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60 Jahre Ostlandreiter

Von Arnold Schölzel *

Fünf Jahre nach dem Sieg über den deutschen Faschismus schien in der jungen Bundesrepublik die Zeit reif, die Schmach des 8. Mai 1945 zu tilgen. Die DDR hatte im Vertrag von Zgorzelec am 6.Juli 1950 die Oder-Neiße-Grenze zu Polen anerkannt und damit auf die früheren deutschen Gebiete ostwärts davon verzichtet, was in Bonn noch 40 Jahre später für Unwillen sorgte. Am 17. August 1950 befürwortete Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) erstmals öffentlich die Aufstellung einer neuen deutschen Armee. Elf Tage zuvor verabschiedeten die sogenannten Landsmannschaften auf einer Großkundgebung in Bad Cannstatt in Anwesenheit von Mitgliedern der Bundesregierung die am Tag zuvor proklamierte »Charta der Heimatvertriebenen«. Zentraler Satz, proklamiert von den Anwesenden »im Bewußtsein ihres deutschen Volkstums«: »Wir Heimatvertriebene verzichten auf Rache und Vergeltung«. Die Jahre des Zweiten Weltkriegs von 1939 bis 1945 gibt es in dem Papier nicht. Zum Überfall der faschistischen Armeen auf Polen, zu Massenmord, Vernichtung der Industrie oder dem Raub polnischer Kulturgüter fehlt jedes Wort.

Daran hat sich auch 2010 nichts geändert. Die Pflege des Ressentiments insbesondere gegen Polen und Tschechien bleibt Teil bundesdeutscher Staatsräson. Die mit Dutzenden Millionen Euro pro Jahr aus dem Staatshaushalt gepäppelten Revancheorganisation, die sich Bund der Vertriebenen (BdV) nennt – seine Präsidentin, die Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach (CDU), ist die in Polen geborene Tochter eines deutschen Besatzungssoldaten – kann sich auf ein Dauerdasein als Reserve für Ostlandreiterei einrichten.

Entsprechend dreist waren die Töne, die am Donnerstag (5. Aug.) in Stuttgart zu hören waren. Frau Steinbach wies vor etwas 450 Teilnehmern Kritik an der »Charta« zurück. Ihr seien die Argumente der Kritiker »nicht tragfähig genug, weil sie ganz überwiegend aus heutiger Sicht gespeist« seien. Zugleich hob sie den in der Erklärung verankerten »Protest gegen das Unrecht der Vertreibung« hervor. Sie bekräftigte zudem die Forderung des BdV, den 5.August zum »Nationalen Gedenktag für die Opfer von Vertreibung« zu bestimmen. Ein Bundesratsbeschluß dafür vom 11.Juli 2003 sei bis heute nicht umgesetzt.

Entgegen den Tatsachen behauptete die CDU-Politikerin, es stehe fest, daß vom Faschismus geprägtes oder extremistisches Gedankengut niemals Eingang in die Verbandspolitik gefunden habe. Zuvor hatte sie Bundestagspräsident Norbert Lammert und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (beide CDU), die ebenfalls Reden halten wollten, und Außenminister Guido Westerwelle (FDP) unter den Gästen begrüßt. Westerwelles Erscheinen sei ein »gutes Signal der Verbundenheit und des Miteinanders«, das sie sehr zu schätzen wisse, betonte sie begleitet von Pfiffen aus dem Publikum. Westerwelle hatte eine Entsendung Steinbachs durch den Bund der Vertriebenen in den Stiftungsbeirat des »Zentrums gegen Vertreibungen« abgelehnt. Steinbach hatte infolge des Streits in der Regierungskoalition auf den von ihr beanspruchten Sitz verzichtet. Der BdV durfte als Kompensation einen zusätzlichen Vertreter in das Gremium entsenden und bestimmte zwei notorische Verharmloser von Faschismus und Krieg.

Die Innenexpertin der Linken, Ulla Jelpke, nannte die Charta ein »Dokument des Revanchismus«. Das angebliche Bekenntnis zu Versöhnung und Frieden sei nur schwer herauszulesen. Sie rügte, daß in dem Papier die Vertriebenen die »vom Leid dieser Zeit«, also den Folgen des Zweiten Weltkriegs, als die »am schwersten Betroffenen« bezeichnet werden.

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, nannte die Charta historisch einseitig. Sie reduziere die Problematik zu sehr auf das Schicksal der deutschen Vertriebenen.

* Aus: junge Welt, 6. August 2010

Dokumentiert:

Vertriebenen-Charta ist ein Dokument des Revanchismus

Pressemitteilung, 05.08.2010 – Ulla Jelpke

„Die Charta der Heimatvertriebenen bleibt ein Dokument des Revanchismus“ so Ulla Jelpke anlässlich des 60. Jahrestages der Verkündung dieser Erklärung. Die innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE weiter:

"Der nun von Erika Steinbach und anderen hervorgehobene Charakter der Charta als Dokument von Versöhnung und Friedenswillen ist dort nur schwer herauszulesen. Die Rede ist von einem 'Verzicht auf Rache und Vergeltung’ und davon, dass die Vertriebenen die ‚vom Leid dieser Zeit' – also des Zweiten Weltkriegs – 'am schwersten Betroffenen' seien.

Damit werden die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, der Rassevernichtungskrieg der Wehrmacht gegen die Bevölkerung Osteuropas und schließlich der Holocaust verschwiegen und verharmlost. Die Aussiedlung der Deutschen aus den Staaten Osteuropas war eine unmittelbare Folge dieser Verbrechen. Wer in diesem Kontext sagt, auf Rache verzichten zu wollen, verdreht bewusst historische Zusammenhänge.

Dass die Verkündung der Charta in der von Hitler ernannten Stadt der Auslandsdeutschen, in Stuttgart, stattgefunden hat, zeigt bis heute, wes Geistes Kind diese Charta ist. Dass der Festakt ebenfalls dort stattfindet zeigt, wie weit der Bund der Vertriebenen von einer kritischen Aufarbeitung seiner Geschichte noch entfernt ist."




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