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Fatale Folgen eines Arztbesuches

Flüchtlinge werden in Deutschland nur in Notfällen versorgt, Illegale erhalten oft keine Behandlung

Von Christian Klemm *

Für Asylbewerber ist die Behandlung im Krankheitsfall nur im Notfall möglich, für illegalisierte Migranten kann ein Krankenhausbesuch zur Abschiebung führen. Ein unhaltbarer Zustand, meint eine Berliner Initiative. Sie vermittelt Ärzte an Flüchtlinge ohne Krankenkassenkarte.

Mehrere Punks stehen vor der Tür und versperren den Eingang. Sie sind in Ohren und Mundwinkel gepierct, mit schwarzen Kapuzenpullovern und zerrissenen Jeans gekleidet, tragen Schirmmützen und rauchen selbstgedrehte Zigaretten. Das Büro für medizinische Flüchtlingshilfe Berlin (kurz: Medibüro) ist für nicht Ortskundige schwer zu finden. Es ist im Mehringhof des Berliner Stadtbezirks Kreuzberg beheimatet, etwas versteckt im zweiten Stock. Daneben hat sich eine Anwaltskanzlei niedergelassen, vor deren Tür ein Klient wartet.

Burkhard Bartholeme kommt leicht verspätet. Der Anästhesist ist im Medibüro aktiv. Die 1996 in der Hauptstadt gegründete Einrichtung vermittelt Asylbewerbern eine Krankenversorgung, die ihnen oft vom deutschen Gesetzgeber vorenthalten wird. Denn die Krankenversorgung der Flüchtlinge wird bundesweit durch das Asylbewerberleistungsgesetz geregelt. Und das sieht eine Behandlung nur im Notfall vor. »Zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände«, wie es in Paragraf 4 nachzulesen ist. Nach vier Jahren Notbetreuung bekommen die Flüchtlinge eine Krankenversicherungskarte und erhalten die gleichen medizinischen Leistungen wie ein Hartz-IV-Betroffener.

Im vergangenen August 2011 ging das Medibüro mit einem Spendenaufruf an die Öffentlichkeit. Man stehe vor der Pleite, hieß es darin. »Es gab zwei bis drei Wochen eine Vermittlungspause«, berichtet Bartholeme, nachdem er in dem staubigen Raum für etwas Durchzug gesorgt und sich auf einem Stuhl niedergelassen hat. Die finanziellen Aufwendungen drohten das Medibüro aufzufressen: So werden Laborkosten, Medikamente, Brillen, Abtreibungen und stationäre Behandlungen für mittellose Flüchtlinge von dem Büro bezahlt. Anfallende Kosten werden aus Spenden refinanziert. Der Engpass konnte aber recht bald mit Spendengelder wieder ausgeglichen werden, gibt der Arzt Auskunft.

Eine Million Illegale in Deutschland

Aufgesucht wird das Büro von Flüchtlingen aus aller Welt; 2009 kamen ein Drittel der etwa 900 vom Medibüro Vermittelten aus den neuen EU-Staaten Osteuropas. Diese halten sich zwar in der Regel legal in Deutschland auf, sind oftmals aber weder in ihren Herkunftsländern noch in der Bundesrepublik krankenversichert.

Immer mal wieder gehen Meldungen durch die Presse, dass Flüchtlinge nur notdürftig medizinisch versorgt werden. Im Sommer des vergangenen Jahres wurde zum Beispiel bekannt, dass Schutzsuchende in Thüringen beim Zahnarzt nicht anständig versorgt und Zähne vorzugsweise gezogen werden. Eine SPD-Anfrage an den Erfurter Landtag ergab damals, dass in manchen Landkreisen mehr als die Hälfte der behandelten Zähne gezogen wurden. Aus Kostengründen, wie Beobachter im Freistaat mutmaßten.

Dabei hat der Staat eine Pflicht, Menschen - egal welcher Herkunft - ärztlich zu versorgen. Das jedenfalls meint Alex, der eigentlich anders heißt. Er kommt gebürtig aus Kamerun und sieht mit seiner Brille ein wenig so aus wie Melcom X, der schwarze Bürgerrechtler aus den USA. Vor Jahren kam Alex in die Bundesrepublik, stritt sich lange mit den Behörden über Bleiberecht und Staatsangehörigkeit und kann heute einen deutschen Personalausweis sein Eigen nennen. Kurze Antworten sind ihm fremd, bevor er etwas sagt, überlegt er lange, holt zum Teil weit aus, um sich verständlich zu machen.

Er ist ein fröhlicher Mensch, lacht und scherzt viel. Doch immer wieder wird er schlagartig ernst. Angst hätten viele Flüchtlinge vor Ärzten, deren Sprache sie oft nicht verstehen, weiß Alex zu berichten, der sich für Schutzsuchende in Deutschland stark macht. Er kennt die Probleme von Asylbewerbern, die dringend einen Arzt benötigen, beurteilt die Dinge aus einer Betroffenen-Perspektive. »Es gibt oft kein Vertauen zwischen Arzt und Patient«, sagt er. Viele Flüchtlinge glaubten, dass Behörden und Ärzte unter einer Decke stecken, sich in irgendeiner Form austauschen.

Theoretisch haben auch Migranten ohne legalen Aufenthaltsstatus ein Recht auf ärztliche Versorgung. Schätzungen zufolge leben bis zu einer Million Illegale in der Bundesrepublik. Sie sind nicht bei den Einwohnermeldeämtern registriert, verhalten sich so unauffällig wie möglich, kaufen immer schön eine Fahrkarte, bevor sie in die U-Bahn einsteigen und schlagen sich mit ihren Familien mit irgendwelchen Behelfsjobs durch. Durch den sogenannten Denunziationsparagrafen (Paragraf 87) im Aufenthaltsgesetz ist das Recht auf Versorgung praktisch aufgehoben. Danach sind öffentliche Stellen bei Bekanntwerden eines illegalen Aufenthaltsstatus dazu verpflichtet, Daten an die Ausländerbehörden weiterzugeben. Geht ein Illegaler beispielsweise in eine Arztpraxis, ist das Sozialamt, das die Kosten für die Behandlung übernimmt, dazu aufgefordert, den irregulären Aufenthalt des Flüchtlings zu melden. Das kann für den Schutzsuchenden eine Ausreiseaufforderung oder die Abschiebung zur Folge haben. Aus Angst vor den Konsequenzen gehen viele Migranten ohne legalen Aufenthaltstitel deshalb nicht zum Arzt.

Das Medibüro will diese Praxis umgehen und hat dazu einen »pragmatischen Vorschlag« (Bartholome) gemacht. Mit einem »anonymen Krankenschein« soll die Datenübermittlung an die Ausländerbehörden übergangen werden. Durch ihn könnten sich Schutzsuchende von jedem Arzt behandeln lassen, ohne fürchten zu müssen, dass eine Woche später die Polizei vor der Haustür steht und sie ihn ein Flugzeug gen Heimat setzt. Der rot-rote Senat in der Hauptstadt zeigte sich in dieser Angelegenheit bockig. Zwar wurde im März 2010 ein »Runder Tisch Flüchtlingsmedizin« ins Leben gerufen, an dem auch Vertreter des Medibüros saßen. Viel mehr aber war nicht. Und unter dem neuen schwarz-roten Senat wird das auch so bleiben, denn in den Koalitionsvereinbarungen heißt es klipp und klar: »Den vielfach als Alternative geforderten anonymen Krankenschein lehnen wir ab.« Prüfen will der Senat stattdessen »ein an der bayerischen Praxis (›Münchener Modell‹) orientiertes Beratungsangebot«.

Enge Zusammenarbeit mit den Behörden

Das sogenannte Münchener Modell gilt als eine Alternative zum »anonymen Krankenschein«. In der bayerischen Landeshauptstadt arbeitet die Stadtverwaltung eng mit den Initiativen zusammen, die sich für illegale Migranten engagieren. Das sind die Malteser Migranten Medizin und das »Cafe 104«. Die Initiativen können sich von den Behörden beraten lassen, ohne dabei den Namen eines Illegalen nennen zu müssen, erklärt Birgit Poppert vom »Cafe 104« gegenüber »nd«. Außerdem hat die Stadt einen Fonds aufgelegt, der dann greift, wenn für eine medizinische Behandlung niemand die Kosten übernimmt. Ziel der Münchener Initiativen ist es, Migranten aus der Illegalität zu holen. »Menschen müssen aus dem rechtsfreien Raum raus«, sagt Poppert. Gelingt das, erhalten sie zum Beispiel eine Duldung, steht ihnen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz auch eine Krankenbehandlung zu.

Bei Bartholome klingelt das Telefon. Er hört einen Moment zu, wimmelt den Anrufer dann aber freundlich ab. »Eigentlich Arbeiten wir auf unsere eigene Abschaffung hin«, meint er. Gewährleiste der Senat die ärztliche Versorgung der Flüchtlinge, wäre das Medibüro überflüssig. Doch dazu wird es in Berlin wohl so schnell nicht kommen. Und so werden Bartholome und seine Mitstreiter weiter im Mehringhof ausharren und geduldig auf den nächsten Flüchtling warten, der ihre Hilfe benötigt.

* Aus: neues deutschland, 24. März 2012


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