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14 Tage Peking

China: Am Dienstag beendete der 11. Nationale Volkskongreß seine Jahrestagung. Senkung der Inflationsrate im Zentrum der Beratungen

Von Lars Mörking, Peking *

Zwei Wochen dauerten die Beratungen. Am gestrigen Dienstag dann beschlossen die etwa 3000 Abgeordneten des 11. Nationalen Volkskongresses zum Abschluß ihrer Jahrestagung mit großer Mehrheit unter anderem die zukünftige Wirtschaftspolitik der VR China. Im Zentrum steht dabei der Kampf gegen die Inflation. Die Lage in der Autonomen Region Tibet spielte nur am Rande eine Rolle – und dann auf der internationalen Pressekonferenz im Anschluß an den Kongreß.

Diese allerdings diente zunächst der Auswertung der Tagung. »Geschichte wird von Menschen gemacht und von Menschen geschrieben«, meinte der alte und neue Premierminister Wen Jiabao zu Beginn der Pressekonferenz – um dann auf die »schwierigste Herausforderung« einzugehen, die hohe Geldentwertung, die vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen sehr belaste. Nach offiziellen Statistiken wuchs die Inflationsrate in China im letzten Monat auf 8,7 Prozent, die Lebensmittelpreise stiegen durchschnittlich sogar um 23,3 Prozent an.

Wen erklärte, die Regierung müsse nunmehr für ein »kontinuierliches Wirtschaftswachstum« sorgen und die Inflation niedrig halten. Doch ob Peking überhaupt die notwendigen Mittel zur Makrosteuerung der Wirtschaft in der Hand hält, um eingreifen zu können, ist derzeit unklar. Also dämpfte Wen die Erwartungen. Die Inflationsrate auf angestrebte 4,8 Prozent für das Jahr 2008 zu senken, sei »kein leicht zu erreichendes Ziel. Aber wir halten daran fest«.

»Papierkaiserin«

In den vergangenen Tagen hatte der Volkskongreß als höchstes Entscheidungsgremium des Landes die wichtigsten Ämter vergeben. Hu Jintao wurde sowohl zum Präsidenten als auch zum Vorsitzenden des Zentralen Militärausschusses gewählt. Darüber hinaus beschloß der Kongreß eine neue Regierungsstruktur. Durch Zusammenlegung von Kompetenzen entstanden fünf sogenannte »Superministerien«.

Am Rande des Volkskongresses trat auch in diesem Jahr die Politische Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes (PKKCV) zusammen. Sie hat ausschließlich beratende Funktion und gibt Repräsentanten aus allen Bevölkerungsteilen die Möglichkeit, Vorschläge zur aktuellen Politik zu kommunizieren. Für ungewöhnlich »stürmische« Debatten sorgte nach Berichten der Pekinger Volkszeitung (Renmin Ribao) die »Papierkaiserin« Zhang Yin, die als reichste Frau Chinas bekannt wurde. Sie verlangte unter anderem eine Senkung der Einkommensteuer für Spitzenverdiener von 45 auf 30 Prozent und eine Überarbeitung des zu Jahresbeginn in Kraft getretenen Arbeitsvertragsgesetzes, da dieses die Wirtschaft zu stark belaste. Für ihre Forderungen erntete sie teils heftige Kritik, vereinzelt aber auch vorsichtige Zustimmung aus den Reihen chinesischer Unternehmer.

Die T-Frage

Auf der anderen Seite forderte der chinesische Gewerkschaftsdachverband (ACGB) angesichts der Inflationsrate und des anhaltend hohen Wirtschaftswachstums einen Mechanismus, der ein beständiges Ansteigen der Löhne gewährleisten soll. Nach einer Erhebung des ACGB hätten 26 Prozent der Arbeiter in China in den vergangenen fünf Jahren keine Lohnerhöhung bekommen. Zhang Mingqi, stellvertretender Vorsitzender des ACGB, sagte der Tageszeitung China Daily: »Wir versuchen, die Erhöhung der Einkommen mit dem Wirtschaftswachstum in Einklang zu bringen«.

Und Tibet? Wie zu erwarten, stand auf der Auswertungspressekonferenz zum Volkskongreß die »T-Frage« im Fokus des Interesses vor allem der ausländischen Journalisten. Wen Jiabao wiederholte die Regierungseinschätzung, daß es sich bei den Akteuren der Proteste vom vergangenen Freitag nicht um »friedliche Demonstranten«, sondern um »gewalttätige Unruhestifter« gehandelt habe. Zuvor hatte bereits Außenminister Yang Jiechi die Medien des Auslands dazu aufgerufen, sich »an die Fakten zu halten«.

Augenzeugenberichte, wie sie beispielsweise im britischen Guardian auszugsweise veröffentlicht wurden, schienen die offizielle chinesische Darstellung zu untermauern: Demnach sind die Toten und Schwerverletzten der vergangenen Tage von den Protestierern zu verantworten. Kritik an der Präsenz von Sicherheitskräften in Lhasa wies auch Qiangba Puncog, der tibetische Regionspremier, zurück. Seine Frage: Wo auf der Erde gibt es eine Regierung, die Ausschreitungen dieses Ausmaßes tolerieren würde, ohne zu reagieren?

* Aus junge Welt, 19. März 2008

Ende offen

Vor 30 Jahren begann in China eine »Politik der Reformen und Öffnung nach außen«
Von Lars Mörking *
  • 1977/78: Nach Mao Tse-tungs Tod sowie der Verhaftung der »Viererbande« in der zweiten Jahreshälfte von 1976 wird schließlich auf dem 11. Parteitag der Kommunistischen Partei (KPCh) im Jahr darauf die »Kulturrevolution« für beendet erklärt – ein neuer Abschnitt in der Geschichte der VR China beginnt. Ende 1978 beschließt das KP-Zentralkomitee, eine »Politik der Reformen und der Öffnung nach außen« einzuleiten. Deng Xiaoping hält ein Referat mit dem Titel: »Das Denken befreien, die Wahrheit in den Tatsachen suchen, sich zusammenschließen und den Blick nach vorn richten.«
  • 1979/82: Eine Theoriekonferenz der KPCh formuliert vier Grundprinzipien, die Bestrebungen zur Aufgabe der Führungsrolle der KPCh eine Absage erteilen: Festhalten am sozialistischen Weg, Festhalten an der Diktatur des Proletariats und der Diktatur der Volksdemokratie, Festhalten an der Führung durch die Kommunistische Partei, Festhalten am Marxismus und den Ideen Mao Tse-tungs.

    Der Einstieg in die Reformen vollzieht sich im Bereich der Landwirtschaft. Die Volkskommunen werden schrittweise beseitigt und ein System der Eigenverantwortlichkeit eingeführt. Die Bewirtschaftung des Landes erfolgt nun wieder hauptsächlich auf Basis der Familienzugehörigkeit: Wer über die staatlich festgelegten Abgaben hinaus produziert, kann den Überschuß auf dem Markt verkaufen. Dies führt innerhalb kurzer Zeit zur Verbesserung der Versorgungssituation und zur raschen Verbesserung des Lebensstandards auf dem Land, wo zu dieser Zeit etwa 80 Prozent der Gesamtbevölkerung leben.

    Nachdem die Regierung die wirtschaftlichen Reformen auf Handel, Handwerk und Industrie ausgedehnt hat, erfolgt der Umbau des Staates: Reformierung des Bankenwesens, gegenseitige Abgrenzung von Zuständigkeitsbereichen zwischen Partei und Staat, Ausweitung der Kompetenzen der Parlamente auf allen Verwaltungsebenen, Einführung von Direktwahlen auf lokaler Ebene usw. Der Staat beginnt mit dem Rückzug aus seinen wirtschaftlichen Kontrollaufgaben und beschränkt sich zunehmend auf die Makrosteuerung der ökonomischen Entwicklung.
  • 1982: Vom 12. Parteitag der KPCh wird eine Nachahmung westlicher Modelle ausgeschlossen. Die konkrete Situation Chinas erfordere einen Sozialismus chinesischer Prägung.
  • 1984: Die auf dem Land begonnenen Reformen sollen auf die Städte ausgeweitet werden. Chinas Wirtschaftssystem definiert das ZK als eine geplante Warenwirtschaft auf der Grundlage von Gemeineigentum.
  • 1987: China befindet sich in der Anfangsetappe des Sozialismus (Deng Xiaoping, 13. Parteitag). Es wird das Ziel formuliert, bis Mitte des 21. Jahrhunderts die Modernisierung des Landes im wesentlichen abzuschließen.
  • 1993: Das ZK trifft einen Beschluß zu »Fragen der Errichtung der Strukturen einer sozialistischen Marktwirtschaft«.
  • 1997: Anfangsetappe des Sozialismus als Phase der schrittweisen Überwindung der Unterentwicklung: China soll sich demnach in ein entwickeltes, am Markt orientiertes Industrieland verwandeln, in dem die Bevölkerungsmehrheit nicht mehr von der Landwirtschaft lebt. Darüber hinaus soll das ganze Volk am erwirtschafteten Wohlstand teilhaben, die Armut vollständig beseitigt werden.
  • 1999: Beschluß über die weitere Zukunft der in staatlichem Besitz befindlichen Unternehmen zur Steigerung der Produktivität und Rentabilität: Es folgt eine Umorganisierung der Staatsbetriebe. Sie werden zum Teil verkauft oder zu Aktienunternehmen umgewandelt.
  • 2001: China tritt der Welthandelsorganisation (WTO) bei. Das Wachstum und die Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen vergrößern sich nochmals, während vorausgesagte drastische Negativfolgen im Bereich der chinesischen Landwirtschaft weitgehend ausbleiben.
  • 2002: Mit dem 16. Parteitag im Jahre 2002 wird begonnen, qualitative Kriterien aufzustellen, die das Wirtschaftswachstum erfüllen soll.
  • 2007: Auf dem 17. Parteitag wird die »wissenschaftliche Auffassung von der Entwicklung« als Grundkonzept der Partei verabschiedet. Demnach wird ein Schwerpunkt auf die Steuerung des Wirtschaftswachstums in Richtung Hochtechnologie, Umweltverträglichkeit, regionaler und sozialer Ausgleich sowie Nachhaltigkeit gelegt. Bis 2020 soll (im Vergleich zu 2000) die Vervierfachung des Bruttoinlandprodukts pro Kopf ereeicht werden.
* Aus: junge Welt, 19. März 2008




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