Gesteuerte Urbanisierung
Unruhen und Proteste in China entzünden sich derzeit meist an Wohnungsbauten und Immobilienpreisen
Von Ralf Klingsieck, Zhangjiagang *
Für die chinesische Führung ist
Wohneigentum sozial und marktfördernd.
Doch der Staat versucht,
den Drang der Landbevölkerung in
die Millionenstädte zu begrenzen.
In Peking, Shanghai und anderen chinesischen
Megastädten mit Einwohnerzahlen
in zweistelliger Millionenhöhe
beherrschen Hochhäuser
das Stadtbild. Und auch Kommunen
mit »nur« ein bis zwei Millionen Bewohnern
wollen nicht nachstehen.
Das gilt etwa für die »Modellstadt«
Zhangjiagang, die sich in nur zehn
Jahren vom Dorf zu einer Hafen- und
Industriestadt mit 1,2 Millionen Einwohnern
entwickelt hat. Hier streben
bis zu 35-stöckige Hochhäuser oft
gleich im Dutzend in den Himmel. Die
atemberaubende Höhe dieser Bauten
resultiert zweifellos aus dem Bestreben,
durch die Urbanisierung nicht zu
viel von dem in China relativ knappen
Ackerboden zu verlieren.
Fährt man mit dem Hochgeschwindigkeitszug
von Peking nach Shanghai, dann sieht man unzählige
solcher Hochhaussiedlungen oder
Baustellen – manche dicht an der
Strecke gelegen, andere in einiger
Entfernung oder am Horizont zu erkennen.
Kaum ist eine aus dem Blickfeld
verschwunden, taucht schon die
nächste auf. Der Drang der nach wie
vor unter kargen Bedingungen lebenden
Landbevölkerung in die Städte
mit ihren besseren Verdienstmöglichkeiten
ist groß.
Die fortschreitende Urbanisierung
ist durchaus gewollt, denn sie ist im
Interesse der wirtschaftlichen Entwicklung,
doch der Staat will sie unter
Kontrolle halten. Gleichzeitig fördert
er den Erwerb von Eigentumswohnungen
durch die Vergabe günstiger
Kredite. Das Thema Wohnungskauf
bewegt jeden Mittelschicht-
Chinesen. Man staunt immer
wieder über die Quadratmeterpreise,
die chinesische Begleiter für die einzelnen
Viertel der Großstädte, durch
die man gerade fährt, aus dem Kopf
aufsagen können. In Peking können
das beispielsweise je nach Bauzustand,
Image und Lebensqualität des
jeweiligen Viertels 30 000, 40 000
oder gar 50 000 Yuan (3500, 4700,
5900 Euro) sein. In einer kleineren
oder mittleren Millionenstadt in der
Provinz schwanken die Quadratmeterpreise
zwischen 5000 und 15 000
Yuan.
Doch oft wird hinter vorgehaltener
Hand auch die Besorgnis über die
vielen leerstehenden Wohnungen,
Häuser und gar Neubausiedlungen
ausgedrückt oder über Baustellen, auf
denen seit Monaten nicht weitergebaut
wird. Das zeugt von einer Krise
auf dem Immobilienmarkt, auf dem
die Werte und Preise allmählich bröckeln.
In den ersten drei Monaten des
laufenden Jahres lagen die Transaktionen
im Schnitt um 26 Prozent
niedriger als im gleichen Vorjahreszeitraum
und im April sogar um 29
Prozent, wie die Agentur Centaline
feststellt, die von Hongkong aus laufend
den Immobilienmarkt von rund
40 chinesischen Großstädten analysiert.
Als deutliches Zeichen für die Krise
wertet die Agentur beispielsweise,
dass der Milliardär Li Ka-Shing Anfang
April den von ihm erbauten
Wohnhauskomplex Pacific Century in
Peking für umgerechnet 670 Millionen
Euro verkauft hat – das war 30
Prozent weniger, als er dafür ursprünglich
haben wollte. Dieser
Wertverlust hängt zweifellos mit dem
sich verlangsamenden Wirtschaftswachstum
Chinas zusammen, das in
den letzten drei Jahren drei Prozentpunkte
verloren hat. Wobei man
von den 7,4 Prozent, die für das erste
Quartal ausgewiesen wurden, beispielsweise
in Europa nur träumen kann. »Während die Nachfrage zurückgegangen
ist, drängt das Angebot immer neuer Immobilien nahezu
ungebremst auf den Markt«, schätzt
Jie Chen, Professor an der Wirtschafts-
und Finanzuniversität
Shanghai, ein. »Es gibt ein Überangebot,
denn die Käufer zögern, weil
ihnen das Vertrauen in die Zukunft
fehlt. Trotzdem bleiben die Preise nur
zu oft hoch«, meint der Wohnungsbauexperte
und urteilt: »Der Markt
muss sich den neuen Gegebenheiten
anpassen.«
Vielerorts geschieht das schon. Abgesehen
von den »Big Four« Peking,
Shanghai, Kanton und Shenzhen, wo
die Preise meist hoch bleiben, weil
man jedes Jahr mit mehreren hunderttausend
»Neubürgern« aus der
besserverdienenden Mittelklasse
rechnen kann, haben die Immobilienpreise
in den mittleren und kleineren
Städten schon mehr oder weniger
stark nachgegeben. So wird aus
Changzhou berichtet, dass dort die
Quadratmeterpreise in den letzten
Monaten um ein Viertel auf 5000 Yuan
(590 Euro) gesenkt werden mussten,
weil sich sonst überhaupt keine
Käufer mehr gefunden hätten. Das hat
den Zorn derer entfacht, die wenige
Monate zuvor noch den hohen Preis
gezahlt haben. Immer wieder kommt
es daher zu Demonstrationen und zur
Besetzung des Verkaufsbüros, wo das
Modell der Neubausiedlung schon arg
ramponiert ist. »Wir wollen unser
schwer verdientes Geld zurück«, fordern
sie auf Transparenten.
Xue Jianxiong, Immobilienmarktexperte
bei der China Real Estate Information
Corporation (CRIC),
schätzt ein, dass viele mittlere und
kleinere Millionenstädte wie Changzhou
ihren Immobilienbedarf auf
Jahre im voraus gedeckt haben. Der
Grund liege zumeist im übertriebenen
Ehrgeiz der Stadtregierungen, die
etwa ein Drittel ihrer Einnahmen aus
dem Verkauf von Baugrund an die
Immobiliengesellschaften und von
anderen Leistungen für diese erzielen.
Darum greifen sie oft mehr Projekte
auf, als sinnvoll wäre.
Nur zu oft ist dabei aber auch Korruption
im Spiel. Bisweilen werden
Menschen, die auf dem als Bauland
ausgewiesenen Gelände wohnen, am
Rande der Legalität, mit Gewalt oder
mit empörend niedrigen Abfindungen
vertrieben. Das ist heute die Ursache
für die meisten Unruhen und
Protestaktionen in China.
Dabei könnten sich die Städte andere
Einnahmen verschaffen, indem
sie beispielsweise Grundstücke, Häuser,
Eigentumswohnungen und Büros
mit einer jährlichen Steuer belegen.
Doch dafür fehlt es zumeist an
einem aussagekräftigen Kataster, für
das es bislang keine einheitlichen Kriterien
und gesetzlichen Grundlagen
gibt.
Vor allem ausländische Beobachter
sprechen angesichts dieser Entwicklung
von einer »Immobilienblase
«, die früher oder später zu platzen
droht. Im Lande selbst sieht man das
gelassener. »Die Regierung ist in
höchstem Maße an Stabilität interessiert,
und wenn sie auch nicht
komplett den Markt kontrolliert, so
hat sie doch genug Hebel, um die
Nachfrage anzukurbeln«, schätzt Liu
Yuan, wissenschaftlicher Mitarbeiter
bei der Agentur Centaline in Hongkong,
ein. Da fast alle Banken des
Landes ganz oder teilweise dem Staat
gehören, kann dieser großzügig Kredite
an Wohnungskäufer vergeben
lassen.
Vor allem jedoch kann er die Urbanisierung
durch das Hukou-System
steuern – von dieser offiziellen
Wohnsitzregistrierung und -kontrolle,
mit Hilfe derer massenhafte Umsiedlungen
verhindert werden sollen,
hängt nicht zuletzt der Zugang zu den
öffentlichen Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen
ab. Dieses noch aus der Mao-Zeit stammende
Zwangssystem zur Bevölkerungskontrolle,
das viele Chinesen als ungerecht
empfinden, soll reformiert
werden, hat Xi Jinping, der amtierende
Staatspräsident und Generalsekretär
der Kommunistischen Partei,
im vergangenen November angekündigt.
In einzelnen Städten wird
diese Reform schon seit einiger Zeit
getestet. So hat die Zwei-Millionen-
Stadt Wuxi Ende April angekündigt,
dass ab sofort der Kauf einer 60
Quadratmeter-Wohnung reicht, um
das ständige Bürgerrecht und das begehrte
Hukou-Familienregister zu erwerben.
Bislang war dafür eine Wohnung
von 70 Quadratmetern und vor
2012 sogar von 100 Quadratmetern
nötig.
»Die Regierung in Peking verfolgt
die landesweite Entwicklung auf dem
Immobilienmarkt sehr aufmerksam
und lässt einen graduellen und maßvollen
Preisverfall zu, schon um den
hier tätigen Unternehmern die Risiken
deutlich zu machen«, ist Liu Yuan
überzeugt. »Doch wenn die Entwicklung
aus dem Ruder zu laufen
droht, reagieren die Behörden schnell
und effizient mit Maßnahmen bei der
Kreditvergabe. Dafür ist diese Branche
zu wichtig – sie erwirtschaftet
nämlich direkt 16 Prozent des Bruttosozialproduktes
Chinas und indirekt
noch viel mehr.«
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 4. Juni 2014
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