Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Indigene in Not

Mord an Familie rüttelt Ecuador auf. Immer mehr Ureinwohner sehen sich von Siedlern und Konzernen bedroht

Von Oliver Hölcke *

Die 35 Jahre alte Mutter aus Unión 2000, einem kleinen Regenwalddorf mitten im ecuadorianischen Amazonasgebiet, war mit ihren vier Kindern gerade zu Fuß auf dem Weg zur Schule. Der sieben, elf und 16 Jahre alte Nachwuchs sollte für den Unterricht im bevorstehenden Jahr angemeldet werden, das sechs Monate alte Baby kam im Tuch auf dem Rücken mit. Die Familie gehörte zu einer Gruppe von Siedlern aus dem Norden Ecuadors, die sich vor wenigen Jahren im Yasuni-Nationalpark ein Stück Land nahmen, um es für sich nutzbar machten.

»Auf dem planierten Waldweg standen auf einmal mehrere nackte Männer und Frauen mit Speeren,« berichtete die elfjährige Tochter später im Krankenhaus. Sie versuchte zu fliehen, wurde aber von einem Speer getroffen und stürzte. Sie mußte mit ansehen, wie ihr sechzehnjähriger Bruder und die Mutter von Lanzen durchbohrt auf dem Waldweg starben. Ihr kleiner Bruder konnte entkommen. Das Baby nahmen die Angreifer mit. Es wurde am nächsten Tag von Waldarbeitern lebend gefunden.

Angestammtes Gebiet

Der Überfall, der sich im August ereignete, erregte landesweit Aufsehen. »Die Speere stammen offenbar von den Tagaeri«, meinte Eduardo Pichilingue, Koordinator eines Projekts für den Schutz der Indigenen im Yasuni-Nationalpark. Zudem habe der Mord in der angestammten Heimat der Tagaeri stattgefunden, in der sie allerdings in den vergangenen 35 bis 40 Jahren nicht mehr gesehen wurden. Doch die Tagaeri seien Nomaden, die sich in ihrem Gebiet im Kreis bewegen und nach vielen Jahren wieder an ihre alten Plätze zurückkehren.

Roberto Narváez Collaguazo von der Stiftung Pachamama, die sich für die Belange der Indigenen in Ecuador einsetzt, erinnerte daran, daß es vor 30 Jahren in dieser Gegend noch keine Siedler gegeben habe: Diese seien erst in den vergangenen sechs bis acht Jahren gekommen und hätten sich das Land ohne Erlaubnis angeeignet. »Nach fünf, zehn oder 15 Jahren gehen sie zur Behörde und lassen es sich für ein bißchen Geld legalisieren«, erklärte Narváez weiter. Von dieser Entwicklung seien die Tagaeri völlig überrascht gewesen. Entsprechend ihrer kulturellen Tradition hätten sie auf die von ihnen als Eindringlinge wahrgenommenen Menschen reagiert. »Sie verteidigen ihr Territorium. Da machen sie keinen Unterschied, ob Mann, Frau oder Kind.«

Die Morde fanden nur wenige Kilometer außerhalb der »Zona Intangible« (Unberührbare Zone) statt. Hier leben die letzten drei indigenen Stämme der Huaorani, Tagaeri und Taromenane, die sich weigern, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Ihre Zahl wird auf 500 geschätzt. Die Menschen geraten nicht nur durch die Siedler unter Druck. Sie fliehen auch vor den Holzfirmen und Ölgesellschaften, die sich in dieser Region breitmachen, obwohl es sich um ein Biosphärenreservat handelt.

Die Geschehnisse veranschaulichen einen der Widersprüche des heutigen Ecuador: Einerseits richtet das Umweltministerium einen Nationalpark ein, dessen Flora, Fauna und darin lebenden Menschen geschützt werden sollen, und erklärt einen Teil des Parks, in dem es Pumas, Ozelots und viele seltene Vogelarten gibt, sogar zum Biosphärenreservat. Andererseits vergibt das Wirtschaftsministerium gerade in diesem Gebiet Lizenzen zum Ölbohren und zur Rodung des Regenwaldes an Unternehmen wie der brasilianischen Petrobras und der spanisch-argentinischen Repsol YPF.

Geldquelle Öl

Die ecuadorianische Regierung steckt nun in einer Zwickmühle. Zum einen hat sie gerade vor zwei Monaten mit der Ölfirma Petroleum Ecuador, hinter der die staatliche National Petroleum Corp. steht, einen Vertrag über eine Milliarde Dollar unterzeichnet. Der Konzern soll genau in diesem Gebiet operieren und nach Ölreserven suchen – eine Geldquelle, die das arme Ecuador dringend braucht. Zum anderen aber stützt sich Präsident Rafael Correa auf die zahlreichen indigenen Organisationen des Landes, in der neuen Verfassung wurden die Rechte der Ureinwohner deutlich gestärkt.

Nun rufen diese Vereinigungen zu verstärkten Protesten gegen Teile der Regierungspolitik auf. So hat am Wochenende der Präsident der Konföderation indigener Nationalitäten Ecuadors (Conaie), Marlon Santi, für den kommenden Sonntag Aktionen in allen Teilen des Landes angekündigt, um Forderungen nach Zugang zu Trinkwasser und sicherer Lebensmittelversorgung Nachdruck zu verleihen.

* Aus: junge Welt, 22. September 2009


Zurück zur Ecuador-Seite

Zurück zur Homepage