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Klein und schön – das gilt nicht mehr

Tibet mehr als ein Jahr nach den März-Unruhen von 2008

Von Roland Etzel *

China stand vor einem Jahr im Mittelpunkt des Weltinteresses. Die Eröffnung der Olympischen Spiele stand unmittelbar bevor. Zum Leidwesen der chinesischen Gastgeber aber diskutierte die internationale Öffentlichkeit anderes in China beinahe mehr als das sportliche Großereignis. In Tibet war es zu Unruhen gekommen, und alle Welt verbreitete sich über tatsächliche oder vermeintliche Menschenrechtsverletzungen in der Region. Und heute, ein Jahr danach?

Wer nach Spuren jener Unruhen in der Hauptstadt Lhasa sucht, müsste mit kriminalistischer Akribie vorgehen, wollte er etwas finden. Der mediale Aufruhr war, gemessen an der Handvoll abgefackelter Geschäfte, ungleich größer als der materielle Schaden. Zudem beweist das Land täglich, dass es ohne Mühe in der Hälfte der seitdem vergangenen Zeit auch Fünfziggeschosser aus dem Boden stampfen kann. Nicht zuletzt hatte der chinesische Staat ein erklärliches Interesse, klaffende Wunden im Stadtbild schnell zu schließen. Für den Besucher gibt es folglich nichts zu entdecken, was auf die Ereignisse vom März 2008 hindeutet, nach denen – stellt man Umfang und Hitzigkeit der Berichterstattung in Rechnung – im fernen Europa sehr viele Menschen geglaubt haben mussten, es habe ein Volksaufstand stattgefunden.

Im Potala-Palast und im Jokhang-Tempel, buddhistische Heiligtümer und touristische Attraktionen zugleich, drängen sich, jetzt im Juli, wieder tausende Menschen durch die engen Gänge von Schrein zu Schrein. Die religiösen Stätten waren nach den März-Aufregungen nur kurzzeitig geschlossen; nicht weil sie beschädigt waren, sondern weil die Behörden verunsichert waren. Mönche galten als Rädelsführer des Aufruhrs, und einige der Männer in braunroten Kutten sollen beim Brandstiften auch Menschen ermordet haben: Geschäftsinhaber, Han-Chinesen, Angehörige jener Nationalität, die über 90 Prozent der chinesischen Staatsbürger ausmacht.

Doch was war das Motiv des Gewaltausbruchs? Wünschen sie sich den Dalai Lama aus dem indischen Exil als Herrscher zurück? War es spontaner Protest gegen die Überfremdung durch Han-Chinesen? Oder doch nur gegen ein paar betrügerische Händler?

Aufklärung über die »Nationale Frage«

Obwohl die staatlichen Stellen ihr Selbstbewusstsein offenbar längst zurückgefunden haben, konnte ich auf diese Fragen keine erschöpfende Antwort bekommen. Nicht bei meinen tibetischen Gastgebern in Lhasa und auch nicht bei den chinesischen Reisebegleitern. Aber immerhin kann man mit ihnen darüber sprechen. Keiner sieht sich ängstlich um, wenn ihm ein ausländischer Journalist Fragen zur »Nationalen Frage« stellt. Aber die Antworten bleiben eben sehr allgemein. Für einen lockeren Plauderton – das betrifft Chinesen ebenso wie Tibeter – ist den meisten das Thema denn doch zu heiß – zumindest mir gegenüber als der Landessprache unkundigem Kurzzeitbesucher.

Manches, was offenbar nicht so gern ausgesprochen wird, kann man sich vielleicht auch selbst erklären. Wenn in einer Region wie Tibet, wo über 90 Prozent der Bevölkerung praktizierende Buddhisten sind, das religiöse Oberhaupt aus dem Ausland zu einer wie auch immer gearteten Unbotmäßigkeit aufruft, kann das nicht ganz ohne Resonanz bleiben. Wie groß diese tatsächlich war, darauf kann es kaum eine exakte Antwort geben.

Das staatliche Tibetologie-Forschungszentrum in Peking sieht seine Aufgabe auch nicht in solcherart Demoskopie. Die Informationen, die ich dort erhalte, sind deshalb nicht weniger aufschlussreich. Dort meint man, dass die Intensität der Proteste in Lhasa weit unter den Erwartungen beispielsweise der Exil-Tibeter geblieben ist. Und wer aus mehr als touristischem Interesse das erste Mal von Peking aus in das südwestliche Hochland aufbricht, versteht vielleicht besser, was er dort sieht.

Herr Gelek, Frau Huang und Frau Ma zum Beispiel. Alle drei sind Tibeter und Wissenschaftler an jenem Forschungszentrum. Und sie können mit manchmal ganz einfachen Zahlen Vorurteile oder auch absichtsvoll lancierte Behauptungen widerlegen, zum Beispiel die von der han-chinesischen Überfremdung Tibets.

Tibet hatte zum Zeitpunkt der Eingliederung in die Volksrepublik China kurz nach deren Gründung 1951 – in China gibt es dafür die feststehende Wendung »friedliche Befreiung«, für deren Gegner war es eine Okkupation – 1,14 Millionen Einwohner; Ende 2007 waren es 2,84 Millionen Einwohner. Der Anteil der Tibeter lag dabei bis heute stets über 90 Prozent. Auch die entsprechenden UNO-Gremien sehen den Vorwurf der Überfremdung daher als nicht erwiesen an. Manchmal versagen die Zählkriterien auch aus sehr menschlichen Gründen, zum Beispiel bei chinesisch-tibetischen Heiraten. Sie bleiben zwar die Ausnahme, nehmen aber tendenziell zu, berichtet Akademiemitglied Gelek. Nicht einmal der Dalai Lama behaupte, dass dahinter etwa Zwang stecke. Diese »Mischehen« nun als »nichttibetisch« zu zählen, wie seine Anhänger es aber offenbar tun, wäre in der Tat Rassismus.

Die Herausforderung lautet: Jobs schaffen

Heiraten mit Tibeterinnen sind für Chinesen übrigens auch deshalb von besonderem Reiz, weil für die Angehörigen nationaler Minderheiten das Gebot der Ein-Kind-Ehe nicht gilt. Aber nicht nur deshalb hat sich die Zahl der Tibeter seit 1951 mehr als verdoppelt. Huang Wenjuan – auch ihre Mutter ist tibetischer Herkunft – erklärt, warum die »friedliche Befreiung« der Tibeter per Definition vielleicht einen staatsrechtlichen Grenzfall darstellte, praktisch gesehen aber um so mehr den Kriterien einer Befreiung entsprach. Die meisten Tibeter waren bis zu jener Zeit eine Art Leibeigene oder sogar Sklaven und lebten in bitterster Armut, kannten keinerlei Gesundheitswesen. Die jährliche Mortalitätsrate lag bei 28 Prozent, die der Kindersterblichkeit sogar bei 43 Prozent.

Besonders die Frauen, sagt Huang, lebten in einer Welt des Feudalismus, waren ihren Männern unterworfen, kannten nichts anderes als Familie, Haus und Haushalt. Aufrecht hielt sie wohl einzig der Glaube an die Reinkarnation. Erst die chinesische Regierung habe die tibetischen Frauen in die Lage versetzt und ermutigt, Berufe zu erlernen, eigenes Geld zu verdienen und schließlich auch Posten in Politik und Verwaltung als durchaus erreichbare Ziele zu betrachten. Ma Li Hua hat darüber auch Bücher geschrieben. Tibetische Schriftstellerinnen, sagt sie, diese Wortverbindung sei bis vor 50 Jahren undenkbar gewesen. »In meinem Arbeitsbereich sind zwei von fünf Leitern Frauen«, sagt Huang. Und sie erklärt, dass die elementaren Emanzipationsstufen nun hinter den tibetischen Frauen liegen. Ungeachtet möglicher neuer Turbulenzen um den Dalai Lama – heute stehe die tibetische Gesellschaft vor sehr viel profaneren Herausforderungen.

»In Tibet galt stets: Klein ist schön«, erklärt Gelek. »Davon müssen wir wegkommen. Das verlangt die moderne Entwicklung. Wir müssen Anschluss finden an die entwickelte Welt, unsere Jugend auf die Universitäten bringen und dann entsprechende Jobs für die Absolventen in Tibet schaffen.«

Gelek und Huang leben in Peking. Aber sie schicken wie viele andere in der Hauptstadt lebende Tibeter ihre Kinder in Schulen der alten Heimat. Kultur, Traditionen und Verbundenheit mit ihrem Land sind ihnen wichtig, aber sie wollen Entwicklung und nicht, dass ihre Heimat zu einem buddhistischen Disneyland für Touristen erstarrt.

* Aus: Neues Deutschland, 25. Juli 2009


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