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Verhandlungstisch statt blutiger Fehde

Die Organisation Quetzalcoatl betreibt in San Salvadors »Bandenvierteln« Jugendarbeit

Von Kathrin Zeiske *

Der diesjährige Weltentwicklungsbericht der Weltbank weist El Salvador mit 51 Morden pro 100 000 Einwohner als eines der von Gewalt am meisten betroffenen Länder aus. Als Gründe für die extrem hohe Gewaltrate gilt neben dem Drogenhandel vor allem das Unwesen der Jugendbanden.

Laut offiziellen Schätzungen soll es in dem mittelamerikanischen Land mit 7,3 Millionen Einwohnern mittlerweile 21 000 Bandenangehörige geben – Tendenz steigend. Die Null-Toleranz-Politik der vorangegangenen ultrarechten Regierungen hatte den Zuwachs trotz exorbitanter Gefängnisstrafen von bis zu 130 Jahren nicht stoppen können. Denn der Gang in Banden wie die Mara Salvatrucha (MS 13) oder die Barrio 18 bleibt ein soziales Phänomen, das sich aus Armut und Perspektivlosigkeit der jungen Mehrheitsbevölkerung nährt.

Vollmundigen Wahlkampfversprechen zum Trotz hat der von der Linken, der einstigen Guerilla-Organisation Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí (FMNL) gestellte Präsident Mauricio Funes Cartagena letztes Jahr seine Vorgängerregierungen mit einem Antibandengesetz noch an Härte übertroffen. Nun verkündete er anlässlich seines zweijährigen Amtsjubiläums, auffällige Jugendliche aus den Armenvierteln bald zu Hunderten in die Armee einzuziehen. Alternative Lösungsansätze wagen nur einige Nichtregierungsorganisationen.

Schmale Gassen, Trampelpfade und Treppenschluchten führen durch das Viertel Atlanta oberhalb des Boulevards Constitución, der nördlichen Verbindung nach San Salvador. Rund 6000 Menschen leben hier auf engstem Raum in schmalen Mehrfamilienhäusern aus rotem Backstein. In der Siedlung auf den Falten des über der Hauptstadt thronenden Vulkans wird heute Fußball geguckt. Fernsehgeräte wurden nach draußen gestellt, Nachbarn sitzen auf Plastikstühlen zusammen und geben den Spielstand an Passanten weiter. Ein Bild, das vor zehn Jahren noch unmöglich gewesen wäre. Damals versank das Viertel in der Gewalt der Banden. Es gab Schusswechsel und Tote, Racheakte und Schutzgelderpressungen waren an der Tagesordnung.

Bandenleben führt stets in den Tod

Javier ist einer von denen, die damals aktive Bandenmitglieder waren. »Ich habe in meinem Leben eine Menge Blut vergossen, viele schlimme Sachen gemacht«, erinnert sich der hagere junge Mann, der an einer bunt bemalten Mauer lehnt. Heute ist er 28 Jahre alt. Mit nur acht Jahren trat er der Barrio 18 bei, ein ganzes Jahrzehnt später überlebte er nur knapp ein Massaker. »Wir erpressten die Betreiber einer Buslinie, die am Viertel vorbeifährt, aber die Fahrer taten sich zusammen, um uns zu lynchen. Sie erwischten uns unbewaffnet, auf kaltem Fuß. Ich bekam drei Schüsse ab, aber ich habe überlebt.« Seitdem hat sich Javier zurückgezogen. Von seiner Clique hat außer ihm nur noch einer überlebt, den eine Haftstrafe vor dem frühen Tod im Bandenmilieu rettete.

»Der Preis für das Bandenleben ist hoch, es führt stets in den Tod. Ich habe mein Überleben als Chance verstanden, mich aus allem herausgezogen und eine Familie gegründet.« Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Immerhin leben in Atlanta weiterhin sowohl Angehörige der »MS 13« wie ihrer Todfeinde, der »18« – die einen oberhalb des Basketballfeldes, die anderen unterhalb.

Und keine der Banden akzeptiert den endgültigen Ausstieg, weder der eigenen noch der anderen Mitglieder. Doch es gibt im Viertel einen Friedensvertrag, an den sich beide Gruppen halten. Eine Besonderheit, wie man sie nur selten in der mittelamerikanischen Region finden dürfte. Die Stiftung Quetzalcoatl, eine Nichtregierungsorganisation, die seit vielen Jahren nachhaltige Jugend- und Kiezarbeit im Viertel betreibt, hat daran einen nicht unbedeutenden Anteil.

Kriminalität wird mit Jugend gleichgesetzt

»Quetzalcoatl versucht, eine gesunde Gemeinschaft aufzubauen«, erklärt Jugendarbeiter Jorge Alberto Castro. »Die Strukturen, die existieren, werden nicht aufgelöst, die soziale Realität wird nicht ausgeblendet. Die Bewohner eines Viertels müssen als Akteure ernst genommen werden, denn nur sie können eine nachhaltige Veränderung schaffen.« Einst war Castro selbst ein Jugendlicher, der in einem marginalisierten Vorort San Salvadors von der Stiftung organisierte Workshops besuchte.

»In El Salvador wird Jugend mit Kriminalität gleichgesetzt. Sie gilt als Lebensphase, die man möglichst schnell überwinden sollte. Staatliche Angebote für Jugendliche existieren schlichtweg nicht. Ausbildungsplätze sind Mangelware und für Träger eines Piercings oder einer Tätowierung nicht zu bekommen. Jegliche jugendliche Ausdrucksform wird in El Salvador stigmatisiert, und Rehabilitation bleibt ein Fremdwort.«

Bei der von Quetzalcoatl initiierten Renovierung des Basketballplatzes wurde kein Unterschied gemacht zwischen denen, die ihre Tattoos eindeutig einer Bande zuordnen, und anderen Jugendlichen aus dem Viertel. Heute tummeln sich auf dem Gelände Kinder zum Fußballspielen. Denn der mit Wandbildern verzierte Pavillon unterhalb des Feldes wird heute von Anwohnern für eine Feier in Anspruch genommen. »Unsere Bauarbeiten haben die Meinung der Erwachsenen im Viertel uns Jugendlichen gegenüber gehörig verändert«, erzählt Guillermo stolz. Der junge Mann mit schwarzen Locken fehlt nur selten bei einem der Workshops über Menschenrechte, HIV-Prävention oder Straßenkunst. »Sie sahen, dass wir anpacken und etwas für die Gemeinschaft tun konnten; nicht nur Drogen nehmen und klauen.«

Die Jugendlichen in Atlanta stehen zusammen. »Die Erfahrungen der Vergangenheit sind uns gegenwärtig.« Als Ende letzten Jahres ein privater Streit eskalierte und in einem Mord endete, zogen alle gemeinsam die Notbremse. Die von Quetzalcoatl vermittelten Fähigkeiten zur Selbsthilfe trugen Früchte. Anstatt eine blutige Fehde zu beginnen und alte Bandenstrukturen wieder aufleben zu lassen, riefen die jugendlichen Viertelbewohner alle Beteiligten an den Verhandlungstisch.

Doch die Arbeit der Stiftung könnte langfristig durch das im September verabschiedete »Antibandengesetz« beeinträchtigt werden. Danach gilt allein schon die Zugehörigkeit zu einer Jugendbande als Straftat. »Sollte das Gesetz ausgeschöpft werden, könnte man die mit Jugendlichen im Umfeld der Banden arbeitenden Organisationen leicht kriminalisieren«, befürchtet Projektleiterin Laura Käser. »Unsere Arbeit könnte im schlimmsten Fall als ›Unterstützung krimineller Vereinigungen‹ ausgelegt werden.«

Mit der »harten Hand« wird Politik gemacht

Das Gesetz war die Antwort auf ein Massaker, das im Juni 2010 durch Bandenmitglieder an 16 Fahrgästen eines Linienbusses in San Salvador verübt worden war. Um die aufgewühlte Öffentlichkeit zu beruhigen und der ultrarechten Opposition keine Vorlage zu liefern, griff die Regierung unter Mauricio Funes hart durch und übernahm eine Gesetzesvorlage der Nationalrepublikanischen Allianz, die vorher nie durchgekommen war.

»Die Linke bietet beim Thema Maras leider keine neuen Ansätze, sondern übertrifft sogar noch die ›Politik der harten Hand‹ ihrer Vorgänger.« Die alltägliche Kriminalität ist in El Salvador eben ein Thema, mit dem Politik gemacht wird. Dabei werden die Jugendbanden generell für alle Verbrechen im Land verantwortlich gemacht, während die Gewalt, die von den Drogenkartellen ausgeht, weitestgehend ausgeblendet wird.

Doch von einer Ausschöpfung des Antibandengesetzes ist El Salvador noch weit entfernt. »Das Gesetz findet seine Anwendung als Grundlage für Polizeieinsätze«, bestätigt Ángel Manzano, Inspektor der zivilen Polizei. »Letztendlich scheitert eine Umsetzung jedoch an den personell und institutionell schwachen Justizbehörden.«

Dies soll nun anders werden. In einer Rede kündigte Funes eine Stärkung der Staatsanwaltschaften sowie die erwähnte Zwangsrekrutierung von Jugendlichen in problematischen Vierteln an. Anfang Mai hatte er schon verkündet, dass das Militär ein weiteres Jahr an der Seite der Polizei in Stadtteilen mit Bandenpräsenz eingesetzt werden solle.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Juni 2011


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