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Propaganda und Wirklichkeit, Risiken und Nebenwirkungen

Die Tibetfrage ist nicht nur eine Frage staatlicher Gewalt. Ein Interview, ein Bericht und eine Kolumne


1. Das Interview:

Der Westen beeindruckt China längst nicht mehr

Im Gespräch: Bestseller-Autor Frank Sieren über Tibet-Romantik und Selbstüberschätzung, schlecht funktionierende Demokratien und gut funktionierende Diktaturen

Die Tibet-Debatte klingt zwar noch nicht ab, aber die über einen Olympia-Boykott hat an Schwung und Fürsprechern verloren. Im Westen wird gern vergessen, dass sich China durch äußeren Druck noch nie zu willfährigem Verhalten zwingen ließ. Die größten Veränderungen im Reich der Mitte kamen stets von innen her, sagt der China-Analytiker Frank Sieren.

FREITAG: Wird Tibet zu einem Wendepunkt für die Entwicklung Chinas?

FRANK SIEREN: Es ist kein Wendepunkt, sondern einfach nur tragisch. Es scheint, dass die meisten Beteiligten die Belange der tibetischen Bevölkerung aus dem Blick verloren haben. Man mag über ihren Grad an Verstrickung in diesem Desaster debattieren, aber man sollte sie alle erst einmal auflisten: Die Regierung in Peking mit ihrer unerbittlichen, überzogenen Assimilierungspolitik - der Dalai Lama als Regierungschef einer Exilregierung, der immer wieder versucht, seine Treffen mit westlichen Politikern politisch aufzuladen und damit Spielräume suggeriert, die es nicht gibt, wenn es hart auf hart kommt.

Es gibt freilich auch andere Akteure ...

Wenn Sie die jugendlichen Randalierer meinen - die erinnern mich eher an ihre Altersgenossen in den brennenden Vorstädten von Paris als an die Demonstranten von 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Mit ihrer sinnlosen Gewalt gegen chinesische Händler haben sie Hardlinern in Peking Rückenwind verschafft und die Mehrheit der Chinesen vollends gegen sich aufgebracht. Die Position der Führung und der großen Mehrheit zu Tibet decken sich. Das kehren wir im Westen gern unter den Tisch.

Wie bewerten Sie die Position der deutschen Regierung?

Kanzlerin Merkel, die es mit dem Empfang des Dalai Lama in Kauf genommen hat, die chinesische Führung zu provozieren, um innenpolitisch mit einer Tibet-Romantik zu punkten, die es in Tibet nie gab, hat fahrlässig Signale an die Tibet-Bewegung gesandt, die weit mehr versprechen, als sie halten kann. Nun, da sie sich die Finger verbrannt hat, will Merkel den Dalai Lama nicht mehr empfangen. Nicht vergessen sollte man in diesem Reigen der Egozentriker, die zahlreichen, von Selbstüberschätzung geblendeten westlichen Journalisten mit ihrer zum Teil manipulativen, aufheizenden Berichterstattung.

War der Aufstand im unterdrückten Tibet nicht längst fällig?

Die Frage muss lauten, hat er etwas genutzt? Jedem, der die chinesische Führung ein wenig kennt, muss zu dem Schluss kommen: Es hat nie die geringste Chance gegeben, dass ein Aufstand die Dinge zum Besseren wendet. Das Ergebnis ist erschütternd und war absehbar. Nie war der Spielraum der Tibeter geringer als heute. Und das wird auf absehbare Zeit so bleiben. Da helfen auch keine Olympia-Boykottandrohungen. Die Reformer in der Führung, die sich für einen liberaleren Umgang mit Tibet einsetzen, können nicht punkten. Die Hardliner, die behaupten der Westen benutzt Tibet, um China zu destabilisieren, sehen sich im Aufwind. Und je lauter sich der Westen gebärdet, desto geringer der Spielraum der Reformer. Wir vergessen gern: Die größten Veränderungen im Reich der Mitte kamen stets von innen her.

Spricht man im Westen über China, geschieht das entweder mit großer Euphorie oder totaler Abneigung. Warum diese Extreme?

Weil sich ein epochaler Wandel vollzieht. Seit der Entdeckung Amerikas durch Columbus hat der Westen dominiert. Wo immer die Eroberer hinfuhren, konnten sie die Menschen zwingen, nach ihren Regeln zu spielen. Nun ist das nicht mehr zu halten. Nationen wie China gehen ihren eigenen, sehr erfolgreichen Weg. Viele im Westen sind fasziniert von der Dynamik, von der Modernität. Davon, wie schnell diese Menschen in der Lage sind, Armut hinter sich zu lassen.

Und wie erklärt sich die Abneigung?

Etwa Ende der neunziger Jahre kam die Angst hinzu. Die Sorge, teilen zu müssen, die Sorge dass sich unsere finanziellen Spielräume verringern, Ressourcen immer teuerer werden und unsere Werte an Bedeutung verlieren. Dass immer mehr Arbeitplätze nach China oder Asien abwandern und soziale Standards nicht mehr zu halten sind.

Sind entsprechende Ängste nicht berechtigt?

Sie sind es dann, wenn man glaubt, dank der eigenen natürlichen Überlegenheit nichts unternehmen zu müssen. Wir müssen überlegen, was wir noch im Westen produzieren können. Und was nicht mehr. Welche unserer Werte sind überzeugend? Welche nicht? Das Neue ist: Wir können nicht mehr befehlen, wenn es darum geht, was wir gut und richtig finden, sondern wir müssen überzeugen und Kompromisse finden. Wir müssen unsere Denkweise umstellen. Das ist schwierig und wird ein paar Generationen dauern.

Und wenn es nicht gelingt?

Dann wird es uns etwa so ergehen wie dem Adel im 19. Jahrhundert. Der erlag dem trügerischen Glauben, der Aufstieg der neuen Schichten sei eine Win-Win-Entwicklung. Ihre exklusive Position ließ sich aber nicht halten. Im Rückblick kommt uns das als natürliche Entwicklung vor. Immer mehr Menschen konnten mitbestimmen und aufsteigen. Was auf nationalstaatlicher Ebene passierte, vollzieht sich jetzt auf globaler Ebene. Da wir nun selbst betroffen sind, reicht unsere Vorstellungskraft nicht weit genug. Künftigen Generationen wird die Relativierung des Westens ebenfalls normal und wünschenswert vorkommen.

Sind wir zum Untergang verdammt?

Nein. Meine Sorge ist nur, dass wir aus Überheblichkeit und Selbstsicherheit heraus, das Thema nicht wirklich anpacken. Es ist eigenartig: Aus der Ferne betrachtet erscheinen die Deutschen nicht etwa selbstzweiflerisch, sondern neigen dazu, sich für das Zentrum der Weltzivilisation zu halten.

Sehen uns die Chinesen so?

Die jungen aufgeschlossenen Chinesen wundern sich zum Beispiel darüber, dass wir eine Demokratie haben, die sich selber ausbremst. Die Fortschritte kaum zulässt, weil sie in dem unglaublich komplexen Prozess der Kompromissfindungen stecken bleiben.

Heißt das, autoritäre Regime wie das chinesische sind den heutigen Herausforderungen besser gewachsen?

Es bedeutet schlichtweg, dass es schlecht funktionierende Demokratien und gut funktionierende Diktaturen gibt. Auch wenn wir das nicht möchten - China ist das mit Abstand erfolgreichste Entwicklungsprojekt der jüngeren Weltgeschichte. Und es hat seinen Zenit noch lange nicht erreicht. Noch nie wurden so viele Menschen in so kurzer Zeit der Armut entrissen.

Wie erklären Sie sich diesen Aufstieg?

Es gibt plakativ gesagt drei Methoden, um Macht in der Welt zu gewinnen: Waren, Waffen, Werte. Für die Werte ist der Papst zuständig oder der Islam. Die traditionelle Methode ist Waffengewalt, Krieg. Die ist jedoch seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts immer weniger erfolgversprechend. Welch ein ungeheuerer Fortschritt. Der Koreakrieg war ein Wendepunkt. Er endete mit einem Patt. Fast alle Kriege, die von den Amerikanern danach geführt wurden, gingen verloren oder endeten ohne klaren Sieg.

Allmählich zeigt sich, dass in einer Ära der Globalisierung geschickt geführte Handelsbeziehungen mehr politischen Einfluss versprechen als Militäraktionen. Darauf haben sich die Chinesen spezialisiert. Halb aus Schwäche, da ihre Armee rückständig ist, halb aus Geschick, weil sie traditionell gute Händler sind. Sie erobern nicht, sondern schaffen Abhängigkeiten. Container wirken nicht bedrohlich.

Wie funktioniert das?

Sie haben zwei Methoden entwickelt. Die eine nenne ich Konkubinenwirtschaft. Weil sie in der Kombination von Größe, Preis und logistischer Wendigkeit sowohl bei Badeschuhen als auch bei Flugzeugen die weltweit besten Produktionsbedingungen bieten, können sie sich aussuchen, mit wem sie kooperieren. Westliche Unternehmen müssen um die Gunst ihrer chinesischen Partner buhlen wie einst die Konkubinen um den Kaiser. Die Konkubinenwirtschaft bringt China mit über 60 Milliarden Dollar jährlich die höchsten Auslandsinvestitionen und mit fast 300 Milliarden die höchsten Handelsüberschüsse.

Die zweite Methode ist die Mutter-Courage-Ökonomie: Die Chinesen helfen herunter gewirtschafteten Ländern etwa in Afrika, indem sie preiswert und schnell deren Infrastruktur aufbauen und betreiben, um dafür langfristige Rohstoffverträge zu bekommen. Ist der Kunde zufrieden, und das ist er meistens, entstehen daraus langfristige politische Allianzen über Kontinente hinweg, die das globale Gefüge zugunsten der Entwicklungsländer verschieben.

Haben Sie ein Beispiel?

Nehmen Sie Nigeria, die Chinesen sagen: Ihr habt eine Eisenbahn, von den Engländern gebaut, die ist seit 100 Jahren nicht gewartet worden. Wir investieren acht Milliarden Dollar in diese Trassen. Wir tun das nicht uneigennützig, denn wir wollen bei euch Bodenschätze kaufen und müssen die abtransportieren. Ihr könnt euch entscheiden, ob Ihr zur Hälfte lokale Arbeiter eingesetzt haben wollt oder nur zu einem Drittel. Wenn ihr auf der Hälfte besteht, dauert es doppelt so lange.

Sie haben geschrieben, dass die Chinesen nach innen Diktatoren und nach außen Demokraten seien. Was meinen Sie damit?

Nach innen wollen sie - halb aus Überzeugung, dies sei für die Stabilität Chinas entscheidend, halb aus Machterhalt - die Demokratie so spät wie möglich einführen. Nach außen sagt die chinesische Führung bereits, wir vertreten 1,3 Milliarden Menschen. Und wir setzen uns für eine Weltordnung ein, in der das gilt, was die Europäer ursprünglich postuliert haben: "One man, one vote!" In diesem Sinne sind sie die Fürsprecher der größten Mitbestimmungsbewegung, die es seit Menschengedenken gibt.

Wie kann die chinesische Bevölkerung selbst Einfluss nehmen?

Durch einen ungeschriebenen Vertrag mit ihrer Führung. Wenn es der nicht mehr gelingt, das Leben der Menschen zu verbessern, wird dieser Gesellschaftsvertrag aufgekündigt und die Leute gehen auf die Straße: 10, 20 oder 100 Millionen! Das wäre etwas anderes als ein Aufstand in Tibet, der für China insgesamt ohne Belang ist. Die Angst vor einer solchen Eruption zwingt die Führung, sich anzustrengen. Es ist ein Irrtum zu glauben, Diktatoren stünden nicht unter Druck.

Sprechen Sie damit über die Bruchstelle, an der das China-Projekt scheitern könnte?

Die große Frage ist, ob China es schafft, ein Wirtschaftssystem zu entwickeln, dass nicht so viele Ressourcen verbraucht, wie das bei uns geschieht. Die Chinesen stehen vor der Herausforderung, die nicht einmal der Westen lösen konnte oder wollte. Und wir sollten alles tun, um zu helfen, statt mit dem Finger auf China zu zeigen. Ein chinesisches Umwelt-Desaster betrifft uns alle. Zum anderen wird entscheidend sein, ob man es schafft, graduell immer mehr Mitbestimmung zuzulassen, denn die muss es letzten Endes geben. Aber es wäre gewiss unklug, heute eine Demokratie westlichen Standards einzuführen.

Warum?

Weil man Wahlkampf nur auf dem Niveau führen kann, auf dem die Wähler sind. Es würden lauter kleine Maos antreten. Ein Großteil der ländlichen Bevölkerung ist sehr traditionell. Da würden Texte gesprochen, die uns die Haare zu Berge stehen ließen. Dann möchte ich die westliche Berichterstattung einmal lesen.

Mit anderen Worten, viele Chinesen sind nicht bereit für eine Demokratie?

Die schwiege Aufgabe besteht darin, den richtigen Zeitpunkt für die Einführung der Demokratie zu finden.

Wie sehen das die jüngeren Generationen?

Die jungen Chinesen haben ein geradezu postmodernes Verhältnis zur Politik, wie viele junge Leute in Deutschland. Sie sagen, was interessiert mich dieser ganze Zirkus. Ich bin der Kapitän meines Lebens und fertig.

Das Gespräch führte Marcus Engler

Frank Sieren

(41), Bestseller-Autor, Dokumentarfilmer und Asienspezialist. Er lebt seit fast anderthalb Jahrzehnten in China. Die London Times nennt ihn einen der "maßgeblichen Chinakenner Deutschlands". Sieren, der in Trier und Berlin Politikwissenschaft studierte, ist in der Tat einer der wenigen deutschen Journalisten, die nicht nur aus erster Hand vom Aufstieg Chinas berichten, sondern ihn über einen langen Zeitraum hinweg begleitet haben.

Sein Buch Der China-Code. Wie das boomende Reich der Mitte Deutschland verändert hat stand 2005 monatelang auf Platz eins der Wirtschaftsbestseller. "Dieses Buch sollte jeder lesen, dem die Zukunft Deutschlands am Herzen liegt", resümierte Peter Scholl-Latour. Sieren hat mit seinen Analysen auch Altbundeskanzler Helmut Schmidt überzeugt. Bereits 2005 entschied der sich, dem Autor Einblick in bis dato unveröffentlichte Protokolle seiner zahlreichen Gespräche mit chinesischen Führern zu gewähren. Daraus ist Sierens Buch Nachbar China entstanden.

Im Februar 2008 erschien das neueste Werk des Autors: Der China-Schock. Wie Peking sich die Welt gefügig macht.



* Aus: Freitag 14, 4. April 2008


2. Der Artikel:

Klischees schauen sich an

Tibet: Falsche Tibeter und wahre Mönche - über den Umgang mit den Bildern im Tibet-Konflikt

Von Katrin Schuster **

Über die aktuelle Situation in Tibet weiß man so gut wie nichts. Und will gerade deswegen möglichst alles darüber erfahren, die Zeitungsartikel wie Fragen häufen sich mit jedem Tag. Fliegen Steine, sausen Knüppel, fliegen Kugeln? Aus wessen Händen, wessen Gewehren? Wer hat diesmal damit angefangen? Und wer ist hier überhaupt - wie man so schön sagt: im Recht?

Obwohl beinahe alle Journalisten Tibet bereits verlassen hatten, wussten ein paar Medienunternehmen dennoch recht schnell, wer da wem Unrecht tut: Arme Tibeter, böse Chinesen, hieß es sinngemäß bei RTL, n-tv, der Berliner Morgenpost und anderen Faktenhändlern neben wie unter Bildern von Demonstranten, Polizisten und Rettungssanitätern. Allerdings klaffte die so genannte Bild-Text-Schere oft weit auseinander: Ein Gutteil der Bilder stammte gar nicht aus Tibet. Tatsächlich prügelten da nicht chinesische Sicherheitskräfte, sondern nepalesische; da wurde kein "Aufständischer" abgeführt, sondern ein Chinese in Sicherheit gebracht; da sah man im gewählten Ausschnitt nur einen chinesischen Lastwagen - und nicht die Gruppe Tibeter, die Steine auf ihn schleuderte. Als Dummheit oder Ignoranz möchte man ein derart grobes Zurechtschnipseln lieber nicht bezeichnen, da wären durchaus ärgere Vokabeln angebracht.

Und während Bilder hierzulande offenbar nur mehr illustrativ verstanden werden - sozusagen als "Symbolfotos", deren Kennzeichnung als solche der Pressekodex eigentlich fordert -, glaubt China gut kommunistisch an die Macht der Bilder; angeblich müssen sich chinesische Schüler und Studenten mehrmals am Tag Aufnahmen von Tibetern ansehen, die in Lhasa gegen Chinesen vorgehen. Einen wachen Blick für das propagandistische Moment solcher Optiken gibt es allerdings hier wie dort: Im Westen mussten Zeitungen und Fernsehsender bald kleinlaut zugeben, dass ihr Tunnelblick schneller Bildunterschriften erfindet als er die korrekten Angaben liest und versteht. Aus China wiederum berichten Journalisten, dass gerade der andauernde Versuch der visuellen Indoktrination die Zweifel daran mehre, dass der Staat im Recht sei. Dass das Bild oft genug ein politisch wirksameres Medium als das Wort ist, scheint mittlerweile eben kein Geheimnis mehr, weder hier noch dort.

Deswegen hatte China die ausländischen Journalisten zunächst aus Lhasa verwiesen: Im Zweifel mag man die Bildhoheit im eigenen Land lieber nicht mit anderen teilen (so mäßig erfolgreich das auch sein mag im Zeitalter der Handykameras, siehe etwa die Aufnahmen aus Tibet auf Youtube). Diesen Informationsboykott beantworteten die westlichen Medien mit der Rede vom Olympiaboykott: Wenn wir bei euch nicht überall hinschauen dürfen, dann wollen wir euer Sportfest erst recht nicht abbilden und lassen uns gar nicht blicken. Seht her, erklärte China daraufhin und organisierte eine Reise ausgewählter Journalisten durchs Land. Braucht man sich gar nicht anschauen, erwiderte der Westen, weil er das Angebot als "PR-Aktion" und "Inszenierung" begriff. Seht hin, hieß es dann plötzlich doch - als etwa 30 tibetanische Mönche die Veranstaltung mit ihrem Ruf nach Religionsfreiheit störten.

Wie die Boykott-Drohung deutschen Politikern und Funktionären von den Medien insinuiert wurde, war unappetitlich anzusehen - ganz gleich, ob man nun dafür oder dagegen ist. Da setzt man ein Thema, hält sich aber selbst hübsch heraus aus der Angelegenheit: Als ob auch nur eine deutsche Zeitung, nur ein deutscher Fernsehsender aus eigener Entscheidung und in eigener Verantwortung aus politischen Gründen von einer Berichterstattung über Olympia Abstand nehmen würde.

Das wäre etwas, mit dem man das IOC ins Mark treffen würde. Weil dann anstatt seines rechtlich geschützten Logos vielleicht tatsächlich die fünf Handschnellen im Gedächtnis blieben, zu denen die Organisation Reporter ohne Grenzen die fünf Ringe für ein Protestplakat gemacht hat. Das ist ganz und gar nicht illustrativ gemeint und alles andere als ein Symbolfoto.

* Aus: Freitag 14, 4. April 2008


3. Die Kolumne:

Die Propaganda-Schlacht

Der Aufstand in Lhasa ähnelt Revolten in ethnischen Ghettos. Peking unterbindet den Aufstieg Einheimischer.

Von Karl Grobe ***


Chinas Propagandamaschine wirft wie üblich die parteikonformen Klischees aus. Was sie über die gegenwärtige Krise in Tibet produziert, ist als Propaganda so ungeschickt, weil leicht zu erkennen ist, dass die darin auch enthaltenen Wahrheiten unerkannt bleiben. Die Auslassungen der tibetischen Exilregierung und der seriöseren Freunde des Dalai Lama hingegen kommen so wahrhaftig daher, dass die ihnen auch innewohnende Propaganda nicht recht bemerkt wird. Den Kampf um die Deutungshoheit haben sie gleichwohl gewonnen - in de Öffentlichkeit des Westens.

Einiges geht hier wie dort dabei unter. Der Dalai Lama brandmarkt den kulturellen Genozid. Daran ist zweifelsfrei wahr, dass das Tibet, das er vor 49 Jahren zwangsweise verlassen hat, so nicht mehr besteht. Doch auch er und die welterfahreneren unter seinen Beratern und Begleitern wollten es ja modernisieren, der Gegenwart öffnen. Ein ethnographisches Museum mit Zutrittsverbot sollte Tibet nicht sein. Ein souveräner Staat konnte es nicht sein, auch weil keine einigermaßen einflussreiche Macht daran irgendwie interessiert war.

Die Pekinger Machthaber pochen seit jeher auf die von ihnen angeblich seit Jahrhunderten ausgeübte Vorherrschaft. Sie deuten die Verhältnisse erheblich um. Die chinesische "Suzeränität", dieses sonderbare Konstrukt, war einerseits schiere Formalität, andererseits für Lhasa annehmbar, solange sie Tibet in Ruhe ließ.

Das tat Maos China nach 1956 nicht mehr. Es trat nun imperial auf, in gewaltsameren Jahrzehnten als Zerstörer der Klöster und der theokratischen Kultur, in milderen Phasen als - jawohl - fördernder Tolerierer der dem Staatsinteresse nicht abträglichen folkloristischen Besonderheiten.

Die Wirtschaft wurde ins jeweils gültige chinesische System einbezogen. Seit der kapitalistischen Reform, seit fast drei Jahrzehnten, spielt China mit erheblichem materiellem Aufwand die Rolle des Modernisierers mit chinesischen Charakteristika. Hunderttausende wanderten ein - die meisten auf Zeit mit dem Ziel, möglichst rasch zu verdienen und bald heimzukehren. Han-chinesischer Rassismus, Angst vor der Höhenlage und arrogantes Fremdeln in der unbekannten Umgebung setzen bis heute ihrer Anwesenheit Zeitgrenzen - aber Ablösung kommt so gewiss, wie das Verständnis für die andere Hochkultur ausbleibt.

Geschäftstüchtige Han-Chinesen und muslimische Hui besetzen die ökonomisch lukrativen Plätze. Die jüngere tibetische Generation ist ihnen nicht gewachsen, und ärger: will sie sich weiterbilden und im System Erfolg haben, ist sie auf das Medium der chinesischen Sprache angewiesen.

Das ist der Hintergrund der Plünderungen und Zerstörungen han-chinesischer Geschäfte und Unternehmen in den letzten Wochen. Das ähnelt mehr den Revolten in den Banlieues und ethnischen Ghettos Europas als einer "orangenen Revolution".

Der Ausbruch nach vier gewaltlosen Tagen war offensichtlich koordiniert. Dafür reichen Mobiltelefone. Es gibt jedoch auch Interessierte. Im Exil sind die Gruppen stärker geworden, die dem Gewaltverzicht des Dalai Lama nichts mehr abgewinnen. Sie haben sich zu einem Aufstandskomitee zusammengetan, hoffen auch wohl auf Förderung durch die CIA und ihre Freunde wie vor 1972. Doch den Aufstand haben sie nicht gemacht. Er ist die Reaktion auf die chinesischen kapitalistischen Verhältnisse. Auch die repressive Gewalt ist ihre Frucht.

*** Aus: Frankfurter Rundschau, 7. April 2008 (Kolumne)


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