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Mengeles Skalp und andere Geschichten zur Geschichte

US-Justizakten über die Kollaboration mit Nazi-Verbrechern aufgetaucht – in Deutschland stocken diverse Nachforschungen

Von René Heilig *

Die USA haben nach dem Zweiten Weltkrieg Nazis Unterschlupf gewährt. Das geht aus einem 600 Seiten umfassenden, bisher geheimen Bericht des US-Justizministeriums hervor, über den nun die »New York Times« berichtete.

Dass man sogar hochrangige Nazi-Kriegsverbrecher und solche, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatten, nicht nur in die USA hinein ließ, sondern systematisch hinein holte, um von deren Wissen zu profitieren, ist wahrlich bekannt. Im Bericht wird dennoch zurecht von einer »Kollaboration der Regierung mit den Verfolgern« gesprochen.

Insgesamt handele es sich um »weniger als zehntausend Helfer des Hitler-Regimes«. Als Beispiel wird Arthur Rudolph angeführt. Der Raketenbauer war an der Entwicklung der V2-Wunderwaffe beteiligt. Nach der Verlegung des Produktionsstandortes von Peenemünde in unterirdische Stollen bei Nordhausen war Rudolph als Betriebsdirektor der Mittelwerke zuständig auch für den Häftlingseinsatz. Nach dem Ende des Nazi-Reiches wurde er mit Wernher von Braun und weiteren Ingenieuren in die USA gebracht, wo sie am Pershing- und dann am Saturn-V-Mond-Programm arbeiteten.

Die »New York Times« berichtet über Otto von Bolschwing, der als enger Mitarbeiter von Adolf Eichmann maßgeblich für die Ermordung europäischer Juden verantwortlich war. Die CIA habe ihrem Mitarbeiter 1954 zur Einwanderung in die USA verholfen.

Der Bericht enthält auch makabre Passagen. So soll der Nazijäger-Abteilungschef im US-Justizministerium Kopfhautfetzen von KZ-Arzt Josef Mengele – der wegen seiner grausamen Menschenversuche »Todesengel von Auschwitz« genannt wurde – in einer Schublade aufbewahrt haben. »Seltsamerweise« ist es nie gelungen, Mengele zu fassen, obwohl seine Aufenthaltsorte in Südamerika bekannt waren. 1985 öffnete man sein Grab in Brasilien, um sicher zu sein, dass sich das »Kapitel Mengele« erledigt hat.

Der »Skalp von KZ-Arzt Mengele in Schublade von Nazijäger« ist deutschen Boulevard-Blättern eine Nachricht wert. Trotzdem ist der Beitrag zur Aufarbeitung der Nachkriegs-Nazigeschichte so gering wie Fortsetzungsgeschichten über Hitlers Fliegende Untertassen, »Reichsflugscheibe« genannt.

1979, im Todesjahr Mengeles, hatte das US-Justizministerium eine spezielle Untersuchungseinheit eingerichtet, um in den USA lebende Nazis aufzuspüren und sie des Landes verweisen zu können. Dem OSI (Office of Special Investigation) gehörten Anwälte, Historiker und Kriminalisten an. 300 Nazi-Schergen hat man aufgespürt. Ihnen wurde die US-Staatsbürgerschaft aberkannt, sie wurden abgeschoben oder ihnen wurde die Einreise verwehrt.

Fertiggestellt worden sei der Bericht über die Nazis in den USA schon 2006, berichtet die »New York Times«. Doch das Justizministerium habe auf formale Unzulänglichkeiten und »faktische Fehler« hingewiesen und eine Freigabe verweigert. Erst als eine private Forschungsgruppe mit Klage drohte, habe die Behörde eingelenkt. Die Forscher beriefen sich auf das Informationsfreiheitsgesetz.

Damit sowie in Sachen Aufarbeitung der Nazi-Nachkriegsgeschichte sind die USA deutschen Behörden ein großes Stück voraus. In Deutschland liegen dagegen zahlreiche staatliche Dokumente unter Verschluss. Beispiel Bundesnachrichtendienst (BND), vormals Organisation Gehlen. Seit Kriegsende hat der Geheimdienst auch in »Nazi-Sachen« aufs Engste mit US-Partnern zusammengewirkt. Während der BND »Interessen Dritter« betont, wenn es um die Kollaboration mit Nazi-Tätern geht, berücksichtigen die US-Partner vor der Veröffentlichung von entsprechenden Dokumenten Schwärzungswünsche des BND.

BND-Präsident Ernst Uhrlau behauptete bereits 2006, dass der Dienst seine Geschichte mit all ihren tiefbraunen Flecken aufarbeiten werde. Für 2010 waren dafür im BND-Etat sogar 500 000 Euro eingeplant. Doch sie werden nach Informationen aus dem Kanzleramt wohl nicht abgerufen werden. Das BND-Archiv, so wird kolportiert, sei in einem nicht recherchefähigen Zustand und personell unterbesetzt.

Dennoch soll sich angeblich noch in diesem Monat unter der Leitung des Marburger Historikers Wolfgang Krieger eine Kommission konstituieren. Man will ihr vier Jahre Zeit einräumen, um die Anfangsjahre des deutschen Auslandsnachrichtendienstes zu dokumentieren. Beigegeben wird der Kommission eine spezielle Arbeitsgruppe des Dienstes. Sie wird nicht nur beratende Funktion haben, denn es ist dem Vernehmen nach nicht geplant, den Historikern uneingeschränkten Zugang zu allen Akten zu verschaffen.

Aus einem druckfrischen Antrag der Bundestag-Linksfraktion:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
  1. bis zum Ende der Legislaturperiode eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Bundesministerien auf den Weg zu bringen...;
  2. vorhandene Studien zur NS-Geschichte einzelner Ministerien dahingehend auszuweiten, dass auch die Geschichte ihres personellen und inhaltlichen Übergangs in die Bundesrepublik untersucht wird;
  3. dem Bundestag einen Finanzierungsplan für dieses Vorhaben bis zum Sommer 2011 vorzulegen;
  4. entsprechende Ausschreibungen auf den Weg zu bringen und Kommissionen von Historikerinnen und Historikern zu bilden...;
  5. dafür Sorge zu tragen, dass die notwendigen Aktenbestände den Historikerkommissionen uneingeschränkt zur Verfügung stehen. (17/3748)


* Aus: Neues Deutschland, 17. November 2010


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