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China ist keine Bedrohung für den Westen

Die Entscheidung für Reformen und Öffnung ist unwiderruflich

Von Anna Guhl *

China wird seinen Weg zur modernen Großmacht beharrlich fortsetzen, und niemand wird es aufhalten. Damit wird das Land die Welt verändern, auch wenn es heute alles andere als deren Neuordnung anstrebt.

Diesen Umstand wird man in China wie in der übrigen Welt begreifen. Ohne für jede Aktion der jeweils anderen Seite Verständnis aufzubringen, wird man fair miteinander umgehen, Transparenz und Verantwortung im politischen Handeln zeigen müssen. Peking wird erkennen, dass es sich globalen Themen wie dem Klimaschutz, dem gemeinsamen Handeln im Kampf gegen Armut, Terrorismus und politische Willkür nicht dauerhaft entziehen kann. Gewiss wird China auf seinem Weg in die Moderne auf Erfahrungen und Erkenntnisse der Menschheitsgeschichte außerhalb seiner eigenen Grenzen zurückgreifen. Dass es ebenso eigene Anworten finden will, sollte mit Respekt verfolgt werden.

Unter Staats- und Parteichef Hu Jintao hat das Land eine deutliche Politikwende vollzogen. Nach jahrelangem extensiven Wirtschaftswachstum, bei dem soziale Ungleichheit und starke Umweltverschmutzung in Kauf genommen wurden, setzt Hu auf soziale Ausgewogenheit. Jeder in der Gesellschaft, so zumindest das Parteiprogramm, soll an den Erfolgen der rasanten Wirtschaftsentwicklung teilhaben, soll einen, wenn auch bescheidenen, Wohlstand genießen können und sich in einer »harmonischen Gesellschaft« geborgen fühlen. Chinas politische Elite will nicht mehr ausgrenzen, sondern alle Klassen und sozialen Schichten zusammenführen

Begonnen wurde bei den Bauern, der größten und seit jeher ärmsten Bevölkerungsgruppe. Sie brauchen kaum noch Steuern zu zahlen, viele Abgaben wurden gestrichen. Das macht sie nicht augenblicklich reich, aber es gibt ihnen Hoffnung. Und so lange der Ärmste im Land meint, am Ende jedes Jahres ein bisschen mehr in der Hand zu halten als noch zu Jahresbeginn, muss die Führung nicht befürchten, dass sich Protestaktionen – mittlerweile gut 80 000 an der Zahl – zu Flächenbränden ausweiten.

Die Zahl der Chinesen, die sich mit weit mehr als nur dem Nötigsten versorgen können, wächst zusehends. Auf 200 Millionen Menschen werden die »neuen sozialen Schichten« inzwischen geschätzt. Dazu gehören das sogenannte Weiß-Kragen-Personal, das in den großen Gemeinschaftsunternehmen und in ausländischen Firmen beschäftigt ist, aber auch Privatunternehmer, Freiberufler und Intellektuelle – all jene, die die neuen Freiräume genutzt haben. Diejenigen, die nach der neuesten Mode gekleidet, die englischsprachige »China Daily« unterm Arm, in die Bürotürme von Peking, Shanghai, Dalian oder Chongqing eilen, interessieren sich in der ersten Pause für die Börsennotierungen. Die Werte, mit denen ihre Eltern groß geworden sind – Klassenkampf, Revolution und ideologischer Richtungsstreit –, sind für sie Begriffe aus längst vergangenen Zeiten.

Der Führungsanspruch der Kommunistischen Partei bleibt vorerst unangetastet, gefordert werden jedoch weniger Administration und mehr soziales Engagement für die Bürger. Sie sollen mitreden können bei Entscheidungen, die ihre unmittelbaren Lebens- und Arbeitsbedingungen betreffen. Demokratie ganz konkret auf unterer Ebene, um mehr Effiizienz, mehr Transparenz in die staatlichen Abläufe zu bringen, aber auch, um die Macht einzelner Funktionäre einzuschränken und zu kontrollieren. Dafür braucht das Land kluge Köpfe, erfahren in lokaler und zentraler Verwaltung und Leitung – und politisch integer. Die sachliche (»wissenschaftliche«) Herangehensweise wird neue Räume für die wachsende Mittelschicht und den politisch interessierten Bürger schaffen.

Zur Legitimation ihrer Politik beruft sich die Parteiführung wieder auf den Marxismus, der indes ganz praktisch auf die Anforderungen angewandt werden soll, die sich aus der Entwicklung zu einer Großmacht ergeben. Er fungiert ebenso als Rettungs- wie als Integrationsideologie. Wie seine Vorgänger übersetzt Hu Jintao den Marxismus in sein theoretisches Konzept vom »wissenschaftlichen Entwicklungsgedanken«. Diese »neue Theorie« bietet der Führung ausreichend Spielraum für politisches Agieren und ständige pragmatische Kurskorrekturen. Mit einem auf die chinesische Realität angewandten Marxismus kann der Wille zur Fortführung von Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie zur weiteren Öffnung des Landes sowohl gegen Reformkritiker im Inneren verteidigt als auch vom westlichen Demokratiemodell abgegrenzt werden.

Einig weiß sich die Führung in Peking mit vielen Chinesen in dem Bestreben, traditionelle Werte und Tugenden zu bewahren oder neu zu beleben. Über Jahrhunderte wurde die chinesische Entwicklung wesentlich durch die starken Familienbande geprägt. Die auf den ersten Blick kaum wahrnehmbaren verwandtschaftlichen Beziehungen überziehen das gesamte Land wie ein Spinnennetz, dessen Fäden sich durch alle Klassen und sozialen Schichten der Gesellschaft ziehen. In der hierarchisch aufgebauten Familie sind Platz und Funktion aller Mitglieder klar definiert. So wie der Einzelne sich einzufügen hat in die vorgebenen Strukturen, so übernimmt er »freiwillig« seine Pflichten innerhalb des Familienverbands. Nur dann kann er »Rechte« auf Schutz und Unterstützung durch die Familie geltend machen. Der in Jahrhunderten gewachsene Kreislauf innerhalb der Familie, dem man sich nur schwer entziehen kann, ist auch für junge Chinesen Schutz und Last zugleich.

* Aus: Neues Deutschland, 26. Oktober 2007


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