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Von einem Präsident, der uns bevorsteht, und einer Präsidentin, die uns vorenthalten bleibt

Kommentare und Bemerkungen zur Bundespräsidentenwahl


Auch wenn längst alles gelaufen ist: Die Bundespräsidentenwahl am 18. März 2012 könnte doch noch ein paar überraschende Momente erhalten. Zwar wird eine fast 90 prozentige Mehrheit in der Bundesversammlung den Kandidaten der vier etablierten Fraktionen wählen und nur die LINKE mehr oder weniger geschlossen für die Gegenkandidatin plädieren. Interessant wird aber doch sein, ob es nicht auch ein paar Ausreißer auf der einen oder anderen Seite geben wird. Schwer vorzustellen, dass alle grünen und sozialdemokratischen Abgeordneten ihre Stimme dem brachialen Neoliberalen Gauck geben - und dabei ihr soziales Gewissen schwer beschädigen. Auch in den Reihen der Regierungskoalition dürfte noch Groll darüber bestehen, dass nun ein Mann Präsident werden soll, den SPD und Grüne vor zwei Jahren ins Rennen gegen den eigenen Kandidaten geschickt hatten. Und dass es der Schwundfaktor FDP war, der die Kanzlerpartei überrumpelte, könnte auch noch so manche/n CDU/CSU-Wahlfrau/mann in Konflikte stürzen.
Was darüber hinaus aber sein wird nach der Wahl, was von dem designierten Präsidenten-Hardliner Gauck zu erwarten ist und was in dieser Republik offenbar nicht sein darf, darüber haben wir teils schon berichtet; und darum geht es auch in den folgenden beiden Beiträgen von Arno Klönne und Christin Odoj. Beide Artikel haben wir der Tageszeitung "neues deutschland" entnommen. (Pst)


Ein Präsident wird produziert

Von Arno Klönne *

Der Sozialwissenschaftler Arno Klönne, früher einer der Sprecher der Ostermarschbewegung, ist Mitherausgeber der Zweiwochenschrift »Ossietzky«.

Unter Berufspolitikern ist die Neigung zum Tricksen und Täuschen weit verbreitet, auch dazu, nicht zu halten, was sie versprochen haben. Oder regierend etwas ins Werk zu setzen, was sie in der Opposition von sich gewiesen haben. Beim Volk ruft dies starken Verdruss hervor, woraus der Wunsch nach dem »Antipolitiker« in der Politik entsteht, der sich dem üblichen Taktieren der Parteien nicht anpasst. Für solche Gelegenheiten eilt die Vierte Gewalt in unserer Republik zur Hilfe, vorneweg die aus dem Hause Springer, nach dem Motto: Ich BILD dir deinen Präsidenten.

Schon nach dem Rücktritt Horst Köhlers kam Joachim Gauck in den Blick. Die SPD wie auch die Grünen fanden Gefallen an dem Mann, zum Ärger der Unionsparteien. Gauck war nicht nachzusagen, er stünde in seinem Weltbild den Konservativen fern, aber die Bundeskanzlerin wollte partout einen Ministerpräsidenten ihrer Partei ins Schloss Bellevue versetzen. Da saß er dann, nicht lange. Den Zorn der auflagenstärksten Tageszeitung zog er sich zu durch seine Äußerung, der Islam gehöre zu Deutschland. Außerdem hatte er die Anforderung, ein Politiker müsse sich um Wirtschaftsnähe bemühen, falsch verstanden.

Also kam Gauck wieder ins Spiel, diesmal als Allparteienkandidat - fast jedenfalls, die Linkspartei erhielt einen Platzverweis. Die anderen lobten sich selbst: Ein Präsident sei nun jenseits aller Egoismen der Parteien designiert. Tatsächlich hat Gauck seine Nominierung einem Zusammentreffen durchaus konkurrierender, höchst taktischer Berechnungen der beteiligten Parteien zu verdanken. Die Grünen und die SPD möchten als Entdecker Gaucks honoriert werden. Die FDP will als Präsidentenmacherin Stärke vortäuschen. Die Unionsparteien erwarten, dass Gauck in ihrem Sinne predigt. Ob sich diese Kalkulationen auszahlen, für welche Partei, ist offen. Ebenso, wie beständig die Gauck-Begeisterung von Medien ist, die Quote machen und neue Sensationen anbieten müssen.

Der Präsident, der uns bevorsteht, hat sich publikumswirksam eingefühlt in die ihm zugeschriebene Figur des »Freiheitshelden«. Dass er mit der ganz großen Koalition, die ihn ins Amt bringt, in gesellschaftspolitische Grundkonflikte gerät, ist auszuschließen. Er hält nichts davon, sich mit der Macht des großen Kapitals anzulegen. Der soziale Rückwärtsgang, den die staatliche »Schuldenbremse« zur Folge hat, ist für ihn kein Problem. Militärische Interventionen »out of area« erscheinen ihm als notwendig. Und er bietet die Garantie dafür, dass jede entschieden linke Idee präsidial als »extremistisch« ausgegrenzt wird. Von interessierter Seite wird Volkserzieherisches von ihm gewünscht: Bisher, so die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, »schwärmen die Deutschen lieber von Gleichheit und Gerechtigkeit als von Freiheit, mit Joachim Gauck könnte nun alles anders werden«. Ist es das, was Andrea Nahles, Generalsekretärin der SPD, von ihm als »Erneuerung der deutschen Demokratie« erhofft? Gauck beruft sich auf seine Erfahrung in der DDR, wo die Verstaatlichung der Banken ins Desaster geführt habe. Er wird jedoch einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht das Gefühl beibringen können, ihre Sorgen seien behoben, wenn nur dem Finanzmarkt freier Lauf belassen werde. Soziale Realität lässt sich auf Dauer aus dem Bewusstsein nicht verdrängen. Freiheitspathos erweist sich als Schönrederei, wenn es den Anspruch auf soziale Gerechtigkeit zu verdrängen sucht.


Kandidatin Klarsfeld: Niemals aufgeben

Von Christin Odoj *

»Ach, dass ich nominiert wurde, ist schon Anerkennung genug«, sagt sie und winkt ab. Zusammen mit der CDU und der SPD am Sonntag im Bundestag zu sitzen, den Parteien, die sie immer abgelehnt haben, reicht aus, erzählt sie. Die Frage nach ihrem persönlichen Geltungsbedürfnis wird immer im Raum stehen bleiben, zu oft ist sie in Deutschland auf Ablehnung gestoßen.

Wenn sie spricht, dann schnell, lässt am Satzende öfter das ein oder andere Wort, verschwinden, denn Zeit für die ganze Geschichte bekommt sie nur noch selten, seit ihr Lebenswerk eins geworden ist mit den Verbindungen zur Staatssicherheit der DDR. Eine »SED-Marionette« sei sie gewesen. Alle wollen jetzt von ihr hören, dass die moralischen Maßstäbe, die sie stets an andere angelegt hat, einseitig waren. Nazis in der DDR hätten sie nie interessiert.

Es ging ihr immer um die eine Sache, ihrem Kampf um Gerechtigkeit und ja, es ging um die großen Fische, um die Klaus Barbies und Kurt Lischkas und um Bundeskanzler, alle in und mit der alten Bundesrepublik irgendwie verwachsen. »Die größten Gewaltverbrecher sind damals nun mal alle im Westen gewesen, die wollte ich kriegen«, sagt sie. Dass es auch ein persönlicher Kampf war - Alois Brunner war damals für die Deportation ihres Schwiegervaters aus Frankreich verantwortlich - ist kein Geheimnis. Unterstützung hat sie ausgerechnet aus der BRD nie bekommen, das sitzt immer noch tief.

Heute ist das mit der Anerkennung nicht anders. Außerhalb der Veranstaltungen, die die Linkspartei für sie organisierte, hatte sie wenige Termine, deshalb entfloh sie seit ihrer Nominierung öfter nach Paris zu ihrer Familie. Die anderen Parteien wollten sich nicht mit ihr treffen. Gegen die große Gauck-Einheitsfront hatte sie keine Chance. CDU, FDP, Grüne und SPD werden ihn am Sonntag zum elften Bundespräsidenten wählen, ein Konsenskandidat, da ist für sie kein Platz. Während sich Joachim Gauck am 6. März bei der Linksfraktion im Bundestag vorstellte, gab es für Beate Klarsfeld eine Absage nach der anderen. SPD-Chef Sigmar Gabriel rief zwar an und zollte ihrer Arbeit Respekt, verkündete aber im selben Atemzug, dass seine Partei geschlossen für Gauck stimmen wird, basta. Ausgeladen hat sie dann Frank Walter Steinmeier, auch per Telefon, wie in einer ARD-Reportage über Beate Klarsfeld und Joachim Gauck zu sehen ist. »Sie hätten sich wenigstens einmal anhören können, was ich zu sagen habe. Nun gut, ich nehm das so hin«, hat sie geantwortet. Am anderen Ende der Leitung war da der Hörer schon fast aufgelegt. »Das war ja kurz und bündig.« Als nächstes dann der Korb von den Grünen, obwohl die erst offene Türen signalisiert hatten. Jürgen Trittin, der sich in der Vergangenheit gerne als Gauck-Erfinder inszenierte, schickte ein kurzes Fax an die Linkspartei und das war‘s. Frau Klarsfeld sei ja zu aller Überraschung während der nächsten Fraktionssitzung gar nicht in Berlin und die Grünen bis zum 18. März vom Erdboden verschluckt. Ein Treffen also ausgeschlossen. »So sind Politiker nun mal«, sagt sie, »alles Taktiker.«

Ihre Kandidatur ist für die meisten immer ein großes ABER gewesen. Überall gab es Respekt für ihre Arbeit. Eine mutige Frau, die keine weißen Flecken in der Nachkriegsgesellschaft geduldet hat, keine Frage, aber das reiche nicht fürs Heute. Da macht der Gaucksche Freiheitsbegriff schon mehr her. Der Kampf gegen das Überleben rechten Gedankenguts in der Gesellschaft taugt nicht für die Gegenwart? Dann muss der gestern prall gefüllte Klassenraum des Coppi-Gymnasiums eine Illusion gewesen sein. Beate Klarsfeld diskutiert mit Schülern über alte und neue Nazis - mehr als anderthalb Stunden. Eins sollen sich die jungen Leute merken: »Man darf nie aufgeben, wenn man für seine Überzeugung kämpft.« Am Ende gab es tosenden Applaus.

Morgen sind es 123 Stimmen, die zählen, alles darüber hinaus wäre ihr größter Sieg.

* Beide Beiträge erschienen in: neues deutschland, 17. März 2012


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