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Estland wagt mehr Volksdemokratie

Runder Tisch der Bürger gegen »verlogene Politik« und verkrustetes System

Von Thomas Mell, Tallinn *

Eine Bürgerinitiative in Estland versucht nach einer Reihe von Skandalen, die Spielregeln der Parteipolitik zu ändern. Doch das letzte Wort bleibt immer noch den Parlamentariern vorbehalten.

Es fing alles mit einem Meinungsartikel an. Und gipfelte an einem Aprilsamstag in einer Volksversammlung, deren etwa 300 Teilnehmer im Zufallsprinzip aus allen Teilen Estlands ausgewählt worden waren - mit dem Ziel, dem Wähler mehr Mitspracherecht zu ermöglichen und die parteipolitische Landschaft des baltischen Landes kräftig durchzurütteln. Den Stein ins Rollen brachte Silver Meikar, ein junger Politiker der seit 2005 in Estland regierenden rechtsliberalen Reformpartei. Er schrieb im Mai 2012 in der führenden Tageszeitung »Postimees«, dass er von hohen Parteifunktionären mehrmals Umschläge mit kleineren Geldbeträgen (insgesamt 7350 Euro) erhalten habe, die er - ohne deren Herkunft zu kennen - in seinem Namen an die Partei spenden sollte. Meikar sagte, dass er zwei Jahre lang den Anweisungen gefolgt und dabei kein Einzelfall gewesen sei.

Die Behauptungen führten zu allseitiger Empörung. Die Reformpartei beteuerte ihre Unschuld und bezichtigte Meikar der Verleumdung. Doch bekam die seit Jahren führende Partei im Lande die aufkeimende Unzufriedenheit zu spüren und stürzte in den Umfragewerten ab. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Verfahren ein. Zwar stand am Ende Aussage gegen Aussage und das juristische Tauziehen eingestellt, doch der Aufschrei um die angeblichen schwarzen Parteikassen hatte Wirkung gezeigt. Der frühere Generalsekretär der Reformer, Kristen Michal, musste seinen Hut als Justizminister nehmen; Meikar, der noch von 2005-2009 im Parlament saß, wurde aus der Partei verbannt.

Im Sog des Skandals kam es zu mehreren Demonstrationen gegen die Kritikresistenz der Regierung von Ministerpräsident Andrus Ansip, eine »verlogene Politik« und das verkrustete Vier-Parteien-System. »Die estnische Demokratie zerbröselt vor unseren Augen«, meinten einige Intellektuelle in einer scharf formulierten Petition, die bis heute 18 000 Bürger unterschrieben haben. Ein Hauch Französischer Revolution sei das, so Marju Lauristin, Soziologin, ehemalige Politikerin und eine der Initiatorinnen. Derart erhitzte Gemüter sind ungewöhnlich in einem Land, in dem »Straßendemokratie« fast nicht stattfindet und Kritik an Machthabern bevorzugt anonym im Internet kundgetan wird.

Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves rief deshalb im November Vertreter der Parteien und der Zivilgesellschaft zum Runden Tisch im ehemaligen Eiskeller des barocken Sommerschlosses der Zaren. Typisch für Estland, wo 2007 erstmals in der Welt bei Parlamentswahlen die Stimmabgabe über das Internet eingeführt wurde und über 90 Prozent der Steuererklärungen elektronisch abgegeben werden, vollzog sich der Prozess über das Netz. Jedermann konnte einen Monat lang auf einer eigens eingerichteten Internetseite Vorschläge zu vorgegebenen Themenfelder unterbreiten. Diese wurden danach von Experten analysiert und systematisiert. Aus knapp 2000 Ideen kristallisierten sich letztlich 18 Arbeitspunkte heraus. Und diese wurden schließlich im April von »einfachen« Bürgern bei Gebäck und Kaffee diskutiert.

Etwa 550 Menschen waren in die Hauptstadt Tallinn eingeladen, nur 300 kamen. Demokratie macht halt Mühe. Deswegen hatten viele aus den ländlichen Gebieten abgesagt. Zudem stellte sich heraus, das es schwierig ist, bei der Zusammensetzung der Teilnehmer einen genauen gesellschaftlichen Durchschnitt zu erlangen, weil besonders viele russischsprachige (etwa 30 Prozent der estnischen Bevölkerung) und Leute mit niedrigem Bildungsniveau aus Desinteresse eine Absage erteilten. Trotzdem wurden Themen wie direkte Präsidentschaftswahlen (abgewiesen) oder Senkung der Wahlhürde auf drei Prozent (angenommen) am Ende des Tages abgestimmt.

Präsident Ilves hat die Vorschläge der Volksversammlung inzwischen dem Parlament überreicht. Er betonte, dass für viele Bürger das Parlament und die dort vertretenen Parteien schlicht zu langsam gewesen seien, um die Änderungen in der Gesellschaft voll zu begreifen. Nun gebe es Lösungsvorschläge für Grundbedürfnisse der Menschen, betonte Ilves und bat die Abgeordneten, diese »Vorschläge der Volksversammlung ernst zu nehmen«.

Der Ball liegt nun bei den Parlamentariern. Die Vorschläge werden vom Ausschuss für das Grundgesetz geprüft. Dessen Vorsitzender Rait Maruste signalisierte schon, dass die meisten zur Verbesserung der Parteipolitik nichts neues wären und zum großen Teil schon im Parlament debattiert worden seien. Allerdings haben die Parteien sich bisher nicht gerade beeilt, um für mehr Transparenz in ihren Finanzen oder einfachere Regeln für eine Parteigründung zu sorgen. Der Schriftsteller Andrus Kivirähk brachte es in seiner wöchentlichen Kolumne in der Tageszeitung »Eesti Päevaleht« auf den Punkt: »Das Rotkäppchen ist mit ihrem Kuchen bei der Großmutter angekommen, aber die, die im Bett liegt, hat große Augen, große Pfoten und einen großen Mund. Erlauben Sie mir, dass ich bezüglich der Zukunft von Rotkäppchen und Kuchen skeptisch bleibe.«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 2. Mai 2013


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