Was wissen wir wirklich?
China/Tibet: Bei einer Rückkehr des Dalai Lama nach Lhasa würden feudale Verhältnisse restauriert
Von Marcus Engler *
Für die deutsche Öffentlichkeit war der Fall schnell klar, etwas zu
schnell vielleicht. Im Reich der Mitte herrscht eine menschenverachtende
Diktatur, die um ihrer selbst willen über Leichen geht. Womöglich ist
dies nicht die ganze Geschichte. Denn wir wissen bisher nicht wirklich,
was genau in Tibet passiert ist. Die Region ist von der Welt
abgeschnitten. Wir fragen - wodurch wurden die jetzigen Ereignisse
ausgelöst? Wer sind die Aufständischen? Wer sind die Opfer, wie sind sie
ums Leben gekommen? - und können nicht erschöpfend antworten.
Ein Massaker an friedlichen Demonstranten hat es vermutlich nicht
gegeben. Im Zeitalter der Handyfotografie, in dem man über ausländische
Proxyserver die Internetzensur umgehen kann, gäbe es davon Bilder. Zwar
strecken die chinesischen Zensoren ihre krakengleichen Arme in alle
Fugen der Gesellschaft. Allmächtig sind sie nicht mehr.
Was zu sehen ist, erinnert eher an Clichy-sous-Bois 2005 als an
Tiananmen 1989, eher an die sozialen Unruhen in Frankreichs Banlieue als
an Völkermord. Die bisher verfügbaren Bilder aus den Unruhezonen
bezeugen eine massive Polizei- und Militärpräsenz, heftige Rangeleien
zwischen Tibetern und Sicherheitskräften. Gewiss kann das Vorgehen der
chinesischen Regierung nicht gebilligt werden. Ebenso wenig wie die
drakonischen Strafen, die den Aufständischen drohen. Die Szenen aus
Tibet lassen indes auch erkennen, wie sich Polizisten hinter
Plastikschilden vor Steinen schützen. Man sieht wie Tibeter Scheiben
einschlagen, Geschäfte plündern und chinesische Fahnen verbrennen. Man
sieht brennende Häuser und qualmende Fahrzeuge. Dass Panzer oder
Schusswaffen gegen Mönche oder tibetische Zivilisten eingesetzt wurden,
lässt sich bislang nicht belegen.
Die chinesische Regierung steht stets unter Propagandaverdacht, doch
muss jede auf Wirkung bedachte Propaganda mehr als nur Spuren von
Wirklichkeit einbeziehen. Derzeit sprechen die in Peking offiziell
kolportierten Kommuniqués von "Vandalismus" und einem "wütenden Mob",
dem die Verantwortung für die Zerstörungen anzulasten sei. Sie machen
den Dalai Lama und die Demonstranten für die Toten verantwortlich, die
in brennenden Häusern starben. Keine Indizien gibt es dafür, dass der
Dalai Lama und "seine Clique" die Ereignisse minutiös geplant und noch
während der Krawalle aus dem indischen Asyl koordiniert hätten.
Erklärungen des Exilierten deuten eher darauf hin, dass er sich von
radikaleren Kräften wie dem Tibetischen Jugendkongress übergangen fühlt.
Es liegt nahe, dass Tibeter die sich mit den Olympischen Spielen
bietende Gelegenheit nutzen wollen, um noch mehr Aufmerksamkeit und
Hilfe im Westen zu erheischen. Andererseits handelt es sich in Lhasa
wohl auch um die spontane Rebellion perspektivloser Jugendlicher. Wie
groß ihre Frustration sein muss, lässt sich dem Willen entnehmen, trotz
des zu erwartenden Ausgangs den Kampf David gegen Goliath aufzunehmen.
Was aber wäre, wenn Chinas Regierung dem Dalai Lama noch heute die Macht
in Tibet übertragen würde? Es gäbe mit Sicherheit eine Restauration
feudaler Verhältnisse wie in Bhutan, die Menschen wären bettelarm und
hätten wenig zu sagen. Die Dominanz der Chinesen mag keine Alternative
sein, aber nüchtern betrachtet kann es eine Zukunft für die Provinz nur
als Teil Chinas geben. Immerhin wurde zuletzt beträchtlich in die
Infrastruktur investiert, und der jüngste Gewaltausbruch schadet den
Tibetern mehr als er ihnen nützt. Die Fronten verhärten sich, die
Hardliner in der chinesischen Führung sehen sich gestärkt, Bemühungen um
einen zivilisierten Umgang mit dem Konflikt werden erschwert. Eine
aufgeregte, zu Übertreibungen neigende Berichterstattung im Westen
verringert die Spielräume zusätzlich.
* Marcus Engler arbeitet derzeit im Rahmen eines Projektes als
Sozialwissenschaftler und Journalist in Peking.
Aus: Freitag 12, 20. März 2008
Wie bei allen Artikeln und Kommentaren zum Tibet-Thema verweisen wir
auf unsere Vorbemerkung "Prüfen - nicht spekulieren" auf dieser Seite.
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