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Weniger kann mehr sein

Sieben Prozent plus: Chinas Regierungschef bestätigt Wachstumsziel. Wirtschaft einer der Schwerpunkte im Rechenschaftsbericht vor Volkskongress

Von Wolfgang Pomrehn *

In Chinas Hauptstadt Peking wurde am Donnerstag die jährliche Sitzung des Nationalen Volkskongresses eröffnet. Zum Auftakt legte Ministerpräsident Li Keqiang den knapp 3.000 Delegierten des Parlaments den Rechenschaftsbericht seiner Regierung vor. In dem nahm die Wirtschaftspolitik einen breiten Raum ein. Demnach sei in diesem Jahr mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von sieben Prozent zu rechnen, nach 7,4 Prozent im letzten Jahr. Das wäre die niedrigste Zuwachsrate des BIP seit der Krise Anfang der 1990er Jahre. Einige westliche Beobachter bezeichneten das in ersten Meldung als eine »düstere Ankündigung«. Die Nachrichtenagentur dpa schrieb zum Beispiel von »Konjunkturschwäche« - bei sieben Prozent Wachstum.

Die chinesische Führung hat dazu ein etwas anderes Verhältnis. Schon im Mai 2014 hat KP-Chef Xi Jinping, der zugleich Staatspräsident ist, die Öffentlichkeit auf die »neue Norm« eines langsameren Wachstums eingestimmt. Die Volkswirtschaft des Landes hat inzwischen etwa den Umfang der US-Ökonomie. Würde sie jährlich weiter um zehn oder noch mehr Prozent wachsen (wie es im letzten Jahrzehnt oftmals der Fall war), dann würde das in absoluten Mengen einen viel größeren Zuwachs der Stoff- und Warenströme bedeuten als noch vor zehn Jahren. Die Infrastruktur hätte größte Probleme, weitere Fehlentwicklungen und Blasenbildung in dem einen oder anderen Sektor wären die fast zwangsläufige Folge.

Das heißt nicht, dass die Verlangsamung völlig unproblematisch wäre. Unter anderem hatte die außergewöhnlich rasche Expansion seit Mitte der 1990er Jahre dafür gesorgt, die Arbeitslosigkeit in den Städten niedrig und damit die soziale Unzufriedenheit in Grenzen zu halten. Ganz oben auf der Liste der Ankündigungen der Regierungen für das kommende Haushaltsjahr steht daher die Schaffung von zehn Millionen neuen Arbeitsplätzen in den Städten. Die Erwerbslosenquote dort soll 4,5 Prozent nicht übersteigen. Letzteres ist allerdings noch eine vergleichsweise leichte Übung. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt noch immer auf dem Land oder ist dort zumindest registriert. Das System der chinesischen Haushaltserfassung sorgt dafür, dass die allermeisten der rund 200 Millionen sogenannten Wanderarbeiter nicht als Stadtbewohner gelten und deshalb auch keinen Zugang zur Unterstützung für Arbeitslose haben.

Ansonsten sieht die Regierung offensichtlich keine Veranlassung, größere Summen in die Hand zu nehmen, um der Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen. Das Etatdefizit der Zentralregierung wird nur moderat von 2,1 auf 2,3 Prozent des BIP gesteigert. Allerdings will die Regierung offenbar mehr privates Kapital für die Wirtschaft und für den Ausbau der Infrastruktur mobilisieren. Die Delegierten werden das gerne hören. Nach einem aktuellen Bericht der Wirtschaftszeitung China Economic Review sitzen im Volkskongress und in der zeitgleich tagenden Beratenden Versammlung des Chinesischen Volkes 203 Abgeordnete, deren Namen auf der Liste der 1.271 reichsten Chinesen zu finden sind. Diese 203 Personen würden ein Vermögen von umgerechnet 419 Milliarden Euro auf sich vereinen.

Unter anderem ist geplant, die Gründung kleiner und mittlerer Banken zu fördern. Private Investitionen und Kapitalfonds sollen erleichtert und die Zahl der Branchen halbiert werden, in denen es Beschränkungen für ausländische Investoren gibt. Diese kommen zumeist nicht aus den USA oder Europa, sondern aus Hongkong, Taiwan oder von der großen chinesischen Diaspora in Südostasien. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die Zusammenarbeit der Börsen in Hongkong und seiner Nachbarstadt Shenzhen erheblich enger werden soll.

Auch das von hiesigen Globalisierungskritikern und Gegnern neoliberaler Lehren aus gutem Grund bekämpfte Konzept der Öffentlich-privaten Partnerschaft (PPP, Public Private Partnership) wird nun in China verfolgt. Li kündigte an, dass entsprechende Projekte für die Entwicklung der Infrastruktur aktiv geförderte werden sollen. Im Bereich des Eisenbahnbaus ist davon bereits seit längerem die Rede. Bisher war das ehrgeizige Ausbauprogramm von einem eigenen Bahnministerium gesteuert worden, das jedoch nach mehreren schweren Unfällen und Korruptionsvorwürfen vor einem Jahr aufgelöst wurde. Seitdem wird nach Wegen gesucht, Privatkapital zu beteiligen.

Der Investitionsbedarf ist riesig. Allein in diesem Jahr werden voraussichtlich 115 Milliarden Euro fließen und 8.000 Kilometer neuer Strecke fertiggestellt. Unter anderem versprach Li, dass der Ausbau der Verbindungen in die Nachbarländer beschleunigt werden soll. Zu den Lieblingsprojekten der chinesischen Führung gehört im In- und Ausland der Ausbau von Hochgeschwindigkeitsstrecken, unter anderem durch Kasachstan bis in den russischen Westen und weiter nach Zentraleuropa. Doch dieses Vorhaben ist noch in einem frühen Verhandlungsstadium, wenn auch schon etwas konkreter als ein anderes Projekt: Chinesische Ingenieure rühren seit einiger Zeit die Werbetrommel für einen Eisenbahntunnel zwischen Sibirien und Alaska. Mit Hilfe dieser Meeresunterquerung sollen nach ihren Vorstellungen dereinst Hochgeschwindigkeitszüge Personen und Fracht aus Chinas Norden bis in den US-Bundesstaat Kalifornien befördern.

* Aus: junge Welt, Freitag, 6. März 2015


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