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"Ein großer Tag für Anhänger des starken Staates"

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stärkt den Kanzler und verschiebt die Koordinaten des politische Systems - Pressekommentare

Am 25. entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die vom Bundeskanzler beantragte Auflösung des Bundestags und das Ansetzen von Neuwahlen nach Art. 68 GG rechtens sei. (Siehe unsere Dokumentation des Urteils.)
Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus Kommentaren, die am 26. August in der deutschen und ausländischen Presse zahlreich erschienen.



"Attrappe" ist der Kommentar von Reinhard Müller in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" überschrieben. Gemeint ist damit die im Bundestag vom Kanzler gestellte, oder besser: fingierte "Vertrauensfrage". Das Verfassungsgericht habe mit seinem Urteil dazu beigetragen, die Vertrauensfrage nur noch weiter zu verwässern, eben zur "Attrappe" zu machen. Gestärkt worden sei die "Kanzlerdemokratie mit eingebautem Plebiszit".

(...) Die Karlsruher Richter können nicht Beweis darüber erheben, wer wann wem ver- oder mißtraut hat. In manch anderen Rechtsstaaten würde ein Verfassungsgericht über ein solch politisches Wechselspiel gar nicht entscheiden. Doch gibt es im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland nun einmal das Instrument der Vertrauensfrage, das aus bestimmten verfassungshistorischen Gründen geschaffen wurde und gegen dessen zweckwidrige Verwendung Karlsruhe angerufen werden kann.
Allerdings hat sich das Bundesverfassungsgericht nun - anders, als man es von ihm gewohnt ist - seiner Überwachungsaufgabe entledigt. Die Plausibilitäts- und Mißbrauchskontrolle, die sich das Gericht angeblich noch vorbehält, ist eine Beleidigung für das Geschick eines jeden Bundeskanzlers. Da wäre es ehrlicher, die Vertrauensfrage rein formal zu sehen, wie das die Richterin Lübbe-Wolff vorschlägt. (...)
Jedenfalls hat der Bundeskanzler nun ein hervorragendes Instrument an die Hand bekommen, mit dem er nach Belieben die Flucht nach vorn antreten und die Legislaturperiode verkürzen kann. Der Karlsruher Hinweis, daß es ja noch der Bundestag und der Bundespräsident in der Hand hätten, die Auflösung „nach ihrer freien politischen Einschätzung zu verhindern”, ist lehrbuchhaft weltfremd. Der Wirklichkeit in der Parteiendemokratie, deren Gewalten miteinander verschränkt sind, wird er nicht gerecht. (...)
(...)
Das Gericht wollte mit seiner zurückhaltenden Überprüfung eine „Beschädigung des politischen Handlungssystems” verhindern. Es hat dessen Koordinaten weiter verschoben. Was bleibt, ist die Attrappe einer Vertrauensfrage.

Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. August 2005


"Ein Gericht steht Spalier", lautet der Kommentar in der Süddeutschen Zeitung". Kein geringerer als Heribert Prantl kritisiert, dass die "höchsten Richter" den Kanzler "erhöht" hätten, indem sie ihm einen "großen Entscheidungsspielraum zuerkannt" un ein "sehr weites, rechtlich kaum überprüfbares Kanzler-Ermessen akzeptiert" haben. Dessen Stellung im Verfassungsgefüge werde gestärkt, die des Parlaments geschwächt. Prantl sarkastisch: "Willkommen in der Kanzlerdemokratie".

(...) Der Kanzler bestimmt künftig nicht nur die Richtlinien der Politik, er bestimmt auch, ob das Parlament vorzeitig aufgelöst werden soll. (...) Das deutsche Regierungssystem rückt damit auf der Skala, auf deren einen Seite die Parlamentsdemokratie und auf deren anderen Seite die Kanzlerdemokratie steht, ein großes Stück hin zu letzterer.
(...)
Das gestrige Urteil wird Geschichte machen, weil es einem autokratischen Regierungsstil den verfassungsrechtlichen Segen gibt. Aber die professoral-joviale Könnerschaft des Senatsvorsitzenden Winfried Hassemer bei der Urteilsverkündung kann darüber nicht hinwegtäuschen, dass dieses Urteil ziemlich lausig begründet ist.
Die Richter, die das Mehrheitsvotum für die vorzeitige Neuwahl tragen, wissen nicht so recht, ob sie sich vom diffusen Präzendenz-Urteil aus dem Jahr 1983 lösen sollen oder nicht. Die Argumentation mäandert; wirklich klar ist nur das Ergebnis, das vorzeitige Neuwahlen künftig leichter macht – so leicht, dass es sich eigentlich erübrigt, ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages in die Verfassung zu schreiben. Das Gericht hat dieses Selbstauflösungsrecht quasi stillschweigend zugestanden.
So sehen Urteile aus, bei denen zuerst das Ergebnis festgelegt und dann die Begründung gesucht wird. Die Richter haben es letztlich nicht anders gemacht als Kanzler Schröder: Der wollte partout Neuwahlen haben; und nachdem er sie am 22. Mai ausgerufen hatte, hat er nach einem halbwegs plausiblen Weg dahin gesucht und sich schließlich bei den Regierungsfraktionen das Misstrauen bestellt.
(...)
Für Anhänger eines starken Staates, die dessen Stärke an der Stellung des Regierungschefs messen, war gestern ein großer Tag. Anhänger eines Staats aber, die dessen Stärke an der Lebendigkeit der Parlamentsdemokratie messen, haben keinen Grund zur Freude.

Aus: Süddeutsche Zeitung, 26. August 2005


Es folgt ein Kommentar aus der "Frankfurter Rundschau": Astrid Hölscher schlägt in dieselbe Kerbe und kritisiert am Karlsruher Urteil den politischen Opportunismus der Richter, die sich sozusagen der "Macht des Faktischen" gebeugt hätten. Künftig könne alles noch mehr "nach Kanzlers Ermessen" (so die Überschrift des Kommentars) laufen. Weiter heißt es:

(...) Dennoch bleibt Unbehagen. Der Zweite Senat hat sich ja nicht damit begnügt, das Urteil von 1983 zu bestätigen, auf das Kanzler und Präsident sich ausdrücklich berufen haben. "Wir formulieren selbstbewusster", benennt Richter Winfried Hassemer den Unterschied. Und seine Zuhörer erleben eine Grundgesetzänderung durch Interpretation.
Was 22 Jahre zuvor nur widerstrebend und als extreme Ausnahme gebilligt worden war, hat am 25. August 2005 die höheren Weihen des Verfassungsrangs erhalten. Die Auflösung des Bundestags via unechter Vertrauensfrage, vom Grundgesetz so nicht vorgesehen, wird zum probaten Ausweg aus einer politischen Krise aufgewertet. Einer wirklichen oder vermeintlichen, wer möchte da die Unterscheidung treffen, das Verfassungsgericht jedenfalls nicht. (...)
Das Urteil baut die Machtposition des Regierungschefs aus zu Lasten des Parlaments. Es erhebt die Kanzlerdemokratie, wie sie seit Adenauers Zeiten lediglich faktisch existierte, zum verfassungsrechtlichen Gebot. Indem es die Deutungshoheit, wann eine Regierung handlungsunfähig sei, allein dem Chef anheim stellt, verschiebt es die Balance der Kräfte. Mit dem Grummeln der Parteifreunde haben alle Kanzler leben müssen. Wenn darin schon ein Krisenzeichen läge, hätte etwa Helmut Schmidt seinen Hut stets griffbereit in der Hand halten müssen. Nicht umsonst hat Hans-Joachim Jentsch, der einzige im Senat, der mehr Lebenszeit in der Politik als im Gericht verbracht hat, seinen Kollegen ein "unzutreffendes Verständnis" des Vertrauensbegriffs attestiert. Nicht private Gefolgschaft erheischt ein Koalitionsvertrag, sondern lediglich parlamentarische Zustimmung.
Dieses Urteil, getragen vom Respekt vor den Verfassungsorganen, könnte sich als Bumerang erweisen. Es eröffnet im schlimmsten Fall einem Kanzler die Möglichkeit, sich eines als lästig empfundenen Parlaments zu entledigen. Jene, die ein Selbstauflösungsrecht des Bundestags forderten, hatten exakt das Gegenteil im Sinn. Sie wollten das eigene Gewicht der Volksvertretung stärken auch gegenüber der Regierung.

Aus: Frankfurter Rundschau, 26. August 2005


Das sieht Claus Dümde im "Neuen Deutschland" genauso. "Kanzler statt Demokratie" überschreibt er seinen Kommentar, in dem es heißt:

Das Bundesverfassungsgericht hat das erwartete Urteil gesprochen. Bei der Begründung im Karlsruher Gerichtssaal hat es sich aber gescheut, ausdrücklich jene Frage zu beantworten, die Berichterstatter Udo Di Fabio bei der mündlichen Verhandlung gestellt hatte: Ist Deutschland noch eine parlamentarische Demokratie oder eine Kanzlerdemokratie? Das taten die nun Kläger. »Der Kanzler hat jetzt ein Parlamentsauflösungsrecht, das Parlament hingegen nicht«, klagte der Grüne Werner Schulz.
Das ist zugespitzt. Aber wirklich realitätsfern? Nein. Natürlich haben die Richter den Artikel 68 des Grundgesetzes nicht umgeschrieben. Aber neu interpretiert. Auch wortschöpferisch: »unechte Vertrauensfrage«. Sie billigen dem Kanzler zu, sie fast nach Belieben zu stellen. Und de facto auch, wie von Schröder und Müntefering praktiziert, auf die Regierungsmehrheit im Parlament Druck auszuüben, damit sie Misstrauen bekundet, wenn’s der Chef so will.
Natürlich: Abgeordnete dürfen sich auch verweigern. Doch setzt sich der Kanzler durch, sind Bundespräsident und Verfassungsgericht weitgehend machtlos, seine subjektive Entscheidung in Frage zu stellen. Der Kanzler darf laut Urteil nicht nur die Richtlinien der Politik bestimmen, sondern auch, wann neu gewählt werden soll. Und es öffnet die Tür, das nicht nur wie Schröder als Fluchtversuch vor Wählerunmut, sondern auch dann zu tun, wenn Umfragen es gerade nützlich erscheinen lassen.

Aus: Neues Deutschland, 26. August 2005


Dem Kommentator der Tageszeitung "taz", Christian Rath, geht es ebenfalls um das Verhältnis von Kanzler zum Parlament. Er sieht die Stärkung des Kanzlers allerdings weniger dramatisch, denn es sei nicht anzunehmen, dass der Trick mit der Vertrauensfrage künftig häufiger angewandt werde. "In der Regel sind die Kanzler gerne im Amt und gehen ungern das Risiko der Abwahl ein. Der Ausgang von Schröders Neuwahl-Harakiri dürfte angesichts der drohenden SPD-Schlappe auch keine Werbeveranstaltung für potenzielle Nachahmer sein." Trotzdem schlägt Rath vor, das Recht zur Auflösung des Parlaments ausschließlich dem Parlament zu geben und entsprechend das Grundgesetz zu ändern:

(...) Bundestag und Bundesrat sollten die uferlosen Debatten der letzten Wochen zum Anlass nehmen, jetzt endlich die Verfassung zu ändern. Statt des Kanzlers sollte künftig der Bundestag durch einen Selbstauflösungsbeschluss Neuwahlen einleiten können. Fast jedem Landtag steht dieser Notausgang offen, und bisher ist davon äußerst maßvoll Gebrauch gemacht worden. Weimarer Verhältnisse werden so sicher nicht geschaffen.
Dagegen bringt der - nun zweifelsfrei zulässige - Weg über eine absichtlich verlorene Vertrauensabstimmung nur unnötigen Ärger mit sich. Die Bürger mögen es einfach nicht, wenn Abstimmungsniederlagen inszeniert werden, vor allem wenn man es so ungeschickt betreibt wie Rot-Grün. Der Eindruck des Getrickses und Geschiebes sorgt bei vielen für Unmut und Zweifel an der Demokratie. Und natürlich wird auch beim nächsten Mal irgendein Abgeordneter den Fall nach Karlsruhe tragen. Die Folge wäre auch dann wieder wochenlange Rechtsunsicherheit. Dieses Theater können wir uns wirklich sparen.

Aus: taz, 26. August 2005


Die Diagnose ist ähnlich: Mehr Kanzlerdemokratie als bisher! Doch der Befund wird nicht kritisch betrachtet, sondern zustimmend zur Kenntnis genommen. Das ist der Tenor im Kommentar von Andreas Thewalt ("Ein Alptraum bleibt uns nun erspart") im "Hamburger Abendblatt". Darin heißt es u.a.:

Dieser Richterspruch sorgt für Aufatmen allenthalben. Zu Recht. Man stelle sich einmal vor, das Bundesverfassungsgericht hätte gestern ein Vorziehen der Bundestagswahl untersagt. Die Verfassungsorgane Bundeskanzler, Bundestag und Bundespräsident wären beschädigt worden. Unweigerlich hätte eine solche Entscheidung der Karlsruher Richter das Land in eine schwere Krise gestürzt und für längere Zeit politisch paralysiert. Dieser Alptraum bleibt uns nun erspart.
Weder hat Bundeskanzler Schröder gegen die Verfassung verstoßen, als der am 1. Juli im Bundestag die Vertrauensfrage stellte, um die Abstimmung darüber dann absichtlich zu verlieren. Noch beugte Bundespräsident Köhler das Recht, als er anschließend das Parlament auflöste und für den 18. September vorgezogene Neuwahlen ansetzte. Alle Entscheidungen stehen vielmehr im Einklang mit dem Grundgesetz. (...)
(...) Künftig wird es einem Regierungschef leichter möglich sein, per "unechter" Vertrauensfrage auf Neuwahlen zuzusteuern. Das ist keineswegs von Übel. Denn ein Kanzler, der sich durch eine instabile Mehrheit allzu sehr eingeschränkt sieht, kann ein Land nicht ordentlich regieren. Er könnte zurücktreten. Aber dadurch wird eine instabile Mehrheit nicht unbedingt stabil. Dann lieber Neuwahlen. Wem der Weg dahin über die Vertrauensfrage dennoch zu krumm erscheint, der sollte über ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments nachdenken. Diese Option sollte nun unbedingt näher geprüft werden.

Aus: Hamburger Abendblatt, 26. August 2005


Für diese letzte Option tritt ganz entschieden der Kommentator in der "Berliner Morgenpost" ein. Als Konsequenz aus dem Urteil, das den Kanzler gestärkt habe, müsse nun die Verfassung geändert werden. Konrad Adam begründet dies:

(...) Einem Bundeskanzler, der zu entscheiden hat, wie er reagiert, wenn er feststellt oder auch nur befürchten muß, daß er die Mehrheit im Parlament verloren hat, hat das Gericht einen nahezu unbegrenzten Ermessensspielraum zugestanden. Was es dem Kanzler gab, mußte es den anderen Verfassungsorganen, dem Bundestag und dem Bundespräsidenten, zwangsläufig nehmen; sich selbst am Ende auch.
(...)
Aus alledem sollte das Parlament die Konsequenz ziehen und sich das Recht zur Selbstauflösung, das es bisher noch nicht besitzt, im Wege der Verfassungsänderung verschaffen. Der Bundestag würde damit Klägern und Richtern die gleichermaßen peinliche Zeremonie ersparen, etwas angreifen zu müssen, was man nicht beweisen kann, und über etwas urteilen zu müssen, was sich der Nachprüfung entzieht.

Aus: Berliner Morgenpost, 26. August 2005


Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde auch im Ausland aufmerksam verfolgt. "Ein politisches Urteil" sei es, meint die "Neue Zürcher Zeitung" aus der Schweiz und äußert Unbehagen:

(...) Juristisch lässt sich zu dem Urteil des höchsten deutschen Gerichts nicht viel sagen. Der Artikel 68 ist lapidar kurz und misst dadurch sowohl dem Bundeskanzler als auch dem Bundespräsidenten einen weiten Ermessensspielraum bei einer eventuellen Auflösung des Bundestages zu. Dies haben die Richter mit Nachdruck betont und damit dem Primat der Politik zum Durchbruch verholfen. Denn es ist ganz klar, dass der Fall dieser «Vertrauensfrage» längst zu einer hochpolitischen Angelegenheit geworden war, bei der die Tatsache weit überwog, dass alle relevanten politischen Kräfte und auch ein Grossteil der Bevölkerung in Deutschland Neuwahlen wollten. Ob Schröders Mehrheit tatsächlich gefährdet war, was viele eindeutig verneinen, wird von der Mehrheit des Gerichts als bedeutungslos betrachtet. Allein die Möglichkeit, dass dies der Fall war oder in Zukunft so hätte sein können, legitimiert ihren Entscheid. Die Gefahr des Missbrauchs wird nur in der abweichenden Minderheitsmeinung des Richters Jentsch als heikel dargestellt. - Es ist zu bedauern, dass angesichts der politischen Sachzwänge, die die Entscheide von Bundeskanzler, Bundestag und Bundespräsident präjudiziert hatten, die Frage völlig in den Hintergrund getreten ist, ob der Bundestag im Falle eines ablehnenden Entscheides aus Karlsruhe nicht auch das letzte Jahr der laufenden Legislaturperiode noch schadlos überstanden hätte. Die rot-grüne Regierung Schröder plante ohnehin keine wichtigen Reformen mehr. Die Möglichkeit einer ordentlichen Beendigung wäre also durchaus real gewesen.
So aber hat nun eine Aufweichung des Artikels 68 des Grundgesetzes stattgefunden, indem dieser künftig auch einer zielgerichteten Auflösung dienen kann. Dies ist ungeachtet der Tatsache geschehen, dass dasselbe Verfassungsgericht anno 1983 in einem Zusatz zu einem ähnlichen Urteil festgehalten hatte, dass ein Bundeskanzler keine Auflösung anstreben könne, «dessen ausreichende Mehrheit im Bundestag ausser Zweifel» stehe, und dass er sich bei einer Vertrauensfrage nicht auf «besondere Schwierigkeiten der in der laufenden Wahlperiode sich stellenden Aufgaben» berufen dürfe. Damit wird ziemlich deutlich, mit welch atemberaubender Elastizität das Gericht in seinem jüngsten Urteil vorgegangen ist. Die politische Klasse mag dies begrüssen und sich jetzt mit vollem Elan in die Wahlschlacht stürzen. Aber das Karlsruher Urteil hinterlässt trotzdem bei vielen einen schalen Nachgeschmack. (...)

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 26. August 2005


Für die Kommentatorin im Wiener "Standard" herrscht "Deutscher Wahlkrampf". Birgit Baumann kritisiert zwar auch das Verfassungsgericht, vor allem weil es den "etwas sperrigen Begriff 'auflösungsgerichtete Vertrauensfrage' kreiert hat, womit in Zukunft Parlamentsauflösungen nach dem Willen des Kanzlers noch leichter zu haben sein werden. Es geht ihr aber vor allem um die Perspektivlosigkeit dessen, was in diesem Wahlkampf überhaupt zur Wahl steht.

(...) Doch zunächst muss erst einmal der Wahlkampf, der bis jetzt eher ein Wahlkrampf war, durchgestanden werden. Im Detail mag man sich ja für die eine Idee der SPD oder das andere Vorhaben der CDU erwärmen. Aber das große Ganze oder irgendein Masterplan sind immer noch nicht sichtbar geworden.
Ich kann nicht mehr mit Rot-Grün, darum wählt mich, damit ich mit Rot-Grün weitermachen kann, lautet die ebenso krause wie verzweifelte Bitte von Kanzler Schröder. Wie wenig die Deutschen bereit sind, sich auf dieses widersprüchliche Flehen einzulassen, zeigen die Umfragen. Bei der Union strahlt zwar die Kanzlerkandidatin und leuchten die Umfragewerte wie ein Licht in dunkler Nacht, aber eine Vision hat man auch dort nicht. Rot-Grün hat versagt, jetzt müssen wir ran - das reicht CDU/CSU als Begründung für den angestrebten Machtwechsel.
Was für ein Unterschied zu 1998, als Rot-Grün mit dem Ziel antrat, die Republik auch gesellschaftspolitisch zu verändern. Helmut Kohl schwärmte zu Beginn seiner Kanzlerschaft von der geistig-moralischen Wende. Angela Merkel, die schmerzhafte Reformen wie Hartz IV oder die Praxisgebühr mitgetragen hat, sagt bloß: Wir machen es besser. Kein Wunder, dass in Deutschland noch so viele Wähler unentschlossen sind. Begeisterung, die die Menschen anstecken soll, klingt anders.

Aus: DER STANDARD, Printausgabe, 26. August 2005


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