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Der Kriegstreiber

Die vergessene Bismarck-Biographie von Max Lehmann wurde neu aufgelegt

Von Reiner Zilkenat *

Zum 200. Geburtstag Otto von Bismarcks am 1. April 2015 erschienen nicht wenige neue Biographien. In Zeitungen und Zeitschriften wurden zahlreiche Beiträge veröffentlicht, um die Politik des ersten Kanzlers des Deutschen Kaiserreiches zu charakterisieren und die Frage zu beantworten, ob aus seinem Wirken Lehren für die Gegenwart gezogen werden könnten.

Dabei überwogen positive Bewertungen, vor allem der Außenpolitik Bismarcks. Es fehlte aber auch nicht an lobenden Worten über seine Sozialgesetzgebung in den 1880er Jahren. Eine dezidiert kritische Stimme fehlte in den herrschenden Medien.

Es ist das große Verdienst des Donat-Verlages, die zum ersten Mal 1948 publizierten Vorlesungen des 1929 verstorbenen Historikers Max Lehmann zur Politik Bismarcks wiederaufgelegt zu haben. Damit kommt einer der seltenen Bismarck-kritischen bürgerlichen Autoren zu Wort.

Lehmann hatte bereits 1906 damit begonnen, als Professor an der Universität Göttingen Lehrveranstaltungen zu Otto von Bismarck durchzuführen, in denen er besonders dessen Skrupellosigkeit bei der bewussten Auslösung der drei »Einigungskriege« von 1864, 1866 und 1870/71 herausarbeitete. Für Lehmann war die durch »Eisen und Blut« herbeigeführte Einigung Deutschlands »von oben« und unter preußischer Dominanz ein Makel, der dem Kaiserreich von Beginn an anhaftete. Seit seiner Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten am 23. September 1862 war Bismarcks »Parteiprogramm die Vergrößerung und Verstärkung Preußens«. Dabei galt ihm als Grundsatz seines Handelns: Der Zweck heiligt die Mittel. Mit den Worten Max Lehmanns: Preußen wurde »von dem skrupellosesten Politiker seiner Zeit regiert«.

Obwohl ein eher konservativer Geist, war Lehmann ein entschiedener Gegner der damals vorherrschenden Anschauung, politische Ziele mit militärischen Mitteln realisieren zu können. »Merkwürdig«, so schrieb er zutreffend, dass »diejenigen, die den Krieg als Stahlbad für die Nationen preisen, niemals den Anfang gemacht haben wollen.« Lehmann zeichnet detailliert die Vorgeschichte der »Einigungskriege« nach und legt die Provokationen und Manipulationen Bismarcks frei, mit deren Hilfe Preußen als »Angegriffener« erschien und die Öffentlichkeit, besonders die ursprünglich strikt oppositionellen liberalen Parteien im Preußischen Abgeordnetenhaus, in einen Kriegstaumel versetzt werden konnte. Von nun an regierte auf bürgerlicher Seite die »Realpolitik«, die nichts anderes bedeutete als die grundsätzliche Zustimmung zum Bismarckschen Vorgehen: »Einheit vor Freiheit!« lautete fortan ihr Motto.

Max Lehmanns Urteile über Bismarck sind scharf formuliert und das genaue Gegenteil dessen, was beinahe alle Historiker zu seiner Zeit – und noch viele Jahrzehnte danach – verbreiteten. Sie stellen vielmehr eine Entmystifizierung des gängigen Bildes vom »ehrlichen Makler« in den internationalen Konflikten dar. Auch die Frage nach Krieg und Frieden, weist der Autor nach, war für Bismarck eine Frage der Opportunität. Sie war eingebettet in den von ihm angestrebten Aufstieg Preußens zur Hegemonialmacht in Deutschland und Mitteleuropa – koste es, was es wolle. Aber auch in der Darstellung der innenpolitischen Projekte Bismarcks finden sich sehr kritische Bewertungen Lehmanns. Es wird deutlich, dass die Verhinderung jeder Demokratisierung wie auch die Konservierung der sozialen und politischen Macht seiner Klasse, des Junkertums, stets im Zentrum seines Denkens und Handelns stand. Leider bricht die Darstellung mit den Jahren 1870/71 ab, gern würde man weiterlesen.

Hervorhebenswert sind die informativen Beiträge zum Leben Max Lehmanns aus der Feder seiner Tochter und von Gerd Fesser sowie eine von Helmut Donat verfasste, über 100 Seiten starke Chronik zum preußischen Heeres- und Verfassungskonflikt und zu den Kriegen von 1864 bis 1870/71. Auch wenn der Autor die klassenpolitischen Grundlagen der damals politisch Handelnden weitgehend unberücksichtigt lässt: Die Bismarck-Biographie ist eine erfrischend unkonventionelle Darstellung, die übrigens auch komplizierte diplomatische Vorgänge bei der Entfesselung dreier Kriege durch den Staatsmann verständlich erläutert. Dem Verlag ist zu danken, dieser unverwechselbaren Stimme eines bürgerlichen Bismarck-Biographen Gehör verschafft zu haben.

Max Lehmann: Bismarck – Eine Charakteristik. Herausgegeben von Gertrud Lehmann. Donat Verlag, Bremen 2015, 16,80 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 11. Mai 2015


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