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"Morde an Frauen bleiben fast immer straffrei"

Julia Evelyn Martínez über strukturelle Gewalt in El Salvador


Julia Evelyn Martínez ist Leiterin des salvadorianischen Frauenentwicklungsinstituts ISDEMU. Der Internationale Tag gegen Gewalt gegen Frauen wurde erstmals am 25. November 1981 von Feministinnen aus Lateinamerika und der Karibik ausgerufen. Über Gewalt gegen Frauen und die Rechte der Frauen in El Salvador unter der neuen linken Regierung der ehemaligen Befreiungsfront Farabundo Marti (FMLN) sprach mit Martínez für das Neue Deutschland (ND) Michael Krämer.

ND: Frau Martínez, ist El Salvador ein konservatives oder ein fortschrittliches Land?

Martínez: Die Gesellschaft El Salvadors ist sogar sehr konservativ.

Aber seit anderthalb Jahren hat El Salvador eine linke Regierung. Ändert sich da nicht etwas?

Seit die FMLN Regierungspartei ist, hat sich die Politik geändert, aber deshalb bleiben die Gesellschaft und die Menschen erst einmal konservativ.

Was bedeutet dies für die Geschlechterbeziehungen?

Die sind sehr traditionell und lassen sich nur langsam verändern. Die Regierung von Präsident Mauricio Funes unternimmt einiges, um die Situation von Frauen zu verbessern. Das fängt schon innerhalb der staatlichen Institutionen an. Es gibt klare Anweisungen, dass in staatlichen Einrichtungen sexuelle Belästigung, die bisher fast immer toleriert wurde, nicht mehr geduldet werden soll. Ein anderes Beispiel ist der Gesundheitsbereich: Endlich gibt es kostenlose Vorsorgeuntersuchungen für Gebärmutterkrebs und Brustkrebs. In anderen Bereichen sind die Widerstände aus der Gesellschaft gegen eine andere Politik jedoch sehr groß: So wehren sich die rechten Parteien, aber auch die katholische Kirche vehement gegen einen Sexualkundeunterricht an den Schulen.

Lässt sich aus dem starken Widerstand schließen, dass die Regierung eine progressive Frauenpolitik macht?

Was die Frauenpolitik angeht, kann man tatsächlich von einem »Vor« und einem »Danach« sprechen. Die Unterschiede zur Politik der Vorgängerregierung der rechten ARENA-Partei sind immens, derzeit wird eine neue »Nationale Frauenpolitik« erarbeitet, die viele Verbesserungen bringen soll. Es gibt aber auch zwei Bereiche, wo die bisherige Bilanz eindeutig negativ ausfällt. Der erste ist die Gewalt gegen Frauen: Allein von 2008 auf 2009 ist die Zahl der Morde an Frauen um 84 Prozent gestiegen. El Salvador hat heute die weltweit höchste Rate von Frauenermordungen weltweit. Doch es passiert viel zu wenig, um dies zu ändern.

Was müsste denn geschehen?

Eine größere Sensibilität der staatlichen Stellen, vor allem der Polizei und der Justiz, bei Fällen von Gewalt gegen Frauen. Das Frauenentwicklungsinstitut ISDEMU hat eine Vereinbarung mit der Polizeiakademie getroffen, um schon Polizisten und Polizistinnen in der Ausbildung sensibler im Umgang mit Frauen zu machen, die Gewalt gegen sie, meistens häusliche Gewalt, anzeigen. Das Hauptproblem ist der Justizbereich. Viele Richter sehen Gewalt gegen Frauen im häuslichen Umfeld nicht als das an, was es tatsächlich ist, nämlich ein Verbrechen. Immer wieder suchen sie nach Rechtfertigungen für diese Gewalt und bewerten sie nicht so schlimm. Häufig bleiben die Täter straffrei oder kommen mit geringen Haftstrafen davon, die dann auch noch zur Bewährung ausgesetzt werden. Und die Frauen wissen nicht, wo sie sich hinwenden sollen, um Schutz vor ihren gewalttätigen Ehemännern zu finden. Es gibt in ganz El Salvador ein einziges Frauenhaus, und das hat lediglich 30 Plätze.

Woran liegt es, dass die Gewalt gegen Frauen seit ein paar Jahren so enorm ansteigt?

Die Täter können damit rechnen, dass sie nicht belangt werden; das wirkt fast wie eine Einladung. Wenn Frauen ermordet werden, ist die Aufklärungsquote noch niedriger als sie es sonst schon ist. In gewisser Weise ist die Gewalt aber auch eine Reaktion gegen den Aufbruch der Frauen, die ihre Rechte heute stärker als früher einfordern. Die Männer fühlen sich in ihrer Vormachtstellung angegriffen.

Was ist der zweite Schwachpunkt der Regierungspolitik?

Das sind die reproduktiven Rechte. El Salvador hat neben Nicaragua das schärfste Abtreibungsrecht in ganz Lateinamerika. Seit dem Jahr 2000 ist Abtreibung grundsätzlich verboten, selbst aus medizinischen Gründen, wenn das Leben der Frau in Gefahr ist, oder wenn die Frau vergewaltigt wurde.

Haben die Frauen gar keine Alternative?

Frauen aus der Mittel- oder der Oberschicht können im Ausland abtreiben oder sich in einer Privatklinik behandeln lassen, wenn es nach einer Abtreibung Komplikationen gibt. Diese Möglichkeit haben arme Frauen nicht. Sie versuchen selbst abzutreiben oder lassen unsichere Abtreibungen vornehmen. Wenn sie nach Komplikationen in ein öffentliches Krankenhaus kommen, werden sie von den Ärzten oder Pflegern angezeigt, weil sich diese sonst selbst strafbar machen würden. Den Frauen drohen Haftstrafen bis zu acht Jahren. In so einer Situation begehen viele, vor allem junge Frauen aus lauter Verzweiflung Selbstmord.

Erst Ende Oktober hat der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen El Salvador aufgefordert, Frauen, die ihre Schwangerschaft abbrechen, nicht mehr strafrechtlich zu verfolgen. Wird die Regierung nun aktiv werden?

Die Kritik des Menschenrechtsrates ist angesichts der Gesetzeslage nicht verwunderlich. Leider traut sich die Regierung an dieses Thema nicht ran. Nicht die Frauenrechte stehen im Mittelpunkt der Überlegungen, sondern Umfrageergebnisse und mögliche politische Allianzen. Und: Weder Präsident Funes noch die FMLN wollen sich mit der katholischen Kirche anlegen, die gegen jede Liberalisierung des Abtreibungsrechts ist.

* Aus: Neues Deutschland, 23. November 2010

International Day for the Elimination of Violence against Women, 25 November

Message of the Secretary-General for 2010

As we observe the 2010 International Day for the Elimination of Violence against Women, let us acknowledge the widespread and growing efforts to address this important issue. No longer are women’s organizations alone. From Latin America to the United States, from Asia to Africa, men and boys, young and old, musicians, celebrities and sports personalities, the media, public and private organizations, and ordinary citizens are doing more to protect women and girls and promote their empowerment and rights.

The social mobilization platform “Say NO-UNiTE” has recorded almost 1 million activities implemented by civil society and individuals worldwide. In August this year at the fifth World Youth Conference in Mexico, young activists from around the world were clear in their message: “It’s time to end violence against women and girls!” Member States, too, are engaged. As of November 2010, my database on the extent, nature and consequences of violence against women, which also logs policies and programmes for combating the pandemic, has registered more than 100 reports from governments.

This year’s observance highlights the role the business community can play – from developing projects to providing direct financial support to organizations working to end violence and embracing the principles of corporate social responsibility. The "Women’s Empowerment Principles", an initiative of the UN Global Compact and UNIFEM, recognize the costs to business of violence against women and are now supported by more 120 leading companies. A growing number of media outlets are bringing light to bear on so-called “honour-killings”, trafficking of girls and sexual violence in conflict, and are raising awareness about the benefits to society of empowering women. Yet much more needs to be done. In homes, schools and the office, in refugee camps and conflict situations, the corporate sector can help us to prevent the many forms of violence that women and girls continue to face.

My UNiTE to End Violence against Women campaign, and the Network of Men Leaders I launched last year, have generated welcome momentum and engagement. The word is spreading: violence against women and girls has no place in any society, and impunity for perpetrators must no longer be tolerated. On this International Day, I urge all – Governments, civil society, the corporate sector, individuals – to take responsibility for eradicating violence against women and girls.

Ban Ki-moon

www.un.org



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