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Richtige Fragen

Karl Heinz Gräfes Buch über das Baltikum im 20. Jahrhundert und heute

Von Jürgen Tremper *

Allzu selten, zumeist nur für Augenblicke, rückt das Baltikum in den Fokus der Weltöffentlichkeit. So Tallinn, die Hauptstadt Estlands, Ende April 2007. In einer Nacht- und Nebelaktion ließ die Regierung des Premierministers Andrus Ansip das Denkmal eines sowjetischen Soldaten vom Stadtzentrum auf einen Kriegerfriedhof am Rande der Stadt umsetzen. Protestdemonstrationen und brutale Auseinandersetzungen der Polizei mit jungen estnischen und russischen Demonstranten heizten national und international das politische Klima auf. 150 Schwerverletzte und ein zwanzigjähriger Toter erschütterten die Ordnung im Lande und störten die Beziehungen Estlands zu Rußland. Vorübergehend stellte die estnische Botschaft in Moskau ihre Arbeit ein. Für die russische Bevölkerung in Estland stand der rund zweieinhalb Meter hohe Bronzesoldat für den Sieg der Roten Armee über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg. Viele Esten hingegen fühlten sich durch ihn an die jahrzehntelange sowjetische Besatzung nach 1945 erinnert. Einige Jahre zuvor rieb sich die Weltöffentlichkeit die Augen über das burleske Vorspiel dieses Geschehens. Tiit Madisson, rechtsradikaler Bürgermeister in der estnischen Kleinstadt Lihula, hatte das 2002 in Pärnu weggeräumte Denkmal eines SS-Legionärs wieder aufstellen lassen. Nach dessen Entfernung stellte es der neureiche Este Leo Tammiksaar 13 Tage später auf seinem Privatgrundstück in Pärnu samt einem SS-Museum auf.

Kollaborateure

Der Denkmalstreit ist symptomatisch für die »Wiederaneignung der Geschichte« in Estland, Lettland und Litauen. Es geht einerseits um das Tilgen jeder Erinnerung an die militärische Vertreibung der deutschen Okkupanten und ihrer baltischen Helfer durch die Rote Armee und deren baltische Einheiten. Andererseits wird die deutsche Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik im besetzten Baltikum als Weg zu Europa verfälscht. So heißt es, das estnische Volk habe schon immer zu Europa gehört, befinde sich seit 1989 auf dem Weg dorthin. Die Kollaborateure der Nazis erscheinen als Kämpfer für Estlands Freiheit. Die deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg sowie die deutsche Okkupation im Zweiten Weltkrieg als Fortsetzung kolonialer Politik Deutschlands in einem bis dahin beispiellosem Ausmaß wird ausgeblendet. Zugleich behaupten Politiker, Publizisten und Historiker vor allem des rechtsnationalistischen Lagers, die von Rußland verbreitete kommunistische Idee habe »zum Genozid am estnischen Volk« geführt. Wider besseres Wissen und historischer Tatsachen wird die Sowjetperiode verteufelt, die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf zwei Diktaturen und auf zwei Okkupationen reduziert.

In der Wissenschaft kommt es nach Auffassung von Max Weber darauf an, die richtigen Fragen zu stellen. Genau das hat Karl-Heinz Gräfe getan. Nach einer Flut von Einzel- und Spezialdarstellungen legt der Osteuropaexperte nunmehr mit dem Band »Vom Donnerkreuz zum Hakenkreuz. Die baltischen Staaten zwischen Diktatur und Okkupation« die erste vergleichende Untersuchung vor. Gegenstand des spannenden Buches ist folglich die Geschichte Estlands, Lettlands und Litauens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie die ihrer Beziehungen zu Deutschland und zur Sowjetunion. Der Autor arbeitet zwei Kontinuitätslinien heraus: Erstens die der deutschen Expansions- und Besatzungspolitik gegenüber den baltischen Ländern in Gestalt der Militärverwaltung Ober-Ost 1915 bis 1918 und im Zweiten Weltkrieg in Gestalt des Reichskommissariats »Ostland« 1941 bis 1945. Zweitens die der Stetigkeit antidemokratischer rechtsnationalistischer und faschistischer Bewegungen in der Zwischenkriegszeit, während der Naziokkupation und seit den 1990er Jahren. Im Zentrum der faktenreichen wie auch systematischen Darstellung stehen die Massenverbrechen der deutschen Besatzer an Juden, Kommunisten, Sympathisanten der Sowjetmacht und sowjetischen Kriegsgefangenen wie auch die Rolle der baltischen Kollaborateure während des Zweiten Weltkrieges.

Staatsideologie

Die drei baltischen Unionsrepubliken lösten sich 1989 aus der zerfallenden UdSSR und kehrten zum bürgerlichen Nationalstaat zurück. Aus »Volksfronten« und Bürgerkomitees entwickelte sich ein breit gefächertes Parteiensystem nach dem Muster der Zwischenkriegszeit. Grundlegend änderten sich auch die Sichten auf baltische Vergangenheiten. Die Neu- und Umschreibung der Nationalgeschichten uferte aus. Die politisch Herrschenden griffen zur historischen Legitimierung ihrer Macht auf nationalistische Personen, Parteien und Organisationen der Diktaturregime der Zwischenkriegszeit, selbst auf faschistische Bewegungen ihrer Länder zurück. Deren Verbrechen werden in nationale Heldentaten umgedeutet, zugleich sickern autoritäre und faschistische Traditionen in gegenwärtige Politik und Kultur ein. Die von Emigrantenkreisen verbreiteten Mythen über die zu »Vätern der Nation«, »nationalen Patrioten« und »Freiheitskämpfern« stilisierten Diktatoren Konstantin Päts (Estland), Karlis Ulmanis (Lettland) und Antanas Smetona (Litauen) erhielten – so schlußfolgert der Autor – den Status offizieller Staatsideologie. Diese Geschichtspolitik der seit 1989 Regierenden vertieft ohne Zweifel die nationale und soziale Spaltung der Völker im Baltikum.

Gräfe entwirrt in seinem ebenso brisanten wie auch mutigen politischen Buch äußerst verwickelte Vorgänge. Er vertraut der gründlichen Analyse der historischen Fakten und Zusammenhänge und entdeckt so die wahre Geschichte der baltischen Region im gewaltlastigen 20. Jahrhundert. Er nutzt das Material für seine Kritik an baltischen Historikern und deren Geschichtssichten und plädiert für Vielschichtigkeit. Seine kolossale Rechercheleistung und der enorme Informationswert dieser Studie zeigen sich nicht zuletzt in einem verifizierten Personenverzeichnis von Kollaborateuren und Okkupationsfunktionären, ergänzt durch 37 Kurzbiografien. Die Publikation ist ein Beleg dafür, welch wegweisende Rolle der Historiker spielen kann, wenn er weder in der Rolle des Therapeuten noch in der des Anklägers agiert.

Karl Heinz Gräfe: Vom Donnerkreuz zum Hakenkreuz - Die baltischen Staaten zwischen Diktatur und Okkupation. Edition Organon, Berlin 2010, 511 Seiten, 25 Euro * ISBN 978-3-931034-11-5


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