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"Wir schlagen einen radikalen Wandel des Systems vor"

Laura Chinchilla über die Folgen des Freihandels für Costa Rica und notwendige Alternativen


Laura Chinchilla ist Aktivistin der Linkspartei Frente Amplio in Costa Rica. Die Journalistin ist derzeit Mitarbeiterin des einzigen Abgeordneten dieser Partei, José Maria Villalta, im Parlament des mittelamerikanischen Landes. Costa Rica hat gemeinsam mit seinen mittelamerikanischen Nachbarstaaten sowohl mit den USA als auch der EU Freihandelsabkommen unterzeichnet. Über die Konsequenzen und Alternativen sprach mit ihr für das "Neue Deutschjland" (ND) Harald Neuber.

ND: Frau Chinchilla, Sie engagieren sich in Ihrem Land in der Kampagne gegen Freihandelsabkommen mit den USA und der Europäischen Union. Erklären Sie uns kurz, was Sie an diesen Verträgen zu beanstanden haben?

Chinchilla: Nach Darstellung der meisten Regierungen Zentralamerikas sollen diese Verträge die Grenzen öffnen und den Warenverkehr erleichtern. Tatsache aber ist, dass diese Abkommen der Privatisierung der öffentlichen Dienste Tür und Tor öffnen. Costa Rica hat in dieser Hinsicht immer eine Sonderstellung eingenommen und deswegen viel zu verlieren. Es gab bei uns immer einen allgemeinen Zugang zu Gesundheits- und Bildungswesen, die Elektrizitätsversorgung war stets staatlich, Strom erschwinglich

Und das soll sich nun ändern?

Ja, wir haben bei der Lektüre der Verträge gemerkt, dass es im Grunde um weitreichende Privatisierungen geht. Zusammen mit sozialen Bewegungen wurde daraufhin eine Aufklärungskampagne organisiert. Das Ergebnis: Das Freihandelsabkommen der USA mit Zentralamerika (CAFTA) wurde in Costa Rica 2007 erst nach fünfjähriger Debatte verabschiedet – und dabei auch nur knapp. In den Nachbarstaaten wurden diese zweifelhaften Verträge quasi über Nacht durchgewinkt.

Was bedeutet Freihandel für Ihr Land konkret?

Die Privatisierung der Stromversorgung und der Sozialversicherungen – und damit ein Anstieg der Kosten für diese Dienstleistungen. Die Grenzen wurden tatsächlich geöffnet, allerdings nur für die transnationalen Unternehmen. In Costa Rica gab es zum Beispiel ein Moratorium für den Goldabbau, der Mensch und Natur erheblich schädigt. Im Norden des Landes dauerte ein Konflikt mit dem kanadischen Unternehmen Vanessa Ventures seit 17 Jahren an. Nach der Unterzeichnung der Verträge änderte sich der Ton rapide. Wenn der Goldabbau verboten werde, würde man den costaricanischen Staat verklagen, hieß es auf einmal.

Das Abkommen wurde nach langer Debatte 2007 dennoch angenommen. Weil die großen Medienunternehmen eine massive Kampagne gestartet und Millionenmittel in die Waagschale geworfen haben. Auf der Seite der sozialen Bewegungen hatten wir diese Fonds nicht.

Was hat es also alles gebracht?

Die Menschen haben gesehen, was sie erreichen können. Trotz der massiven Kampagne der großen Medien und Konzerne hat es eine fünfjährige Kampagne und ein knappes Ergebnis gegeben. Immerhin 48 Prozent der Menschen sprachen sich am Ende gegen das Abkommen mit den USA aus. Das hat übrigens auch in den etablierten Medien zu einem Umdenken geführt. Im Konflikt mit dem erwähnten kanadischen Bergbauunternehmen im Norden von Costa Rica wurde mehr über die Folgen des Goldabbaus berichtet. Die Konsequenz: 80 Prozent der Bevölkerung wenden sich in Umfragen inzwischen dagegen. Es gibt immer noch wenig Information, aber viel neues politisches Bewusstsein.

Welche Rolle spielen die Basisbewegungen dabei?

Der Erfolg der Frente Amplio hängt maßgeblich von ihnen ab. Der Abgeordnete José María Villalta ist von ihnen direkt ins Parlament gewählt worden. Dennoch ist die Distanz zwischen den Basisbewegungen und den Parteien groß. Wir versuchen das mit der Frente Amplio zu ändern. Das ist aber ein langwieriger Prozess.

Sie waren im Oktober in Berlin auf einem Kongress der Rosa-Luxemburg-Stiftung über Alternativen zur neoliberalen Globalisierung. Welche Möglichkeiten der Kooperation sehen Sie zwischen Ländern des Südens und den Industriestaaten?

Es gibt in Europa ein großes Interesse an der Entwicklung in Lateinamerika. Aber auch auf der Linken unterscheiden sich die Konzepte erheblich. Bei der Konferenz in Berlin wurde über Alternativen zur Energiewirtschaft auf Basis des Erdöls diskutiert. Das sind für uns in Costa Rica theoretische Debatten, mit denen wir nichts anfangen können. Uns geht es dabei nicht um mögliche Entwicklungen in der Zukunft, sondern um die konkrete Frage, wer diese wirtschaftlichen Mittel kontrolliert. Welche Möglichkeiten haben die Basisbewegungen, etwa auf kommunaler Ebene Alternativen zu entwickeln. Diese Fragen stellen sich bei uns in Lateinamerika, weil wir keinen Spielraum haben. Wir haben nichts mehr zu verlieren. Wir leben in einem System, das nicht mehr aufrechterhalten werden kann und das nur den Industriestaaten Profit bringt. Wenn bei uns eine Ananas reift, wird sie exportiert. Wenn Gold gefördert wird, ist es für das Ausland bestimmt. Wenn Wasser aus dem Boden gepumpt wird, dient es der Begrünung der Golfplätze für Touristen. Das ist unsere Realität. Und deswegen schlagen wir einen radikalen Wandel des Systems vor.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Dezember 2010


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