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KZ-Wachmann Demjanjuk zu fünf Jahren Haft verurteilt

Trotzdem Entlassung aus Haft *

In einem der letzten NS-Verbrecherprozesse ist der frühere KZ-Wachmann John Demjanjuk wegen Beteiligung am Massenmord der Nazis zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Das Münchner Landgericht sprach den 91-Jährigen am Donnerstag (12. Mai) der Beihilfe zum Mord an mindestens 28 060 Juden im Jahr 1943 im Vernichtungslager Sobibor schuldig. Die Staatsanwaltschaft hatte sechs Jahre Haft verlangt, die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert.

Demjanjuk nahm das Urteil am 93. Verhandlungstag ohne jede Regung auf. Der gebürtige Ukrainer, der das Verfahren von einem Rollbett neben der Richterbank mit einer Sonnenbrille über den Augen verfolgte, hat in dem fast eineinhalbjährigen Prozess geschwiegen. Auch am Prozessende verzichtete er auf ein Schlusswort.

Zwar konnte Demjanjuk keine konkrete Tat zugeschrieben werden. Das Gericht schloss sich jedoch der Argumentation der Anklage an: Da das Lager Sobibor im besetzten Polen allein zur planmäßigen Ermordung von Menschen diente, habe sich jeder mitschuldig gemacht, der dort Dienst tat. Ein Dutzend Holocaust-Überlebende und Angehörige von Opfern aus den Niederlanden nahmen als Nebenkläger an der Urteilsverkündung teil.

Nach der Verurteilung des NS-Kriegsverbrechers John Demjanjuk zu fünf Jahren Haft hat das Münchner Landgericht II angekündigt, den Haftbefehl gegen den 91-Jährigen aufzuheben. Das Gericht begründete die Entscheidung am Donnerstag mit dem hohen Alter des Angeklagten und der Tatsache, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig sei.

* Aus: Neues Deutschland, 12. Mai 2011


Fünf Jahre für einen der "Letzten"

Münchner Gericht sprach Urteil über den SS-Mordgesellen Demjanjuk Von René Heilig **

Eine wichtige Nachricht des gestrigen Tages lautet: Das Landgericht München hat den KZ-Wachmann Iwan (John) Demjanjuk wegen Beihilfe zum tausendfachen Mord zu fünf Jahren Haft verurteilt. Und ihn freigelassen.

Prozess? Frei? Manch oberflächliche Radiohörer, der sich sonst in Friseur-Illustrierten bildet mag erleichtert gedacht haben, sie haben den netten Herrn Kachelmann endlich wieder rausgelassen?! Denn die Soap-Opera gegen den eloquenten Wettergott zieht weit mehr Interesse auf sich als die Verhandlung gegen diesen bulligen, kranken, 91-jährigen, abgestumpften Mann mit Sonnenbrille. Nazi-Prozesse mochte man noch nie in dieser Bundesrepublik.

Demjanjuk, wer ist Demjanjuk?! Der Mann, der seinem Prozess maximal drei Stunden pro Tag meist vom Krankenbett folgte, hat als »fremdvölkischer Hilfswilliger« in Sobibor bei der Ermordung von 27 900 Juden geholfen. Sobibor? Hier stand eines der Vernichtungslager der Nazis im besetzten Polen. Der nun Verurteilte soll als Mordgesellen der SS Männer, Frauen und Kinder aus Zügen direkt in Gaskammern getrieben haben.

Richter Ralph Alt betonte, das Gericht habe sich bei seinem Spruch vom Gesetz und nicht von moralischen oder politischen Überlegungen leiten lassen. Das versuchte Demjanjuks Anwalt Ulrich Busch seit Prozessbeginn im November 2009 in Zweifel zu ziehen. Sein Mandat sei todkrank, nicht verhandlungsfähig, wiederholte er beharrlich. Demjanjuk ist verhandlungsfähig, es gehe ihm sogar besser als in den USA, bescheinigte dagegen Professor Christoph Nerl vom Klinikum Schwaben.

Warum eigentlich verhandelte man in München? Das hatte der Bundesgerichtshof so entschieden, nachdem Demjanjuk aus den USA nach Deutschland abgeschoben worden war. Hier in Feldafing am Starnberger See hielt sich der einstige kriegsgefangene Rotarmist und SS-Helfer auf, als das Nazi-Regime in Trümmern lag. Hier arbeitete er für die US-Armee, bevor er in die Staaten wechselte.

Demjanjuk stand schon einmal als mutmaßlicher Massenmörder vor Gericht – von 1988 bis 1993 in Israel. Man hatte ihn als »Iwan den Schrecklichen« von Treblinka erkannt und verurteile ihn zum Tode. Ein Irrtum, der nach dem Auftauchen neuer Dokumente berichtigt worden ist. Dennoch taugte das Urteil nicht für das Münchner Verfahren, in dem es um die Vorkommnisse in Sobibor ging. Obgleich der Angeklagte leugnete, jemals KZ-Aufseher gewesen zu sein.

Er stellte sich als Opfer einer Verwechslung hin. Da Zeugen und Nachweise konkreter Taten nicht beigebracht werden konnten, ging die Staatsanwaltschaft davon aus, das ein Wachmann eines Vernichtungslagers quasi automatisch Mordhelfer war. Zudem fanden sich Dokumente, die Demjanjuk als einen Trawnik identifizierten.

Trawnik? In dem polnischen Ort drillte die SS vor allem ehemalige Kriegsgefangene, die sich den Nazis zur Verfügung gestellt hatten. Die Expertisen zur Echtheit von Demjanjuks SS-Dienstausweises 1393, in dem »abkommandiert 27.3.1943 Sobibor« zu lesen ist, seien Scheingutachten, wetterte Demjanjuks Verteidiger. Der – wie andere vor ihm – das Dokument als Fälschung des sowjetischen Geheimdienstes KGB betrachtet.

Hunderte Anträge habe er gestellt, die wenigsten wurden positiv beschieden, wetterte Advokat Busch. Deshalb hatte sein Mandant sogar mit Hungerstreik gedroht. Auch dass dem von Richter Ralph Alt das Wort entzogen worden war, beklagte Busch nimmermüde. Hilfsweise zog der Advokat das Argument »Befehlsnotstand« hinzu. Die Verteidigung bezeichnet den nun Verurteilten, der das Urteil in seinem Rollstuhl sitzend entgegennahm, immer wieder als »kleinsten der kleinen Fische«. Dennoch, so hatte Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz plädiert, Demjanjuk »hat sich die rassenideologischen Ziele der Nazis zu eigen gemacht. Das ergibt sich daraus, dass keine Bemühungen erkennbar sind, sich der Tätigkeit zu entziehen.«

So sahen das auch die über 30 Nebenkläger, die vor allem aus den Niederlanden stammten. Das Argument »kleiner Fisch«, so stellte das Gericht klar, rechtfertige nicht den von der Verteidigung geforderten Freispruch.

Einen Verdacht des Verteidigers kann man – ohne jeglichen Vorwurf gegen das Münchner Gericht – nicht einfach so vom Tisch wischen. Busch meint, die deutsche Justiz wollen wiedergutmachen, dass sie seit Gründung der Bundesrepublik hochrangige Nazis freigesprochen hat. Bereits vor Beginn hatte man die Münchner Verhandlung zu einem der »letzten großen Nazi-Verbrecher-Prozesse« erklärt. Das klang so, als wolle »jemand« einen allerletzten Punkt setzen. Doch selbst wenn das wider den Rechtsstaat gelingt – politisch ist noch allzu vieles offen.

** Aus: Neues Deutschland, 13. Mai 2011


Unvergessen – und noch immer ungestraft

Gedenken an Opfer von Massakern der SS in Italien von Wut über nicht bestrafte Täter geprägt

Von Katja Herzberg ***


Zehn Angehörige der Waffen-SS können trotz ihrer Verurteilung in Italien frei in Deutschland leben. Überlebende des Massakers von Sant'Anna di Stazzema fordern weiterhin die Bestrafung der Täter. Für Hoffnung sorgt der Regierungswechsel in Baden-Württemberg, wo die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen leitet.

An einem Sommertag im August 1944 verlor der Italiener Enrico Pieri seine gesamte Familie. SS-Einheiten kamen in sein Heimatdorf Sant'Anna di Stazzema in der Toskana, ermordeten mehr als 500 Einwohner und zündeten ihre Häuser an. Pieri überlebte nur, weil er sich im Garten verstecken konnte. »Ich war noch ein Kind von erst zehn Jahren, aber wusste schon, was Krieg ist.« Bis heute kämpft der 77-Jährige dafür, dass die Täter bestraft werden.

Als Zeitzeuge erzählt Pieri seine Geschichte. Doch dieses Mal ist es etwas besonderes. Erst zum zweiten Mal in seinem Leben ist Pieri nach Deutschland gekommen. Bei einer Gedenkveranstaltung anlässlich des Tages der Befreiung am 8. Mai erinnerten in Berlin lebende Italiener und sich für Italien interessierende Deutsche am Wochenende in der Volkshochschule in Berlin-Charlottenburg an dieses dunkle Kapitel der deutsch-italienischen Geschichte. Denn bis heute sind die Täter des Massakers von Sant'Anna di Stazzema ungestraft geblieben, obwohl italienische Gerichte ihre Schuld seit Jahren für erwiesen halten.

Während des Befreiungskriegs um Italien verübten die Faschisten und die einmarschierten SS- und Wehrmachtsverbände zahlreiche Gräueltaten. Allein in der Toskana wurden 93 Dörfer in Brand gesetzt, Frauen vergewaltigt, ganze Familien brutal ermordet. Die Auslöschung des Dorfes Sant’Anna di Stazzema ist mit 550 Toten eines der schlimmsten Massaker.

Die Täter sind seit Jahren bekannt. Nachdem 1994 Unterlagen in Rom gefunden wurden, begannen die italienischen Behörden mit der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen. 2005 wurden zehn Mitglieder der 16. Panzergrenadierdivision »Reichsführer SS« im italienischen La Spezia des »fortgesetzten Mordes mit besonderer Grausamkeit« für schuldig befunden.

Parallel zu dem italienischen Verfahren setzte die Staatsanwaltschaft Stuttgart 2002 Ermittlungen in Gang. Doch bis heute ist es zu keiner Anklageerhebung gekommen. »Die Deutschen haben die Verantwortung für dieses Massaker zu übernehmen und es ist noch immer nicht geschehen«, sagte Gabriele Heinecke, die Anwältin von Enrico Pieri während der Veranstaltung. Noch unverständlicher sei aber, dass es überhaupt eines weiteren Urteils gegen die Nationalsozialisten bedarf. Dies liege daran, dass die italienischen Behörden nicht die Vollstreckung des Urteils von La Spezia in Deutschland forderten. Die Verurteilten in Italien zu bestrafen, sei hingegen nicht möglich weil nach dem Grundgesetz kein deutscher Staatsbürger ausgeliefert werden könne, erläuterte Heinecke. Nur eine Verurteilung in Deutschland würde die 84- bis 91-jährigen Täter hinter Gitter bringen. Doch nach neun Jahren fehlten dem zuständigen Staatsanwalt Bernhard Häußler immer noch Unterlagen, erklärte eine Behördensprecherin gegenüber ND. Für das Verhalten des Staatsanwaltes fand Heinecke klare Worte: »Er ist offensichtlich inkompetent oder Unwillens.«

Für die Anwältin ist die Sachlage klarer als je zuvor. »Es gibt keinen Grund, länger zu warten«, verweist sie auf einen Beschluss des Bundesgerichtshof vom Herbst letzten Jahres, wonach ein Münchener Urteil gegen SS-Angehörige wegen Mordes an Einwohnern des Dorfes Falzano di Cortona rechtmäßig ergangen ist. Eine Mordanklage sei damit auch in Stuttgart gegen die zehn der einst 17 mutmaßlichen Täter möglich, meint Heinecke. Auch der Bürgermeister von Sant'Anna di Stazzema, Michele Silicani, forderte in Berlin die Bestrafung der Täter. »Es gibt keine Entschuldigungen. Die Prozesse in Deutschland müssen vorangehen«, kritisierte Silicani das zögerliche Vorgehen der Stuttgarter Behörde.

Die Hinterbliebenen hoffen aber auch auf die Einsetzung eines neuen Staatsanwalts im Zuge des Regierungswechsels in Baden-Württemberg. Am Donnerstag wurde der neue Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) vereidigt. »Ein Wechsel ist nicht zu erwarten«, sagt hingegen der Sprecher des Ministeriums, Jan Dietzel. Schon seit Jahren würden Staatsanwälte in Deutschland nicht mehr als politische Beamte entlassen. Darüber könnte jedoch eine neue Debatte entbrennen. Denn für eine baldige Anklageerhebung wollen sich neben Heinecke auch Michael Müller von der Berliner SPD sowie die italienische Sozialdemokratin Laura Garavini stark machen. Es müsse schnell gehandelt werden, warnte Heinecke, »bevor die Täter und die Überlebenden wegsterben«.

*** Aus: Neues Deutschland, 13. Mai 2011

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Die alten Nazis wurden gebraucht
Gedanken zum Prozess gegen Iwan Demjanjuk. Von Ellen Brombacher (24. Dezember 2009)




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