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Die Junta von Germanistan

Die Affäre um die Gauck-Kritik des Linkspolitikers Müller wirft ein Schlaglicht auf eine Dunkelkammer des Rechts

Von Velten Schäfer *

Bis zu fünf Jahre kann inhaftiert werden, wer den Bundespräsidenten »verunglimpft«: Das politische Strafrecht der Bundesrepublik enthält gefährliche Atavismen.

»Fünf Jahre Haft« für Norbert Müller? Nicht nur »Focus Online« schien sich das zu wünschen, als man über die vermeintliche »Verunglimpfung« des Bundespräsidenten durch den brandenburgischen Linkspolitiker berichtete. Und es wäre tatsächlich interessant gewesen, wie ein Gericht entschieden hätte. Denn was ist genau »Verunglimpfung« – und was demgegenüber Kritik?

Linksfraktionschef Gregor Gysi wurde im Plenum diesbezüglich von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) angefahren: Er müsse den Präsidenten »korrekt« zitieren. Gysi hatte gesagt, Gauck fordere die Teilnahme »an noch mehr Militäreinsätzen«. Trifft das etwa nicht zu? Lammert zufolge hätte der Oppositionsführer wohl das Gerede über die Ultima Ratio mitliefern müssen, mit dem bisher noch jeder Krieg begründet wurde und zu dem auch der Bundespräsident gerne greift.

Zu einer strafjuristischen Auseinandersetzung über das Verhältnis von Gesagtem und Gemeintem wird es einstweilen nicht kommen, weil das Bundespräsidialamt einer Verfolgung Norbert Müllers nicht zustimmt. Vermutlich wird sich das Affärchen auch bald verziehen. Es wirft allerdings ein Schlaglicht auf eine Dunkelkammer des deutschen Strafrechts – auf jenen Teil desselben, von dem viele Bürger denken, es gebe ihn gar nicht: das Reich der politischen Gummiparagrafen, mit denen sich zur Not, bei scharfer Auslegung und veränderter Rechtssprechungspraxis in Germanistan auch eine Militärjunta betreiben ließe.

So kann die »Verunglimpfung des Bundespräsidenten« nach Paragraf 90 des Strafgesetzbuches mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Bis zu drei Jahre stehen auf »Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole«, also etwa der Fahne oder des Staatswappens; deren »Ansehen« darf nicht beschädigt werden. Darüber hinaus sieht das Strafrecht für »üble Nachrede« oder »Verleumdung« von »Personen des öffentlichen Lebens« härtere Strafen vor als bei Privatleuten: Wer nur seinen Nachbarn schlechtmacht, riskiert nach Paragraf 187 Strafgesetzbuch höchstens zwei Jahre, solange er seine Äußerungen nicht breit publiziert. Bei Politikern dagegen geht es nach Paragraf 188 sofort um bis zu fünf Jahre.

In erheblichen Teilen der Fachwelt gelten diese Bestimmungen als atavistisch. Besonders die Präsidentenverunglimpfung, die die Verfolgung von einem Placet des Amtsträgers abhängig macht, erinnert Kritiker an Tatbestände der »Majestätsbeleidigung« aus vordemokratischen Zeiten: »Historisch betrachtet basiert die gesetzliche Formulierung eines besonderen Ehrschutzes des Staatsoberhauptes auf dem preußischen StGB von 1851 und dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871, wenn auch die Wurzeln der Strafbarkeit eines ›crimen maiestatis‹ bereits im römischen Recht zu finden sind«, kommentierte etwa der angesehene Fachdienst »Legal Tribune« 2012. An der Fahnen- oder Wappenbeleidigung, die auf Weimarer Gesetze zurückgeht, ist politisch problematisch, dass nicht sauber zwischen »Staat« und »Verfassung« unterschieden wird.

Natürlich gibt es eine Rechtsprechung, die Verfolgungsexzesse ausschließen soll. Das Bundesverfassungsgericht hat etwa in einem Fall, in dem es um ein Urinieren auf die Fahne ging, auf Kunstfreiheit entschieden: Der Staatssymbolschutz dürfe nicht zur Immunisierung gegen Kritik und ausdrücklich auch »Ablehnung« führen. Karlsruhe hat auch im Sinne eines Aktivisten geurteilt, dem wegen des Abspielens des Refrains »Deutschland muss sterben« eine empfindlich hohe Geldstrafe aufgebrummt worden war.

Doch nicht einmal Höchstrichtersprüche sind in Stein gemeißelt. In Strafrechtslehrbüchern werden zu gerade diesen Fällen auch Gegenargumente aufgeführt. Wie schnell sich der »Geist« von Gesetzen verkehren kann, hat dieses Land schon erlebt. Dauerhaft rechtssicher wäre nur eine Abschaffung solcher Paragrafen.

Das aber hat schon lange niemand mehr zu fordern gewagt. Stattdessen ist der Umgang mit dem Thema landestypisch bigott. Lautstark kritisieren deutsche Politiker den türkischen Straftatbestand der »Verunglimpfung des Türkentums«, aufgrund dessen immer wieder Aktivisten, Presseleute und sogar Literaten ins Gefängnis gesteckt werden. Aus der Union ist regelmäßig zu hören, das Land dürfe speziell wegen dieses Gesetzes – nicht nur wegen dessen aggressiver Auslegung – nicht in die EU. Kritik an den deutschen Regelungen hat man von diesen Politikern dagegen noch nie vernommen.

* Aus: neues deutschland (online), 27. Juni 2014

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Herr Gauck, der Krieg und die Debatte

Jürgen Reents über die Anmerkung des Bundespräsidenten zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr **

Die meisten Kommentatoren sind sich einig, dass der Bundespräsident mit seiner Anmerkung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr eine »notwendige Debatte angestoßen« hat. Eine Debatte stößt man an, wenn man eine vorhandene Situation ändern, zu einer früheren zurückkehren oder über sie hinaus will. Dem Bundespräsidenten geht es zweifellos um Letztgenanntes: Er will bereits gemachten Schritten weitere hinzufügen.

Klären wir die vorhandene Situation. Die Bundeswehr ist derzeit in 13 Ländern bzw. Regionen an internationalen »Einsätzen« beteiligt: in Kosovo seit 1999, in Afghanistan, im Mittelmeer und am Horn von Afrika seit 2002, vor der Küste Libanons und in der Demokratischen Republik Kongo seit 2006, in Somalia seit 2010, in Sudan und in der Türkei nördlich der syrischen Grenze seit 2012, in Mali und Senegal, der Zentralafrikanischen Republik, in Südsudan und in der Westsahara seit 2013.

Aktiv vor Ort sind momentan rund 5000 deutsche Soldaten, vom Parlament dafür mandatiert bis zu 7000. Die meisten der »Einsätze« finden im Rahmen sogenannter Missionen der NATO oder der EU statt, für manche gibt es einen Auftrag seitens der UNO. Die meisten der »Einsätze« werden mit einem Schutz vor Terrorismus, der Stabilisierung fragiler Regime und humanitärer Hilfe begründet, doch ist auch anderes erkennbar: Zumindest im Fall von Afghanistan ließ ein Verteidigungsminister vor drei Jahren plötzlich die zuvor geübten Dementis fallen und räumte ein, man könne »umgangssprachlich von Krieg« reden. Die Kanzlerin folgte mit der Truppenansprache, die Bundeswehr würde »in Gefechten stehen – so wie Soldaten das in einem Krieg tun«.

Nun also: Der Bundespräsident will »eine Debatte anstoßen«. Er sagte (nein: wiederholte), man solle »den Einsatz militärischer Mittel als letztes Mittel nicht von vornherein verwerfen«. Das tun deutsche Regierungen jedoch seit über zwanzig Jahren nicht mehr. Der Bundespräsident sagte ebenfalls, es sei »manchmal erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen«. Auch dazu sind alle Bundesregierungen seit langem bereit, beginnend mit den Bombenabwürfen über Belgrad, Varvarin und anderen Orten in Serbien. Darum noch einmal: Wenn der Bundespräsident eine »Debatte anstoßen« will, dann wäre es albern anzunehmen, er wolle lediglich über eine vorhandene Situation belehren. Er möchte ein Einverständnis erzeugen, dass die Bundeswehr weiter gehen darf als bislang.

Wie darf man jemanden nennen, der solches will? Dem einen fiel die Bezeichnung »überdrehter Gotteskrieger« ein (Jürgen Todenhöfer), dem anderen »Kriegshetzer« (Norbert Müller von der Brandenburger LINKEN), einem dritten in der Wortwahl viel feiner der »Feldprediger« (René Heilig in dieser Zeitung). Dem unterschiedlichen sprachlichen Temperament gemeinsam ist der wahre Kern: Herr Gauck möchte mehr als tausendfachen Soldatenversand, mehr als dreizehn Interventionen, mehr als mindestens eine Kriegsbeteiligung.

In einigen Medien wird die edle Haltung des Bundespräsidenten hervorgehoben, seine Kritiker nicht wegen Verunglimpfung vor Gericht zu zerren. Aber vielleicht ist Herr Gauck weniger edelmütig als schlau, will kein weiteres Grübeln, ob es sich denn um Verunglimpfung handelt?

Sein Vorvorgänger im Amt, Horst Köhler, erntete noch breiten Widerspruch, als er im Mai 2010 in einem Interview sagte, »dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern«. Neun Tage später trat er wegen der Kritik daran zurück.

Köhler sah Deutschland dabei »auf einem nicht so schlechten Weg«. Und das scheint es in diesem Sinne auch zu sein, wenn man betrachtet, wie jetzt die Kritiker des Bundespräsidenten Maß genommen werden. Dabei ist Gaucks Einlassung mit seinen Menschenrechts-Girlanden weniger redlich, als es die von Köhler war. Zudem: Das Interview mit Gauck liegt nun schon mehr als neun Tage zurück.

** Aus: neues deutschland, Samstag 28. Juni 2014 (Kommentar)


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