis hinunter zum Dorf nicht imstande sind,
die ihnen zugedachte Rolle auszuüben. Ihre „Reorganisierung“ stehe deshalb
auf der Tagesordnung. Für sich spricht auch die ständig wiederholte Forderung an
Parteimitglieder und -kader, die Einheit der Partei unter Führung des ZK mit seinem
Generalsekretär herzustellen und zu wahren. Es bleibt abzuwarten, ob und
inwieweit die Maßnahmen der neuen Parteiführung zur innerparteilichen Kontrolle
der Führungskader auf der Grundlage der Entwicklung der innerparteilichen
Demokratie und zur Hebung des theoretischen Niveaus in der Partei Veränderungen
bewirken werden. Der Marxismus scheint im tatsächlichen Leben der Partei
weit weniger als offiziell dargestellt präsent zu sein.
Fragen wirft für mich auch die Orientierung der Partei auf, „für das Volk zu
regieren“. Dabei soll der „Wille der Partei zum Gesetz erhoben“ werden. Diese
Orientierung hat z.B. dazu geführt, dass drei Viertel aller Abgeordneten in
dem höchsten legislativen Organ des Staates, dem Nationalen Volkskongress,
Mitglieder der KP Chinas sind. Sicherlich in diesem Sinne wurde auf Provinzebene
auch die Funktion des Parteisekretärs mit der des Vorsitzenden des
Volkskongresses vereint. Schritte wie diese zielen nicht auf die Entwicklung
von Demokratie, von denen bisher in offiziellen Dokumenten die Rede war.
Sie führen vielmehr zu einer weiteren Zentralisierung der politischen Macht
und der weiteren Verselbständigung der Partei gegenüber dem Volk. Sie sind
kontraproduktiv für die grundlegende Reform des alten politischen Überbaus
aus den 1950er Jahren, die seit langem auf der Tagesordnung steht. Die heutige
Führung des Landes hat sich dieser Aufgabe gestellt. Die demokratische
Umgestaltung der Partei soll die Voraussetzung und das Beispiel für eine Demokratisierung
der gesellschaftliche Verhältnisse schaffen.
Quo vadis?
China durchläuft gegenwärtig eine entscheidende Phase seines gesellschaftlichen
Wandels. Die KP Chinas ging für eine beschleunigte Modernisierung des
Landes außerordentlich weitgehende Kompromisse gegenüber dem internationalen
Kapital ein. Das widerspiegelt sich auch im politischen Alltagsleben
der chinesischen Gesellschaft. Mit der Integration in den Prozess der ökonomischen
Globalisierung gewinnt die VR China nicht nur neue Möglichkeiten
für ihre Entwicklung. Es nehmen auch die Möglichkeiten für das internationale
Kapital zu, unmittelbar auf die innere Entwicklung Chinas einzuwirken.
Die von der neuen Führungsspitze eingeleiteten Maßnahmen könnten manches
Bedenkliche in der gegenwärtigen Entwicklung des Landes ausräumen.
Sie könnten die Gesellschaft für die Fortführung des Reform- und Öffnungspolitik
stabilisieren und der Demokratisierung von Partei und Staat einen starken Impuls geben. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die Partei sich in diesem Prozess
demokratisieren kann, damit zu neuer Führungsstärke finden und die kapitalistischen
Elemente auf den Boden der geltenden Gesetze gezwungen werden.
Die Chance, die Modernisierung des Landes für die Schaffung der materiellen
Voraussetzungen einer sozialistischen Gesellschaft über diese Zwischenetappe
hinaus zu nutzen, hat sich seit den 1990er Jahren unzweifelhaft verschlechtert.
Ich sehe sie jedoch noch nicht vertan. Die bisherige Politik der chinesischen
Führung unter Hu Jintao bestärkt mich darin. Gesellschaftliche Veränderungen
in einem so großen Land mit einer solch bedeutenden Kultur, ob in
dieser oder jenen Richtung, vollziehen sich nicht von heute auf morgen. Die
Entwicklung des Landes in den nächsten 3-5 Jahren wird erkennen lassen, ob
die KP Chinas unter den gegebenen äußeren Bedingungen den nichtkapitalistischen
Entwicklungsweg des Landes zum Sozialismus offen zu halten vermag
oder nicht.
Anhang
Nichtkapitalistischer Entwicklungsweg [20] und die Volksrepublik China (Thesen)
1. Über einen nichtkapitalistischen Weg zum Sozialismus, seine Bedingungen
und seine Möglichkeiten entwickelten sich unterschiedliche marxistische Auffassungen.
Sie artikulieren sich hauptsächlich in den Überlegungen von Marx/Engels und Lenin.
Marx und Engels betrachteten das Vorhandensein einer sozialistischen Gesellschaft
in einigen ehemals entwickelten kapitalistischen Ländern als Voraussetzung
für einen nichtkapitalistischen Weg mittelalterlicher Gesellschaften
zum Sozialismus. Die bereits existierende sozialistische Gesellschaft sollte ihnen
als „Beispiel“ dienen.
Lenin hielt es unter den Bedingungen Sowjetrusslands hingegen für möglich und
notwendig, das (fortgeschrittene) internationale Kapital als „Vehikel“ für die
Überwindung des Mittelalters und eine gewaltige Hebung der gesellschaftlichen
Arbeitsproduktivität auszunutzen. Für ihn war das eine neue Form der Klassenauseinandersetzung
„wer-wen?“, die eine feste Verankerung der politischen
Macht in der Arbeiterklasse und im Bündnis der Arbeiter und Bauern voraussetzte.
Offen blieb dabei jedoch bis heute vor allem, ob und wie auf diesem Wege der
feudale Einfluss im Bereich der geistigen Zivilisation überwunden werden kann.
Beiden Auffassungen gemeinsam ist die Betonung eines bestimmten äußeren
Faktors als einer unumgänglichen Bedingung für die nichtkapitalistische Entwicklung. Bei Marx und Engels ist es der ideale Faktor, bei Lenin notgedrungen
der einzig verfügbare. Lenin setzte dabei auf die Solidarität vor allem der
internationalen Arbeiterklasse mit Sowjetrussland und auf das Zusammengehen
der proletarischen Weltbewegung mit den national-revolutionären Bewegungen
in den kolonialabhängigen Ländern.
2. Der Sozialismus im wissenschaftlichen Verständnis kann nur auf der
Grundlage der in der Geschichte bisher erreichten Entwicklungsstufe der
menschlichen Zivilisation geschaffen werden.
Das bedeutet einerseits, dass der Sozialismus nicht unmittelbar an vorkapitalistische
Verhältnissen anknüpfen kann. Das bedeutet andererseits, dass in
Vorbereitung des Sozialismus eine umfassende und kritische Aneignung der
Fortschritte der menschlichen Zivilisation, die mit dem Kapitalismus verbunden
sind, ein wesentlicher Inhalt des nichtkapitalistischen Entwicklungsweges
sein muss.
3. Nichtkapitalistische Entwicklung ist ein vielschichtiger, komplizierter und
langwieriger Sprung im Zivilisationstyp.
Sie umfasst die kritische Aneignung der Fortschritte nicht nur der materiellen,
sondern auch der geistigen Zivilisation im Kapitalismus. Sie erfordert zugleich
die Aufnahme aller progressiven Elemente der eigenen Kultur (im
weitesten Sinne des Wortes) in die Zivilisation des Sozialismus. Je größer die
Rückständigkeit eines Landes ist, desto mehr Zwischenstufen werden in diesem
Prozess erforderlich sein (Lenin).
4. Die „Eigentümlichkeiten“ (Lenin, chines. tese) der nichtkapitalistischen
Entwicklung eines Landes resultieren primär aus seinen historischgesellschaftlichen
und den natürlichen Gegebenheiten.
Grundlegend sind hierbei die historisch-gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen
des Landes – die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen
Gegebenheiten. Sie widerspiegeln Charakter, Entwicklungsstand, Struktur und
nationale Besonderheiten der alten materiellen und geistigen Zivilisation des
betreffenden Landes. Den natürlichen Gegebenheiten sind vor allem die Größe
und geografische Struktur des Landes, seine Ressourcen und seine geostrategische
Lage zuzuordnen; sie verdeutlichen, unter welchen natürlichen nationalen
Bedingungen sich die historische Entwicklung des betreffenden Landes
vollzieht.
5. Die chinesische Gesellschaft vor 1949 hatte im wesentlichen einen vorkapitalistischen
und kolonial deformierten Charakter. Das waren typische Bedingungen
für eine nichtkapitalistische Entwicklung zum Sozialismus.
Selbst Mao Zedong schätzte einmal ein, dass sich noch rund 90 Prozent aller
ökonomischen und sozialen Verhältnisse des damaligen China „im Altertum“
befanden (2. ZK-Tagung 1949). Die Anfänge „moderner“ Wirtschaft, vor allem
in den Einfallsgebieten der Kolonialmächte konzentriert, stellten keine
sich selbst tragende kapitalistische Wirtschaft dar. Die materielle und noch
stärker die geistige Zivilisation der chinesischen Feudalgesellschaft, in mehreren tausend Jahren gewachsen und verwurzelt, hatte der Kolonialisierung
weitgehend standgehalten. Angesichts dessen sprechen manche chinesischen
Historiker sogar von einem „Übergang des Landes von der Feudalgesellschaft
zur sozialistischen Gesellschaft“.
6. Die Theorie Mao Zedongs über die Neue Demokratie ging von den Auffassungen
Stalins über China und die chinesische Revolution aus. Ihr Wesen besteht
in einer Negierung des nichtkapitalistischen Entwicklungsweges für
China und in der Orientierung des Landes auf einen unmittelbaren Übergang
zum Sozialismus.
Als Mao Ende 1939 seine Theorie über die Neue Demokratie zu entwickeln
begann, charakterisierte er die dem Wesen nach antifeudale und antikoloniale
chinesische Revolution unter direkter Berufung auf Stalin als neuartig bürgerlich-
demokratisch und damit als Teil der proletarisch-sozialistischen Weltrevolution.
Seinerzeit war in der kommunistischen Bewegung bekanntlich die
Ansicht verbreitet, dass die Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution
„im Vorübergehen“ zu lösen wären. Auf diesem Hintergrund betrachtete
Mao auch seine Neue Demokratie letztlich nur als eine „Phase des Übergangs
zur Beendigung der kolonialen, halbkolonialen und halbfeudalen Gesellschaft
und des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft, als Prozess der neudemokratischen
Revolution“, der 1919 begonnen hätte („Die chinesische Revolution
und die KP Chinas“). Dieser Auffassung wurzelte bei ihm wie zuvor schon
bei Stalin in einer Unterschätzung der feudalen Elemente und in einer Überschätzung
des Entwicklungsstandes des Kapitalismus im damaligen China
(„halbfeudal“ = halbkapitalistisch).
Diese Aussagen Maos stehen neben anderen, die die Industrialisierung des
Landes unter Einbeziehung der (schwachen) nationalen Bourgeoisie als Aufgabe
der neudemokratischen Phase zuordneten und damit die Langfristigkeit
dieser Phase betonten. Hierfür scheinen vielfach politisch-taktische Überlegungen
maßgebend gewesen zu sein. Typisch für Mao ist aber auch eine bestimmte
Widersprüchlichkeit in seinen Grundaussagen. Für meine Einschätzung
spricht, dass Mao Zedong kurz nach dem Sieg der Revolution im Jahre
1949 die Partei unmittelbar auf den Übergang zum Sozialismus orientierte.
7. Die KP Chinas konzipierte den unmittelbaren Übergang des Landes zum
Sozialismus nach dem sowjetischen Modell unter Stalin. In der Praxis begann
Mao Zedong jedoch schon bald, dieses Modell durch die Entwicklung seines
eigenen gleichmacherischen Gesellschaftsideals zu modifizieren.
Die grundsätzliche Übernahme des genannten sowjetischen Modells widerspiegelt
sich schon in der etwa gleichlautenden Zielsetzung, in einem Zeitraum
von 15 Jahren oder etwas länger die sozialistische Umgestaltung und die
Industrialisierung Chinas zu verwirklichen, im Aufbau einer stark zentralisierten
politischen und ökonomischen Leitung des Landes, in der nahezu absoluten
Macht des Führers der Partei und in der einseitigen Konzentration auf die
Entwicklung einer Schwerindustrie. Bereits in den ersten Jahren hatte Mao
Zedong begonnen, seine Linie zu verwirklichen, durch eine vorgezogene Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigen
zu wollen.
Einen ersten Einblick in das Gesellschaftsideal Mao Zedongs vermittelte dann
1958 die militärisch organisierte Volkskommune als staatlich-administrative
und zugleich ökonomische Grundeinheit der angestrebten Gesellschaft („groß
und öffentlich“). Weiter ausgeführt finden wir diese Überlegungen Mao Zedongs
in seiner „Weisung vom 7. Mai“ 1967 (Brief an seinen Stellvertreter
Lin Biao) sowie in einigen seiner Weisungen aus den Jahren 1974/75.
Wesentliche Aspekte dieses Gesellschaftsbildes waren: Mit der Aufhebung
der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sollte sich der Mensch allseitig entwickeln,
indem er gleichzeitig Arbeiter wie Bauer, im zivilem wie im militärischem
Bereich tätig war. In der angestrebten Gesellschaft sollten die drei großen
Unterschiede überwunden sein, jedermann sollte körperlich wie geistig
arbeiten. Um diese Gesellschaft errichten zu können, sollten Warenproduktion
und Geld abgeschafft, das Prinzip der Verteilung nach der Arbeit wie jegliches
„bürgerliches Recht“ und materielle Interessiertheit bekämpft werden.
Für Mao Zedong war das Volk ein „weißes (= unbeschriebenes) Blatt Papier“,
auf das er die Schriftzeichen seines Gesellschaftsideals pinseln wollte. Am
„positiven Beispiel“ sollte das Volk lernen, wie ein Schräubchen in einem Getriebe
zu sein bzw. wie ein Soldat ihm auch blindlings zu folgen. Kräfte, die
sich gegen sein Gesellschaftsideal wandten, wurden als „Revisionisten“ bekämpft
und „liquidiert“ („Klassenkampf“).
Damit wandte sich Mao Zedong nicht allein gegen die Aneignung der Fortschritte
der menschlichen Zivilisation im Kapitalismus. Er befand sich zugleich
in einem generellen Widerspruch zu den objektiven Erfordernissen des
nationalen Aufbaus des Sozialismus in der VR China.
Die Einschätzung Deng Xiaopings auf dem 12. Parteitag der KP Chinas 1982,
die Partei wäre mit ihrer Strategie des Übergangs zum Sozialismus gescheitert,
weil sie dem Modell eines anderen Landes (nämlich dem von Stalin geprägten
Modell der Sowjetunion) gefolgt wäre, ist deshalb einseitig. Gescheitert
war vielmehr der Versuch, auf direktem Wege eine Art von egalitärem
(Kriegs)Kommunismus zu verwirklichen, der in einigen Grundelementen
(hochgradig zentralisierte politische Macht und Steuerung einer Mangelwirtschaft,
Missachtung der Fortschritte der menschlichen Zivilisation im Kapitalismus
u. a.) mit dem genannten sowjetischen Modells übereinstimmte.
8. Mit ihrer Reform- und Öffnungspolitik trat die KP Chinas einen strategischen
Rückzug an, der in seiner Ursache mit dem Übergang Sowjetrusslands
zur NÖP vergleichbar ist (Scheitern des direkten Übergangs zum Sozialismus). Die Partei orientierte nun darauf, in mehreren Zwischenetappen einen „Sozialismus chinesischer Prägung“ aufzubauen. Dem Wesen nach glich das dem Einschwenken auf einen nichtkapitalistischen Entwicklungsweg.
Die These der KP Chinas, dass mit dem wesentlichen Abschluss der „sozialistischen
Umgestaltung“ Mitte der 1950er Jahre in China eine sozialistische Gesellschaft geschaffen worden wäre, ist politisch motiviert, wissenschaftlich jedoch
nicht begründbar.[21] Ende der 1970er Jahre befand sich die VR China,
gesellschaftlich schwer angeschlagen, nach wie vor am Anfang ihres historischen
Transformationsprozesses.
Wesentliche Merkmale der seit Ende der 1970er Jahre erfolgten Umorientierung
der KP Chinas und damit des eingeschlagenen nichtkapitalistischen Entwicklungsweges
wurden: Wiederherstellung einer vielfältigen Eigentumsstruktur
(einschließlich des Eigentums der neu entstandenen Bourgeoise); vorrangige
Nutzung des internationalen Kapitals als „Vehikel“ für die Überwindung
der Rückständigkeit, für die erforderliche Entwicklung der gesellschaftlichen
Arbeitsproduktivität und damit verbunden erster Veränderungen im
Verhältnis von Plan und Markt; Aneignung des zivilisatorischen Fortschritts
der Menschheit im Kapitalismus; Aufarbeitung der präkapitalistischen Zivilisation
des eigenen Landes.
Die KP Chinas erkannte jedoch nicht an und bereitete sich und das Volk nicht
darauf vor, dass die Nutzung des Kapitals „eine besondere Form des Klassenkampfes“
sein wird. Sie unternahm selbst in diesem Zusammenhang keine
Schritte, um ihre Klassenbasis in der Arbeiterklasse zu festigen und das
Bündnis der Arbeiter und Bauern wieder herzustellen. Trotz einiger Ansätze
in den 1980er Jahren wurde die ökonomische Reform nicht mit einer politischen
Reform verbunden. Die KP Chinas blieb in ihrem Wesen eine Partei
Stalinschen Typs (ähnlich der früheren KPdSU und den damaligen Regierungsparteien
anderer sozialistischer Länder). Politischer Pragmatismus prägte
weiterhin das Herangehen an die Geschichte der Partei und der Volksrepublik.
9. Nach dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ in der UdSSR und in
den osteuropäischen Ländern leitete die KP Chinas eine neue Phase in ihrer
Reform- und Öffnungspolitik ein. In den Vordergrund rückte das Ziel, die
„entwickelten Länder“ gemessen am absoluten Bruttoinlandsprodukt bis Mitte
des 21. Jahrhunderts zu überholen. Dieser Kurs beschleunigte zwar den
Prozess der Modernisierung des Landes, stellte aber zugleich die sozialistische
Orientierung des Landes infrage.
Wesentliche Merkmale dieser Strategie und ihrer Umsetzung wurden: Übergang
zu einer „sozialistischen“ Marktwirtschaft; Umorientierung vom ostasiatischen
Modell der Entwicklung auf die Auswertung der Erfahrungen der führenden
kapitalistischen Länder, vor allem der USA; „strategische Regulierung
und Reorganisierung“ der staatlichen Wirtschaft“ (Rückzug aus den meisten
Zweigen der Industrie, Reduzierung der Zahl der Unternehmen, Neupositionierung
des staatlichen Eigentums), Bildung von Mischeigentum und Aktiengesellschaften,
verstärkte Kapitalanlage im Ausland und Entwicklung eigener
Multis, Beibehaltung des dualistischen Wirtschafts- und Sozialsystems (wesentliche
Ursache für die Zurückbleiben des Dorfes seit Mitte der 1950er Jahre),
Konzentrierung der Macht auch in den Regionen und Einheiten in der
Hand des „Ersten“ und die pragmatisch auslegbare politische Leitlinie der
Partei in Gestalt der „dreifachen Vertretung“ (Entwicklung moderner Produktivkräfte
und fortschrittlicher Kultur, Wahrnehmung der Interessen breiten
Massen).
Das Kapital wurde zu einer wesentlichen und einflussreichen Kraft für die
Modernisierung des Landes. Es erhielt die Möglichkeit, sich – bis auf einzelne
Bereiche – in staatliche Großunternehmen einzukaufen.
Die KP Chinas orientierte zur Umsetzung ihrer Strategie auf soziale Schichten
und Gruppen, die ihrer Meinung nach über die größten Ressourcen für eine
Beschleunigung des Modernisierungsprozesses verfügen (politische Führungsschicht,
Manager von Großunternehmen, Privatunternehmer, hochqualifizierte
Fachkräfte). Am Ende einer sozialen Zehner-Wertungsskala fanden
sich die Produktionsarbeiter, Bauern und Arbeitslose wieder. Kapitaleigner
wurden nicht nur als herausragende „Erbauer des Sozialismus chinesischer
Prägung“ anerkannt und konnten Mitglieder der KP werden. Sie erhielten
auch die Möglichkeit, Funktionen von Partei und Regierung auf den unteren
Ebenen einzunehmen.
Die anhaltend hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten schienen zunächst die
Strategie der KPCh unter Jiang Zemin zu bestätigen. Die damit verbundenen
Probleme und Widersprüche destabilisierten jedoch zunehmend die Entwicklung
des Landes: Zurückbleiben weiter Bereiche der Gesellschaft (Landwirtschaft,
Bildung, Gesundheitswesen u.a.), zunehmende Verschmutzung der
Umwelt, Vergrößerung der Unterschiede zwischen Stadt und Land und zwischen
den Regionen, soziale Polarisierung, massive Verstöße im Partei- und
Staatsapparat gegen geltende Gesetze, grobe Verletzungen legitimer Interessen
großer Teile des Volkes, Aufleben eines feudalen Patriarchalismus, Vernachlässigung
des Prinzips der sozialen Gerechtigkeit, jährliches Verschwinden
von Milliarden Yuan ín privaten Taschen, Ausbreitung von Korruption,
Kriminalität, Prostitution und Drogen u.a.m. Verfügung über Geld und Einfluss
begannen die gesellschaftliche Stellung des Einzelnen zu bestimmen.
Teile der Intelligenz verbreiteten aktiv neoliberale und andere bürgerliche
Theorien. Auch der Sprachgebrauch veränderte sich, aus dem „Genossen Leiter“
wurde der „Chef“ und „Arbeitgeber“, aus dem Werktätigen der „Arbeitnehmer“.
10. Die auf dem 16. Parteitag (November 2002) gewählte Führung unter Hu
Jintao grenzt sich konsequent von der einseitigen Orientierung auf die Entwicklung
des Bruttoinlandsprodukts ab. Ihre Strategie beruht auf einer „wissenschaftlichen
Auffassung über die Entwicklung“. Die sozialistische Orientierung des historischen Transformationsprozesses soll durch die Entwicklung
einer von der KP Chinas geführten rechtsstaatlich-demokratischen Gesellschaft
wieder auf eine feste Grundlage gestellt werden.
Wissenschaftliche Auffassung über die Entwicklung bedeutet im heutigen
Verständnis der Partei, dass der Mensch mit seinen Interessen und seiner allseitigen
Entwicklung Ausgangs- und Endpunkt jeglicher Politik sein muss.
Sie bedeutet zweitens eine abgestimmte gesellschaftliche Entwicklung 1.von
Stadt und Land (nachholende Entwicklung der Landwirtschaft, des Dorfes
und des Bauern entscheidet über den allseitigen Aufbau einer Gesellschaft des
kleinen Wohlstands), 2. aller Regionen (forcierte Entwicklung Westchinas), 3.
von Wirtschaft und sozialem Bereich (forcierte Entwicklung des Bildungswesens,
des Gesundheitswesens, der sozialen Grundsicherung der Bürger u.a.), 4.
von Mensch und Natur (Betonung der Ökologie und des Prinzips der Nachhaltigkeit)
und 5. von innerer und äußerer Entwicklung (friedlicher Aufbau und
gleichberechtigte Zusammenarbeit, Integration, Nutzung internationaler Ressourcen
u.a.). Die Rolle des staatlichen Eigentums an Produktionsmitteln zur
Beherrschung der Kommandohöhen der Wirtschaft und für die Gewährleistung
der ökonomischen Sicherheit des Staates wird hervorgehoben. Einen hohen
Stellenwert haben die Makrowirtschaft zur Regulierung und Kontrolle
der marktwirtschaftlichen Entwicklung, das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit
und der gemeinsame Wohlstand aller Bürger erhalten.
Gesetzlichkeit und Demokratie sind zwei weitere Grundpfeiler des heutigen
Kurses der Partei. Ziel ist, dass ohne Ausnahme alle Parteien, Organisationen,
Institutionen, Führungskader wie der einfache Bürger in Übereinstimmung
mit der Landesverfassung und den geltenden Gesetzen handeln und sie ihre
legitimen Rechte und Interessen allein in diesem Rahmen wahrnehmen. Das
betrifft auch die neue Schicht der einheimischen Bourgeoisie als Teil des Volkes.
Besonderes Augenmerk richtete die chinesische Führung in den zurückliegenden
Monaten auf die Unterstützung der legitimen Interessen der Bauernschaft
und auf die Wiederherstellung der Rechte der Arbeiterklasse in den
Unternehmen einschließlich des ausländischen Kapitals. Die eingeleitete Demokratisierung
der Partei wird als Voraussetzung und Beispiel für die Demokratisierung
des Staates angesehen.
In der Strategie der heutigen Führung korrespondiert die Modernisierung der
Gesellschaft mit dem „friedlichen Aufstieg“ des Landes zu einer Weltmacht.
Fußnoten-
Einige Jahre später ging Mao Zedong sogar davon aus, dass sich in der VR China ein Übergang
„vom Kapitalismus zum Sozialismus“ vollziehen würde. Siehe: Mao Tsetung, Ausgewählte
Werke, Bd.V, Peking 1978, S.263.
-
Vergl. Li Qingxia/Guan Jian, Der wichtige Gedanke von den „drei Vertretungen“ und der Typ
des gesellschaftlichen Wandels im gegenwärtigen China. In der Zeitschrift „Shijie yu Shehuizhuyi“
(Die Welt und der Sozialismus), Jg. 2004, H.2, S.38 ff.
-
Lenin bezeichnete den Kapitalismus als Segen gegenüber dem Mittelalter und als Übel gegenüber
dem Sozialismus.
-
Angaben der Chinesischen Volksbank über das durchschnittliche BIP p.c. für 2002: Ostchina
höher als das Doppelte des Landesdurchschnitts, Mittelchina 12% unter dem Landesdurchschnitt,
Westchina 30% unter dem Landesdurchschnitt. In: Renmin Wang v. 27.10.03.
-
Haushaltsregistrierung, Wohnungswesen, Getreideversorgung, Versorgung mit anderen Lebensmitteln
und mit Brennstoffen, Versorgung mit Produktionsmitteln, Bildungswesen, medizinische
Betreuung, Altersversorgung, Arbeitsschutz, Heiratssystem u.a.
-
Von 1952 bis 1995 sollen 60% des staatlichen Vermögens durch die Bauern geschaffen worden
sein. Siehe: Nanfang Zhoumo v. 15.4.04, nach: Nanfang Baoye Wang
-
Ebd.
-
Der 5. März wurde zum Tag für die Verbreitung der Gesetze erklärt.
-
Zitiert aus einem Beitrag von Professor Li Qiang, Institut für Soziologie der Qinghua-
Universität. In: Renmin Wang v. 26.8.03.
-
Vgl. die erschütternde „Untersuchung über die Bauern Chinas“ von Chen Guidi und Chun
Tao, Beijing 2004, chines.
-
Diese Situation erinnert an den Ausspruch der österreichischen Dichterin Marie von Ebner-
Eschenbach, dass „der größte Feind des Rechts das Vorrecht (ist)“.
-
Ich vermeide hier den auch in China allgemein gebräuchlichen Begriff der Planwirtschaft. Für
eine Planwirtschaft im Marx’schen Sinne fehlten bisher entscheidende ökonomische und andere
gesellschaftliche Voraussetzungen.
-
Dieses System wurde damals in Anlehnung an das sowjetische Modell mit Unterstützung sowjetischer
Spezialisten entwickelt.
-
Die „drei roten Banner“: großer Sprung nach vorn, Volkskommune und die neue Generallinie
„Mobilisieren wir die Kräfte, um den Oberlauf des Flusses zu erreichen und den Sozialismus mehr, besser, sparsamer und schneller aufzubauen“.
-
Gemeint sind hier vor allen die Korrekturen durch die Orientierung auf „Der Mensch als Maß
aller Dinge“ (yi ren wei ben) und „wissenschaftliche Entwicklung“ durch „umfassende Planung“
(tongchou jiangu).
-
Zitiert von Li Ruihuan in einer Rede vor den stellvertretenden Vorsitzenden der PKKCV Ende
November oder Anfang Dezember 2002. In: Cheng Ming, Jg.2003, H.1, S.13
-
Das betrifft z.B. die Forderung nach gleicher Behandlung und gleichen Konkurrenzbedingungen
für alle Eigentumsformen.
-
Einschätzung des Dr. Liu Shijin, Leiter des Büros beim Zentrum für Entwicklungsforschung
des Staatsrates. In: Shichang Bao v. 30.01.04.
-
Lenin, Werke, Bd. 33, Berlin 1966, S.170-171.
-
Der Begriff „nichtkapitalistischer Entwicklungsweg“ wird im folgenden auf Länder angewendet,
die aus mehr oder weniger vorkapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen heraus unter
Führung von kommunistischen Parteien den Übergang zum Sozialismus anstrebten bzw. anstreben,
ohne das Stadium der kapitalistischen Gesellschaftsformation zu durchlaufen.
-
Nach der Version Maos, an der die KP China auch heute noch festhält, wäre die Übergangsperiode
zum Sozialismus mit dem wesentlichen Abschluss der so genannten sozialistischen Umgestaltung
des Eigentums an Produktionsmitteln abgeschlossen. Was damals tatsächlich erfolgte,
war eine künstlich beschleunigte formale Vergesellschaftung dieses Eigentums auf der
Grundlage historischer Rückständigkeit. Anzumerken ist, dass das auf diesem Wege gebildete
so genannte staatliche Eigentum tatsächlich Eigentum der Zentralregierung war (der gleiche
Status wie unter der Guomindang-Regierung vor 1949). Es besteht bis heute, allerdings 2003
in Eigentum der Zentralregierung und der örtlichen Regierungen aufgeteilt.
* Helmut Peters, Prof. Dr., Berlin, Sinologe
Dieser Beitrag erschien in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 61, März 2005, S. 153-172
Die Zeitschrift Z erscheint vier Mal im Jahr und ist zu beziehen bei:
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