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Menschenrechte im Sog der Krise

Kommissar des Europarats rügt Stimmungsmache in Deutschland gegen Migranten *

In Deutschland werden Einwanderer schlecht behandelt und sind die Menschenrechte ausbaufähig, ganz Europa rückt nach rechts. Die ökonomische Krise zeitigt politische Folgen.

Thomas Hammarberg, der Menschenrechtskommissar im Europarat, hat der Bundesregierung vorgeworfen, in der Integrationsdebatte Stimmung gegen Migranten zu machen. Er sei zutiefst schockiert gewesen über die Aussage von Bundeskanzlerin Angela Merkel, das Multi-Kulti-Konzept habe versagt. »Wenn wir an diesem Konzept nicht festhalten, bedeutet dies eine dramatische Kehrtwendung europäischer Werte«, sagte er.

Einwanderern würden Auflagen gemacht, die an Unterdrückung grenzten, kritisierte Hammarberg. Er bezeichnete es als großen Fehler, von Migranten zu fordern, sie sollten umgehend Deutsch lernen und sich nationalstaatlichen Eigenheiten anpassen. Dieser Druck sei unnötig. »Fühlen sich die Menschen nicht willkommen, isolieren sie sich«, sagte Hammarberg. Das berge Gefahren sowohl für die Staaten als auch die Minderheiten.

Amnesty International forderte von der Bundesregierung mehr Einsatz für die Menschenrechte. Wegen der Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat in den kommenden beiden Jahren sei Deutschland besonders gefordert, sagte die Generalsekretärin der deutschen Sektion, Monika Lüke.

Sie forderte Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) auf, ein Gesetz über die Rechte und Pflichten von Soldaten bei Auslandseinsätzen vorzulegen. Dabei müsse geklärt werden, wie die Menschenrechte von Zivilisten und Aufständischen zu schützen seien. Für deutsche Polizisten forderte Lüke die Einführung einer Kennzeichnungspflicht, so wie in Berlin Anfang 2011 geplant.

Beide Experten für Menschenrechte übten auch an den anderen Staaten der Europäischen Union Kritik. Sie kritisierten etwa die Hetze und die Benachteiligung von Roma in vielen Staaten. »Wir haben eine Atmosphäre in Europa geschaffen, in der Migranten wie Feinde behandelt werden«, sagte Hammarberg. Islamfeindliche Äußerungen hätten in diesem Jahr deutlich zugenommen, und rechtspopulistische Strömungen hätten Zulauf

Für ihn hängt der Rechtsruck in Europa unmittelbar mit der Wirtschaftskrise zusammen. »Wenn die wirtschaftliche Krise nicht gelöst werden kann und die Eurozone zusammenbricht, wird der Fremdenhass zunehmen«, befürchtet er. Neben der ökonomischen durchlebe Europa eine politische Krise. Der Umgang mit Migranten sei zu einer der größten Herausforderungen geworden. »Der alternde Kontinent vergisst dabei, dass er Migranten braucht, um den Wohlstand in Europa zu halten«, sagte Hammarberg.

* Aus: Neues Deutschland, 27. Dezember 2010


Teilen ist nicht

Von Regina Stötzel **

Es fällt auf: Der Ton, mit dem über Einwanderer und ihre Herkunftsländer gesprochen und geurteilt wird, hat sich insbesondere in Deutschland verschärft. Und das ist genau zu einer Zeit geschehen, in der sich die Politiker hierzulande brüsteten, die große Krise souverän gemeistert zu haben, während viele andere Länder an deren Folgen laborierten. Teilen ist eben nicht jedermanns Sache. Für den Menschenrechtskommissar im Europarat, Thomas Hammarberg, droht bereits jetzt eine »dramatische Kehrtwendung europäischer Werte«, und er befürchtet noch Schlimmeres, sollte die Eurozone auseinanderbrechen.

Schon jetzt gelten Migranten hierzulande als potenzielle Abzocker oder Terroristen und müssen für jede Misere in Problembezirken herhalten. Die südeuropäischen Länder nebst ihren Bewohnern werden als faul und verschwenderisch diffamiert. Sie seien selbst an ihrer Pleite schuld, weil sie keine Reformen zustande gebracht hätten. Gemeint sind damit wohl staatliche Verarmungsprogramme wie die Hartz-Gesetze und der Ausbau des Niedriglohnsektors. »Bild« verglich Deutschland mit einem »sparsamen Hausbesitzer« und zeigte Verständnis dafür, dass dieser nicht seinen »verschwenderischen 26 Nachbarn zuliebe« höhere Kreditzinsen zahlen will.

Willkommen ist allein handverlesenes Menschenmaterial für die deutsche Wirtschaft. Es soll die wirtschaftlichen Erträge noch vergrößern, von denen man dann erst recht nichts abgeben will.

** Aus: Neues Deutschland, 27. Dezember 2010 (Kommentar)


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