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China sieht sich als natürliche Weltmacht

Fast unbemerkt bringt Peking seine Regeln in Politik und Wirtschaft ein

Von Anna Guhl, Peking *

Wenn die chinesische Regierung ihren Bürgern in diesen Tagen zum 11. Mal eine Woche »Urlaub« zum Nationalfeiertag am 1. Oktober gewährt, werden wieder ungezählte in- und ausländische Pilger an die Große Mauer strömen.

Über die Wirksamkeit der Mauer als Schutz gegen Angriffe von Reitervölkern aus dem Norden – das war der ursprüngliche Zweck des heutigen Touristenmagnets – lässt sich wahrlich streiten: Immerhin schafften es Mongolen und Mandschuren, jahrhundertelang in Chinas Hauptstadt zu residieren.

Auch meine chinesischen Freunde fragen sich bei unseren Mauer-Wanderungen immer wieder, warum ihreVorfahren so viel Kraft, Material und Menschen für den Bau eines gewaltigen Steinwalls in wirklich unwirtlichen Gegenden verwendet haben. Schließlich wurde in China das Schießpulver erfunden, der Aufbau einer Armee wäre wesentlich einfacher gewesen. Von Chinas Küste lief noch vor Kolumbus' Eroberungen die erste Flotte unter Admiral Zheng He aus; doch sie wurde zurückgeholt und zerstört.

Der Bau der Mauer stehe für die typische chinesische Denkweise, sagen meine Freunde. Wer so defensiv vorgeht, um sich vor Eindringlingen zu schützen, der unternehme keine Eroberungszüge, der greife auch nicht andere Völker an, sondern wolle »Tür an Tür« harmonisch mit den anderen zusammenleben.

Zwar kennt die chinesische Geschichte keine kolonialen Raubzüge in anderen Teilen der Welt, doch auch Chinas Kaiser bemühten sich um die Vergrößerung ihrer Reiche und gingen nicht immer friedlich vor. Und stets, wenn das Reich seine größten Ausmaße erreichte, ging es ihm wirtschaftlich gut, florierten die Geschäfte, blühten Kunst und Kultur.

In unseren Tagen will China seinen einstigen wirtschaftlichen und kulturellen Rang wieder herstellen. Aber die Bedingungen in der Welt haben sich seit Chinas letzter Blütezeit im 17. Jahrhundert grundlegendend verändert. China selbst war Opfer von Aggressionszügen anderer Weltmächte, die heute die Weltordnung bestimmen und das aufstrebende China zunächst als willkommenen Absatzmarkt und Rohstofflieferanten ansahen. Inzwischen aber – angesichts seiner rasanten Entwicklung – wird China zunehmend als »Bedrohung« und »Gefahr« in Wirtschaft und Politik wahrgenommen.

China selbst sieht sich mit Blick auf seine Geschichte als eine natürliche Weltmacht. Es will nicht die Weltkarte, sondern seine eigene verändern: die Gesellschaft soll modernisiert, die Wirtschaft entwickelt und das Land in seinen heutigen Grenzen stabil und friedlich gehalten werden. Nicht China müsse sich arrangieren, meint man in Peking, sondern die heutige Welt habe sich auf China einzustellen, das immerhin auf eine 5000-jährige Geschichte verweisen könne und viel für die Entwicklung der Zivilisation getan habe.

Doch Chinas Entwicklung ist bereits fest eingebettet in den Globalisierungsprozess. Chinesische Produkte drängen auf die internationalen Märkte, Chinas Kunst und Kultur fasziniert im Ausland.

Kein Wirtschaftsproblem kann heute mehr ohne chinesische Beteiligung verhandelt und gelöst werden. Mit der ökonomischen wächst auch die politische Bedeutung des Landes. Ob es um den Korea-Atom-Konflikt, die Krise im Nahen Osten oder die UNO-Reform geht – die »internationale Gemeinschaft« kann heute kaum noch einen Schritt an China vorbei tun. Und so findet sie es denn auch legitim, dass China zu seiner neuen Rolle steht und Verantwortung übernimmt – natürlich nach den »Regeln« der westlichen Mächte und im Rahmen der von ihnen bestimmten Ordnung.

China braucht den internationalen Markt für den Absatz seiner Produkte und die Rohstoffe dieser Welt für seine ambitionierten Modernisierungspläne. Also touren Chinas Mächtige durch die Welt und setzen sich für »fairen Handel« und »freien Zugang zu allen Märkten« ein, fordern gleichberechtigten Umgang von Nord und Süd, gegenseitigen Vorteil bei wirtschaftlicher Kooperation. Konflikte, gar Konfrontationen vor allem mit den Staaten, die die heutige Weltordnung repräsentieren, werden vermieden. Harmonisch soll es zugehen. Natürlich kann über Urheberschutz geredet werden, China tue viel dafür, versicherte erst kürzlich Premier Wen Jiabao auf seiner Europa-Tour. Selbstverständlich respektiere China die Menschenrechte, nur die Bedingungen sind andere als in den westlichen Demokratien.

So beginnt die chinesische Führung allmählich und fast unbemerkt von der immer noch aus der Position der Stärke operierenden westlichen Welt, »ihre« Regeln einzubringen. Denn sie weiß genau: Nicht Chinas Aufstieg ist schuld an Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und politischer Instabilität in westlichen Staaten, sondern deren Unfähigkeit, wirksame Antworten auf das chinesische Entwicklungsmodell mit hohem Wirtschaftswachstum, wachsender Mittelschicht und relativer politischer Stabilität zu finden.

* Aus: Neues Deutschland, 30. September 2006


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