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Im Herzen des Gegners

Vorabdruck. Konterspionage. Die DDR-Aufklärung in den Geheimdienstzentren des Westens

Von Klaus Eichner und Gotthold Schramm
Unter dem Titel »Konterspionage. Die DDR-Aufklärung in den Geheimdienstzentren« erscheint in diesen Tagen bei edition ost der fünfte Band der Geschichte der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) der DDR. Wir veröffentlichen vorab Auszüge aus dem Buch, das von den Autoren am kommenden Donnerstag (19. Aug.) in der jW-Ladengalerie vorgestellt wird.

Aus dem Vorwort von Generaloberst a.D. Werner Großmann *

Insider und Experten aus dem Geheimdienstmilieu bezeichnen die Gegenspionage oft als die »Krone der nachrichtendienstlichen Arbeit«. Eine Quelle in einem gegnerischen Geheimdienst zu plazieren, das führte in die Zentren der Informations- und Entscheidungsprozesse des jeweiligen Ziellandes und auch des Bündnissystems des Gegners.

Die Aufklärungsorgane der sozialistischen Staaten, allen voran die Nachrichtendienste der Sowjetunion, können auf eine reiche Tradition ihrer Arbeit auf diesem Gebiet verweisen.

Mit den legendären »Cambridge Five«, einer Gruppe liberaler Wissenschaftler, Absolventen der elitären Cambridge-Universität, die zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Positionen im Geheimdienstsystem des britischen Königreiches tätig waren, die aus politischer Überzeugung der Sowjetunion Zugang zu internen Informationen verschafften, wird nur eine Facette dieser Aktivitäten enthüllt. Die britischen Geheimdienste und ihre US-amerikanischen Verbündeten mußten mit Kim Philby, der u.a. Verbindungsoffizier des SIS1 zur CIA in Washington war, und George Blake, der als SIS-Offizier in Westberlin alle Details der Planung und Realisierung des Spionagetunnels in Altglienicke übermittelte, weitere schwere Niederlagen hinnehmen. (...)

An diese Erfahrungen und Traditionen knüpfte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) an. Die Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) besetzte wichtige Quellenpositionen im Bundesnachrichtendienst, im Verfassungsschutz, beim Militärischen Abschirmdienst (MAD) und im Staatsschutz der BRD sowie bei US-Diensten. Daran hatten neben der fachlich zuständigen Abteilung IX weitere Struktureinheiten der HVA, die Abteilungen XV der Bezirksverwaltungen und das enge Zusammenwirken mit Partnern in Abwehrdiensteinheiten des MfS einen entscheidenden Anteil.

Die Aufklärung der DDR vermochte mit ihrer Gegenspionage die Spionagetätigkeit der westlichen Seite über Jahre zu paralysieren. Oft wurden die Informationsflüsse zum Gegner von uns gesteuert. Bis auf wenige Ausnahmen konnte dadurch die Sicherheit unserer Arbeit im Operationsgebiet und der eingesetzten Offiziere und Inoffiziellen Mitarbeiter gewährleistet werden.

Die Gegenspionage durch Aufklärung und Abwehr des MfS war die wirksame Reaktion auf massive Spionageangriffe, der die DDR seit ihrer Geburtsstunde durch westliche Geheimdienste, vor allem der Bundesrepublik Deutschland, ausgesetzt war. Dabei gelang es dem MfS, die Mehrheit der Agenten der westlichen Seite zu enttarnen, sie oft als Doppelagenten gegen ihre bisherigen Auftraggeber einzusetzen oder ihre Informationszugänge einzuschränken.

Die Autoren stellen die Strategie des Vorgehens gegen die westlichen Geheimdienste vorwiegend anhand konkreter Vorgänge und operativer Prozesse dar. Das macht den Inhalt des operativen Vorgehens auf der Linie »Gegenspionage« besonders plastisch.

So ist auch dieser Band ein überzeugender Beitrag zur Diskussion, wer die Geschichte wahrhaftiger darstellt: die Verwalter unvollständiger Akten oder jene, die diese Akten mit realer Arbeit füllten.

Zu dieser Wahrheit gehört allerdings auch, daß die westlichen Geheimdienste keineswegs völlig erfolglos waren. Verschiedentlich fügten sie östlichen Nachrichtendiensten ernste Niederlagen zu. Die Mehrzahl der westlichen Erfolge wurde mit Überläufern, also Verrätern, erzielt. Der qualitative Unterschied zu unseren langfristig geführten Quellen bestand darin, daß die Überläufer nur das verraten konnten, was ihnen bis zum Zeitpunkt der Flucht bekannt war. Danach versiegte die Quelle. Zudem war es uns möglich, kurzfristig notwendige Veränderungen im Personal, in den Strukturen und im methodischen Vorgehen zu veranlassen.

Der entscheidende Vorteil der Mehrheit der Quellen der sozialistischen Aufklärungsorgane bestand darin, daß sie über viele Jahre fortlaufend und gezielt Informationen erarbeiteten und auf Entwicklungen in ihrem Dienst reagierten bzw. mögliche Veränderungen vorab signalisierten.

Beim Anschluß der DDR an die Bundesrepublik kam es in einigen wenigen Fällen zum Verrat durch verantwortliche Mitarbeiter der HVA. Für den Bereich Gegenspionage betraf dies die Fahnenflucht des einstigen stellvertretenden Leiters der Abteilung IX, Oberst Karl-Christoph Großmann. Wichtige Quellen der Arbeitslinie Gegenspionage wurden durch ihn enttarnt, von der BRD-Justiz angeklagt und zu drastischen Freiheitsstrafen verurteilt.

Trotz dieses Verrates stehen die meisten dieser Frauen und Männer noch immer auf unserer Seite im gemeinsamen Kampf für die wahrhaftige Darstellung der DDR und ihrer Sicherheitsorgane.

Das offenbart eine grundsätzlich andere Haltung zu ihrer Tätigkeit als die ihrer »Kollegen«. Sie waren im klassischen Sinne Überzeugungstäter: überzeugt von der Richtigkeit der sozialistischen Idee und unserer Sache.

Der langjährige Chefhistoriker der CIA, Benjamin Fischer, urteilte auf der Konferenz zur Tätigkeit der DDR-Aufklärung im dänischen Odense im November 2007: »Die westliche Seite ist als Sieger aus dem Kalten Krieg hervorgegangen, aber sie hat gleichermaßen den Kampf der Geheimdienste verloren. Indem die CIA es nicht vermochte, in die HVA einzudringen, überließ sie das Gebiet der Gegenspionage den ostdeutschen Operationen.«


Aus dem Abschnitt: Die Schlapphüte von Verfassungsschutz und MAD (von Gotthold Schramm **

Operation »Keilkissen«

Wie es zur »Zusammenarbeit« von Verfassungsschutz und HVA kam

Das Ziel von Operationen mit Doppelagenten oder, um den Terminus des Verfassungsschutzes zu benutzen, mit Counter-Men (CM) der Abteilung IV des BfV bestand darin, Arbeitsrichtungen und Absichten des gegnerischen Dienstes und dessen Mitarbeiter kennenzulernen, um deren Aktionen zu paralysieren. (...)

Unter diesem Aspekt wurde die Operation »Keilkissen« mit dem CM »Keil« zu einem besonderen Kapitel des deutsch-deutschen Schlagabtausches der geheimen Dienste. Das BfV opferte bedenkenlos das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und lieferte der Gegenseite Namen und Personalangaben von Bundesbürgern einschließlich der Aktenzeichen, unter denen Dossiers über diese im bundesdeutschen Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) zu finden waren. Im Laufe der Operation waren das mehr als 1000 Personen. (...).

Wie konnte das geschehen?

In Köln lebte Anfang der 80er Jahre der DDR-Kundschafter Joachim Moitzheim (MfS-Deckname »Wieland«). Eine von ihm geführte Quelle in einem Staatsschutzkommissariat war verstorben, er war in gewisser Weise arbeitslos. Die HVA instruierte »Wieland«, sich dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) zuzuwenden. Nach einem Jahr meldete »Wieland« nach Berlin, er habe in einer Eifelpension ein Ehepaar kennengelernt, der Mann sei wahrscheinlich Mitarbeiter im BfV, obgleich er erklärt hatte, im Innenministerium beschäftigt zu sein.

Von Berlin kam grünes Licht, die Verbindung weiter zu pflegen. Das gelang dem kontaktfreudigen »Wieland«, wie er auch von Heinz Carolus (MfS-Deckname »Schmitz«; BfV-Deckname »Fäller«) irgendwann dessen tatsächliche Arbeitsstelle mitgeteilt bekam. Es traten aber bald Schwierigkeiten auf. Die Ehefrau von »Schmitz« betrachtete den neuen Bekannten mit Mißtrauen. Wieland war in dieser Verbindung allein, seine Partnerin Jahre zuvor verstorben. Die einzige Basis für die Fortsetzung der Bekanntschaft war der Wein, und welche Ehefrau sieht das schon gern?

Der Leitung der Abteilung IX ging die Entwicklung zu schnell. Zwar wußte man inzwischen, daß »Schmitz« in der Abteilung V/BfV (Geheimschutz) für Sicherheitsüberprüfungen zuständig war und somit Zugang zum NADIS-Computer hatte, man war also sehr an diesem Mann interessiert. Aber in diesem Stadium Carolus bereits ein finanzielles Angebot zu machen, schien zu früh. Bei der Verabschiedung erklärte »Wieland« seinem Führungsoffizier, er werde das Eisen schmieden, solange es glühe und die Kontakte in eigener Verantwortung forcieren.

Nach Köln zurückgekehrt, bat er »Schmitz«, einige Personen zu checken, mit denen er vorgeblich geschäftlich zu tun habe. Nach einigem Zögern war »Schmitz« dazu bereit. (Später wurde bekannt, daß er »Wieland« gleich mit überprüft hatte. »Keine Erkenntnisse« lautete die Auskunft).

»Wieland« wagte schon bald den nächsten Schritt. Beim gemeinsamen Besuch eines Kölner Lokals steckte er »Schmitz« auf der Toilette 1000 DM zu mit der Bitte, weitere Überprüfungen vorzunehmen. Skrupel konnte er zerstreuen, indem er sich als Resident eines amerikanischen Geheimdienstes ausgab. Die Legende stand auf tönernen Füßen, weil die »befreundeten Dienste« auf der Chefebene Zugang zu allen Daten von Bundeseinrichtungen hatten. Außerdem war die Einstiegssumme in diesem Metier zu klein.

Dennoch zögerte »Schmitz« einige Wochen, ehe er sich seinem Vorgesetzten anvertraute. Daraufhin wurde »Wieland« observiert, was dieser nicht bemerkte. Dabei stellte man fest, daß dieser ein Nobody sei: keine Versicherung, kein Arbeitgeber, keine Frau.

Das BfV entschloß sich daraufhin zum Frontalangriff. »Wieland« wurde nach dem Besuch eines Lokals auf dem Nachhauseweg von zwei gutgekleideten Herren angesprochen – einem großen Dicken und einem Untersetzten. Sie wiesen sich als BfV-Beamte aus und baten ihn mitzukommen. Nach einer abenteuerlichen Autofahrt (um angeblich eine gegnerische Begleitung abzuschütteln oder »Wieland« nur zu beeindrucken?) hielt der Wagen vor einem großen Kölner Hotel. Man suchte gemeinsam ein Appartment auf, in dem ein Imbiß bereitstand. Erst jetzt stellten die beiden Herren sich als »Kluge« (Klarname: Klaus Kuron) und »Tappert« (Klarname: Hansjoachim Tiedge) vor.

In einer taktisch geschickt geführten mehrstündigen Befragung, in der auch der Hinweis auf die nahegelegene Haftanstalt Ossendorf nicht fehlte, offenbarte sich »Wieland« unter der Last der Vorhaltungen. Anschließend fuhr man zu seiner Wohnung, wo er seine HVA-Chiffrierunterlagen zum Kopieren übergab.

Fortan wurden also die HVA-Funksprüche an »Wieland« vom BfV mitgelesen.

»Wieland« hatte sich bereiterklärt, unter der Schirmherrschaft des BfV mit der HVA normal weiter zusammenzuarbeiten und auch mit »Schmitz« alles so abzuwickeln, als sei nichts geschehen. Die nächste Reise nach Berlin trat Wieland nun als Counter-Man »Keil« der BfV-Operation »Keilkissen« an. Die HVA saß am längeren Hebel und konnte verfolgen, wie weit das BfV wohl gehen würde, wenn man Forderungen nach Informationen stellen würde, und wie lange man »Schmitz« als CM im eigenen Nest würde halten können – in der Geschichte der Geheimdienste eine nicht alltägliche Situation. Dazu kam noch, daß die Verfassungsschützer nicht wußten, daß »Wieland« seine Überwerbung durch den Verfassungsschutz umgehend in Berlin offenbart hatte, er also nun als »Triple-Agent« tätig wurde – mit eindeutiger Loyalität gegenüber der HVA.

Auf diese Weise entwickelte sich eine enge »Zusammenarbeit« zwischen BfV-Abteilung IV und HVA-Abteilung IX. (...)

Der Spiegel zitierte später aus einem Bericht des BfV an die Parlamentarische Kontrollkommission des Deutschen Bundestages und machte damit den Umfang der in der Operation »Keilkissen« an die HVA gelieferten Informationen öffentlich: Die HVA hatte insgesamt 338 Personen in NADIS abfragen lassen. Es waren die Namen von 1 450 Überprüfungskandidaten übergeben worden (…). Ob die leitenden Verfassungsschützer nie Skrupel hatten, operatives Material in diesem Umfang an ihren Gegner zu geben?

Wer waren die beiden Gesprächspartner der HVA-Quelle »Wieland«?

Klaus Kuron

Quelle »Stern«

An einem Sommerabend im Jahre 1981 deponierte eine unbekannte Frau einen größeren Briefumschlag im Briefkasten der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn. Der Brief enthielt einen weiteren Umschlag. Dieser war adressiert an den Leiter der Abteilung IX der HVA, Oberst Schütt. Aus dem Inhalt ging hervor, daß der anonyme Schreiber gute Insiderkenntnisse aus dem Verfassungsschutz besaß. Er bot seine Zusammenarbeit an und unterbreitete entsprechende finanzielle Vorstellungen, wie diese Zusammenarbeit für ihn abgesichert werden könnte. (...)

Zum Beweis seiner Insiderkenntnisse enttarnte der Briefschreiber eine in Wien geplante Aktion gegen den Mitarbeiter des Sektors Wissenschaft und Technik der HVA Christian St.. Diese Information traf zu.

Der Brief war handschriftlich mit Druckbuchstaben abgefaßt. Als der fachlich zuständige Referatsleiter den Brief erstmals vor Augen hatte, konnte er auf Anhieb den Schreiber identifizieren. Er hatte noch einige charakteristische Schriftzüge von einem Zettel im Gedächtnis, den der Fallführer unserer Quelle »Wieland« (CM »Keil«) einige Zeit vorher bei der Quelle hinterlassen hatte. Das war die Schrift von »Kluge« alias Klaus Kuron.

Wir kannten Kuron schon recht gut. Er war Mitarbeiter im Referat 1 (G-Operationen) der Referatsgruppe IVB (Spionageabwehr DDR) im Bundesamt für Verfassungsschutz. Kuron war verantwortlich für alle Doppelagenten-Operationen des Verfassungsschutzes gegen die DDR.

Das war das Herz der feindlichen Gegenspionage. Von dort gingen große Gefahren für die Quellen der DDR im Operationsgebiet Bundesrepublik aus.

Unsere Quelle »Wieland« hatte seinen CM-Führer »Kluge« auch politisch beurteilt. Nach seinem Eindruck stünde »Kluge« dem linken Flügel der SPD nahe und hege, was überraschen mußte, durchaus Sympathien für die DDR.

Es verging noch einige Zeit der Überprüfungen und der vorsichtigen Annäherung bis zur Kontaktaufnahme. Immerhin hatte der Briefschreiber verlangt, daß ein Treff mit verantwortlichen Mitarbeitern der Abteilung IX in Wien stattfinden sollte. Die Leitung in Berlin zauderte und wollte die Gefahr für unsere Mitarbeiter im westlichen Ausland so gering wie möglich halten. (...)

Schließlich kam es dennoch zum Treff im Park des Schlosses Schönbrunn in Wien. Kuron stellte sich ohne Umschweife vor und charakterisierte sein Aufgabengebiet im Verfassungsschutz.

Zu den Motiven seines Angebotes einer Zusammenarbeit mit der Abteilung IX, die er aus seiner Arbeit bereits recht gut kannte, erklärte er, daß seine Karriere im BfV einen toten Punkt erreicht habe. Nicht zuletzt wegen der fachlichen Inkompetenz seiner Vorgesetzten.

Das Beamtengehalt reiche nicht aus, um das Studium seiner Söhne zu finanzieren. Das stellte er verbittert in die gesellschaftliche Realität seines Landes, das seinen Bürgern gleiche Rechte nur auf dem Papier garantierte. Die Wirklichkeit für all jene, die sich aus kleinen Verhältnissen emporarbeiten wollten, sehe anders aus als in Sonntagsreden der Politiker versprochen. Andererseits würden die Kinder von Reichen begünstigt und allseits protegiert.

In fachlicher Hinsicht offenbarte Kuron in allen Einzelheiten die CM-Operation »Keilkissen«, ohne zu wissen, daß seine Gesprächspartner aus Berlin bereits im Bilde waren, da unsere Quelle »Wieland« umfassend informiert hatte. Kuron ging offenkundig davon aus, daß sein CM »Keil« nur dem Verfassungsschutz treu war. (...)

Die entscheidende operative Aufgabenstellung für Klaus Kuron lag in der Offenbarung seines gesamten Wissens über die Doppelagenten-Operationen des Verfassungsschutzes gegen die DDR – das betraf die HVA, andere Diensteinheiten des MfS und die Verwaltung Aufklärung der NVA. (…)

Der Prozeß vor dem OLG Düsseldorf 1991/92 geriet zu einer öffentlichen Bloßstellung des Verfassungsschutzes. Verfassungsschutzpräsident Gerhard Boeden erklärte den Fall Kuron pathetisch zur »größten Spionageaffäre in der Geschichte der Bundesrepublik«. In der Anklageschrift behauptet die Staatsanwaltschaft, daß Kuron in mindestens vierzig Fällen Anwerbungen, Überläufer und Verdachtsmomente an das MfS verraten habe. Im Februar 1992 wurde Klaus Kuron wegen »Landesverrats in Tateinheit mit Bestechlichkeit« zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Die Höhe der Strafe wurde vom Gericht auch als »allgemeine Abschreckung für Nachahmer« begründet – welche Nachahmer?

Nach acht Jahren Haft wurde Klaus Kuron im Oktober 1998 aus der Haft entlassen und die Reststrafe von vier Jahren zu dreijähriger Bewährung ausgesetzt.

Hansjoachim Tiedge

Ein Überläufer von »Format«

Am 23. August 1985 brachte die DDR-Nachrichtenagentur ADN eine Meldung, daß die zuständigen Organe der DDR das Ersuchen des langjährig im Bundesverfassungsschutz der BRD für die Spionageabwehr verantwortlichen Regierungsdirektors Hansjoachim Tiedge überprüfen, der um Asyl in der DDR nachgesucht hatte.

Was war geschehen?

Am 19. August 1985 meldete sich am Eisenbahn-Grenzübergang Marienborn/Helmstedt nach Ankunft eines Zuges ein etwas heruntergekommen aussehender Mann mit ziemlichem Leibesumfang und legte dem DDR-Grenzkontrollbeamten einen BRD-Reisepaß auf den Namen Tappert und einen Dienstausweis des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf den Namen Hansjoachim Tiedge vor. Er bat darum, daß in Berlin die Abteilung IX der HVA benachrichtigt werde, dabei nannte er namentlich Oberst Harry Schütt und die Mitarbeiter »Karl«, »Bernd« und »Stefan«.

Diese Angaben reichten aus, um relativ schnell die richtigen Ansprechpartner zu finden, die unverzüglich Tiedges Weiterreise nach Berlin organisierten. Noch am Abend saß dann der Referatsgruppenleiter Spionageabwehr DDR im BfV, Regierungsdirektor Hansjoachim Tiedge, in einem Objekt der HVA in Prenden, wo er offiziell im Namen der Leitung der HVA auf dem Boden der DDR begrüßt wurde. Vor den HVA-Vertretern saß der oberste Abwehrchef der DDR-Spionage im Verfassungsschutz der BRD .

Als erstes wurde Tiedge befragt, ob durch seinen Übertritt Reaktionen ausgelöst würden, die nachrichtendienstliche Positionen der DDR unmittelbar gefährdeten. Für ihn als Profi war das eine verständliche Reaktion, er hätte sich gewundert, wenn diese Fragen ausgeblieben wären. Was er jedoch nicht wußte und auch die nächsten Jahre nicht erfahren durfte: Die Abteilung IX hatte durch ihre Quelle Klaus Kuron und andere Positionen im Verfassungsschutz bereits entsprechende Kenntnis, daß Sofortmaßnahmen nicht erforderlich waren. In einem bestimmten Maße traf das auch auf andere Interna aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz zu, die Tiedge in der Folgezeit offenbarte. (…)

Mit dem Übertritt Tiedges begann in der Abteilung IX ein kompliziertes »Spiel« der Vermischung von Einzelerkenntnissen und Analysen aus Informationen von aktiven Quellen mit den Angaben von Tiedge unter direkter oder indirekter Berufung auf Tiedge. Immerhin wurden bis zur Auflösung der HVA und der Festnahme von Klaus Kuron und weiteren Quellen in den Landesämtern für Verfassungsschutz durch uns Hansjoachim Tiedge alle Informationen oder Andeutungen über die wahre Quellenlage der HVA auf dem Gebiet der Sicherheitsbehörden der BRD vorenthalten. Das war keine Frage des Mißtrauens gegenüber Hansjoachim Tiedge, sondern eine prinzipielle Frage des Schutzes unserer Quellen.

[1] Secret Intelligence Service, der britische Auslandsgeheimdienst, besser bekannt unter dem Namen MI 6 – d.Red.

* Generaloberst a.D. Werner Großmann, Jahrgang 1929, war als Nachfolger von Markus Wolf letzter Leiter der HVA des MfS; Oberst a.D. Klaus Eichner, Jahrgang 1939, leitete bis 1989 den Bereich Auswertung und Analyse der Abteilung IX (Äußere Abwehr);
** Oberst a.D. Gotthold Schramm, Jahrgang 1932, war seit 1969 verantwortlich für die Sicherheit der DDR-Auslandsvertretungen und zuletzt stellvertretender Leiter der Abteilung IX


Klaus Eichner/Gotthold Schramm: Konterspionage. Die DDR-Aufklärung in den Geheimdienstzentren (Band V der Geschichte der HVA), 256 S., brosch., edition ost, Berlin 2010, 14,95 Euro, ISBN 978-3-360-01821-2

Aus: junge Welt, 13. August 2010

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