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Wer in der Gesellschaft das Sagen hat

Ecuadors Präsident Rafael Correa über die Eurokrise, die Emanzipation Lateinamerikas und Venezuelas Krise *


Rafael Correa ist studierter Wirtschaftswissenschaftler. Vor seinem Einstieg in die Politik wirkte er zunächst als Professor in seiner Geburtsstadt an der Universidad Católica de Santiago de Guayaquil. 1993 wechselte er an die private Universidad San Francisco in der Hauptstadt Quito. Von Gastaufenthalten unterbrochen, lehrte er dort bis 2005 als Professor für Wirtschaftswissenschaften. Im Jahr darauf gründete der heute 50-Jährige die linksorientierte Sammlungsbewegung Alianza PAÍS, die Allianz für ein aufrechtes und souveränes Vaterland, deren Vorsitzender er wurde. 2006 gewann Correa erstmals die ecuadorianische Präsidentenwahl, 2009 und 2013 wurde er wiedergewählt, in beiden Fällen mit absoluter Mehrheit im ersten Wahlgang. Correa ist Vater dreier Kinder. Er gilt manchen als prädestinierter Nachfolger von Hugo Chávez als linke Stimme Lateinamerikas.
Mit dem Präsidenten Ecuadors, der auf einer Europareise ist, sprach für »nd« in Berlin Harald Neuber.


nd: Herr Präsident, Hunderttausende Europäer leiden derzeit unter den Folgen der Eurokrise, vor allem in den südlichen Staaten der EU: Griechenland, Zypern, Spanien. Während die EU an den alten Rezepten festhält, propagiert Ihre Regierung das Konzept des »Guten Lebens«. Diese Frage stellen sich wohl viele EU-Bürger gerade: Wie lebt man gut? Und vor allem: Wie kann eine Regierung das »Gute Leben« garantieren?

Correa: Nun, garantieren kann es niemand, aber man kann die Grundlagen schaffen. Es ist aber übrigens kein Konzept meiner Regierung, sondern der Ureinwohner. Es stammt von der Volksgruppe der Aymara in Bolivien, wurde aber auch von den Angehörigen der Quichua in Ecuador angenommen. In dieser Sprache heißt es »Sumak Kawsay«. Es geht dabei darum, in Würde zu leben, ohne nach immer mehr Reichtum zu streben. Es geht darum, in Harmonie mit der Natur und den Mitmenschen zu leben. Aus dieser Position der Ureinwohner leitet sich die Kritik unserer Regierung am Konsummodell der westlichen Staaten ab.

Bei Ihrem Besuch in Berlin haben Sie sich auch mit der Eurokrise befasst. Bei einer Konferenz in der Technischen Universität Berlin sagten Sie, Lateinamerika habe bereits zur Genüge erlitten, was Europa gerade durchlebt. Kann Europa von Ihnen lernen?

Es kommt darauf an, ob das Ziel darin besteht, die Krise schnell und mit minimalen Belastungen für die Menschen zu überwinden. In solch einer Situation geht es zunächst natürlich um die Fehler, die gemacht wurden. Etwa bei der Einführung des Euros oder bei der mangelnden Angleichung von Produktivität, Löhnen und Gehältern. Wenn aber der Wille besteht, diese Krise ohne große Folgen für die einfache Bevölkerung zu meistern, dann kann Europa viel von Lateinamerika lernen. Die erste Lehre besteht darin, nicht die gleichen Fehler zu begehen, die wir gemacht haben. Denn die Maßnahmen, die einst in Lateinamerika getroffen wurden, haben die Krise verlängert und verstärkt. Und eben die gleiche Politik sehen wir nun in Europa.

Am Mittwoch sind Sie in Berlin mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammengekommen. Haben Sie den Eindruck, dass Deutschland und Europa ein offenes Ohr für die Lehren aus Lateinamerika haben?

Wissen Sie, ich gebe in der Regel keine Ratschläge, wenn ich nicht darum gebeten werde. Von der TU Berlin aber wurde uns das Thema »Wege aus der Krise« vorgeschlagen. Wir haben dafür also einige der Krisen in Lateinamerika mit den aktuellen Problemen in Europa verglichen. Die Ähnlichkeiten sind beeindruckend. Anfang der 80er Jahre hatten wir auch eine Schuldenkrise. Sie rührte daher, dass das internationale Finanzkapital uns Kredite geradezu aufgezwungen hat. In vielen Fällen ging dieses überflüssige Geld der Finanzmärkte an Diktaturen ohne jedwede soziale Kontrolle oder demokratische Legitimation. Als dann die Krise einsetzte, kam der Internationale Währungsfonds mit seinen sogenannten Hilfspaketen. Ging es ihnen darum, diese Krise zu überwinden? Nein, es ging allein darum, die Rückzahlung der immensen Schulden zu gewährleisten. Deswegen hat sich die Lösung der Krise über zehn Jahre hinausgezögert. Heute ist von dem verlorenen Jahrzehnt für Lateinamerika die Rede. Ecuador etwa ist in die 90er Jahre mit dem gleichen Pro-Kopf-Einkommen gestartet wie es das Land schon 1976 verzeichnet hatte. Und all dies, weil die Interessen der Banken bedient und nicht die Interessen der Menschen beachtet wurden. Diesen Fehler sehen wir heute auch in Europa.

Ist also ein neuer Dialog zwischen den Ländern des Nordens und denen des Südens nötig?

Die Probleme Europas werden von den Europäern gelöst werden müssen. Die Lehre aber ist, dass sich auch Europa heute Gedanken um die Politische Ökonomie machen muss. Es gibt in dieser Krise große politische Probleme, keine technischen. Es geht darum, wer in der Gesellschaft das Sagen hat. Machen wir uns nichts vor: Auch in Ecuador hat in der Vergangenheit das Finanzkapital die Politik bestimmt. Und darum geht es: Um die Rückeroberung der Kontrolle des Menschen über das Kapital.

In Lateinamerika sind zu diesem Zweck in den vergangenen Jahren zahlreiche neue Bündnisse entstanden. Wie hat das die internationale Politik verändert und wie kann die Finanzarchitektur beeinflusst werden?

Wir entwickeln diese Projekte Schritt für Schritt und haben schon einiges erreicht. Was die Union südamerikanischer Staaten, die UNASUR, seit ihrer Gründung 2008 vermocht hat, geht weit über die Entwicklung der Europäischen Union im gleichen Zeitraum hinaus. Im Handel etwa. Es ist absurd, eine ausländische Währung wie den US-Dollar für die bilateralen Geschäfte zwischen lateinamerikanischen Staaten zu nutzen. Allein dadurch, dass wir in Ecuador einen Stuhl für, sagen wir, zehn US-Dollar an Venezuela verkaufen, beteiligen wir unwillkürlich die USA-Wirtschaft an dem Geschäft.

Eine andere Absurdität ist die Politik der autonomen Zentralbanken, die staatlichen Reserven außer Landes geschafft zu haben. Wir sprechen hier von 400 Milliarden US-Dollar, mit denen wir reiche Länder finanziert haben. Für diese Reserven auf ihren Banken haben wir lediglich 0,5 Prozent Zinsen bekommen, vielleicht bis zu ein Prozent. Im Gegenzug aber mussten wir uns für sechs bis sieben Prozent Zinsen Gelder leihen.

Es gibt aber auch Widerstände gegen die Politik der Neuen Linken in Lateinamerika. In Honduras und Paraguay wurden progressive Regierungen gestürzt. Gegen Ihre Regierung gab es einen Putschversuch, ebenso in Bolivien und Venezuela. Stimmt der Eindruck, dass die linken Regierungen in Lateinamerika es nicht schaffen, einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen?

Wie können wir einen Konsens erreichen, wenn wir gerade Jahrhunderte währende Strukturen zerschlagen? Sie haben fünf Versuche der Destabilisierung erwähnt, zwei davon erfolgreich. Alle fünf Putschversuche und Staatsstreiche richteten sich gegen progressive Regierungen. Keine einzige rechte Regierung war davon betroffen. Das zeigt doch ganz klar, was hier geschieht. Die Demokratie ist solange gut, wie sie nichts verändert. Aber mit den neuen Demokratien und den progressiven Regierungen gibt es eine Veränderung und das ruft mächtige Feinde auf den Plan. Wenn es ihnen genehm ist, verteidigen sie die Demokratie, aber wenn wir die Gegebenheiten auf demokratische Weise reformieren, zögern sie nicht, Präsidenten zu stürzen und zu ermorden. Das Problem ist, dass Lateinamerika von Europa und den USA aus nicht im Kontext betrachtet wird. Wenn ich in den USA auf Konferenzen zu Gast bin, bitte ich die Zuhörer gemeinhin, sich an den Kampf um die Bürgerrechte in den 60er Jahren zu erinnern, um die aktuelle Lage in Lateinamerika zu verstehen. Oder an den Kampf gegen die Sklaverei, durch den die USA in einen Bürgerkrieg geraten und fast zerbrochen sind.

Erklärt sich durch diese massiven Differenzen in den Gesellschaften auch der Konflikt nach den jüngsten Wahlen in Venezuela?

Ja. Die venezolanische Rechte hat immer versucht, ein knappes Ergebnis zu erreichen, um ihre Pläne der Destabilisierung in Gang zu setzen. Auch in der Ära von Hugo Chávez (1999-2013). Zum Glück waren während seiner Regierungszeit alle Wahlergebnisse sehr deutlich ausgefallen. Wenn Hugo Chávez mit nur wenigen Prozentpunkten Abstand gewonnen hätte, hätte die Opposition einen solchen Sieg bis heute nicht anerkannt. Der nun unterlegene Oppositionskandidat Henrique Capriles hat sich bei den letzten Gouverneurswahlen selbst nur mit einigen zehntausend Stimmen Vorsprung durchgesetzt. Nach dem Argument, das er nun anführt, hätte er damals das Amt nicht antreten dürfen. Nicolás Maduro hat sich am vergangenen Sonntag mit über 200 000 Stimmen durchgesetzt. Für uns ist und bleibt Nicolás Maduro der Gewinner dieser Wahl.

Sprechen wir über das Verhältnis zu den Medien. Weshalb stehen die linken Reformregierungen ausnahmslos in ständigem Konflikt mit den Medien?

Wer, denken Sie, gehört zu den Gegnern der laufenden Prozesse, über die wir eben gesprochen haben? Zu denjenigen, die Chaos schaffen und putschen? Wer war zur Zeit der Regierung Salvador Allendes der größte Verschwörer? Die Tageszeitung »El Mercurio«! Davon wird heute nicht mehr gesprochen, weil es gleich heißt, das sei ein Angriff auf die Meinungsfreiheit.

Wir unterscheiden sehr gut zwischen der Meinungsfreiheit und bestimmten korrupten Geschäften von Pressekonzernen, die in der Vergangenheit nichts als politische Instrumente waren, um den Status quo zu bewahren. Wie können wir die bürgerliche Presse nicht kritisieren, wenn sie zu den Vertretern der Kräfte gehört, die unser Land dominiert und ausgebeutet haben? Das ist doch nicht nur ein Problem unserer Staaten, sondern aller Menschen weltweit. Stellen Sie sich vor: Was wir wissen und was wir nicht wissen und was wir über Menschen denken, denen wir nie begegnet sind, das hängt von Privatkonzernen ab, die sich dem Geschäft mit der Information widmen. Konzernen, die sich, wenn es um das Recht auf Information und eigene Interessen geht, immer für mehr Gewinn entscheiden werden.

Sehen Sie darin einen Grund für das fehlende Verständnis für die progressiven Kräfte Lateinamerikas in der breiten Öffentlichkeit Europas?

Sicher, weil zwischen uns keine Information, sondern Propaganda steht. Und das sagen nicht nur wir. Sehen Sie, Mario Vargas Llosa, ein ausgemachter Rechter, hat seine Tätigkeit für das Blatt »El Comercio« in Lima während des letzten Wahlkampfes zwischen Ollanta Humala und Keiko Fujimori aus Protest beendet. Er tat das, weil die Redaktion die Wahrheit verdreht und andersdenkende Journalisten gefeuert hat. Eine Kritik an solchen Medien als Angriff auf die Pressefreiheit zu bezeichnen, ist ebenso absurd wie wenn wir Kritik am Präsidenten als Angriff auf die Demokratie ablehnen würden. Die Meinungsfreiheit ist ein Recht aller. Nicht nur derjenigen, die das Geld hatten, sich Druckmaschinen zu kaufen.

Haben Sie deswegen dem Mitbegründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, dem Australier Julian Assange, Asyl gewährt?

Seltsam, nicht? Ein Verteidiger der Informations- und Pressefreiheit wählt ein Land als Zufluchtsort, das einigen Medien zufolge die freie Meinung einschränkt. Julian Assange wird weiter unter dem Schutz des ecuadorianischen Staates bleiben, den wir ihm in Ausübung unseres souveränen Rechtes gewährt haben. Die Lösung dieses Falls liegt in den Händen Europas.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 19. April 2013


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