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Was dann geschah, brach alle Rekorde

Zur Vorgeschichte des Sowjetisch-Finnischen Winterkrieges vor 70 Jahren

Von Jouko Jokisalo, Joensuu *

Über den Winterkrieg 1939/40 ist viel in Finnland publiziert worden, vorwiegend im nationalistischen Geist und abgekoppelt von der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Wider besseres Wissen wird behaupt, Finnland sei zu keiner Zeit ein verbündeter Deutschlands gewesen. Im kollektiven Geschichtsbewusstsein der Finnen erhielt dieser Krieg fast mythische Dimension. Den Jugendlichen wird er als Bewährungsprobe der Nation gelehrt, die über deren zukünftige Lebenskraft entschieden habe. Doch wie verhielt es sich wirklich?

Der Sowjetisch-Finnische Winterkrieg 1939 ist nicht aus dem internationalen Kontex zu lösen. Und er hat eine lange Vorgeschichte.

Der Weiße Terror gegen die Roten

Der Erste Weltkrieg und die Oktoberrevolution bildeten den Hintergrund für die Erlangung der Unabhängigkeit Finnlands im Dezember 1917. Unmittelbar danach brach der Bürgerkrieg aus. Die von den Weißen herbeigerufenen deutschen Truppen halfen, den Kampf gegen die Roten zu entscheiden. Es folgten Massenhinrichtungen; 12 000 Rotgardisten starben qualvoll in den Lagern. Der blutige Bürgerkrieg hatte nicht nur gravierende innenpolitische Folgen, sondern außenpolitische. Von Nationalisten als Freiheitskrieg stilisiert, beförderte er Russenhass und Antibolschewismus. Rechte Kräfte träumten von einem Groß-Finnland und initiierten bewaffnete Einfällen in Sowjet-Karelien, was natürlich Moskau verärgerte. Der blutige Weiße Terror im Bürgerkrieg und vor allem die Orientierung finnischer Eliten, insbesondere des Militärs, auf Deutschland, riefen aber auch Misstrauen in England und Frankreich hervor, gleichwohl Finnland dort durchaus als »Vorposten der westlichen Zivilisation« gegen den »Bolschewismus« angesehen wurde. Aber auch Hitler sah Finnland als potenziellen Verbündeten an. Gleichwohl sich Ende der 20er Jahre die finnisch-sowjetischen Beziehungen weitgehend stabilisiert hatten. Anfang der 30er Jahre kam es durch den Aufstieg der rechtsextremen Lappobewegung, deren Hass gegen den Kommunismus geradezu pathologische Formen annahm, jedoch zu erneuter Verstimmung im Verhältnis beider Länder.

Hitlers Ernennung zum Reichskanzler in Deutschland am 30. Januar 1933 markierte dann eine entscheidende Zäsur. B. S. Stomonjakov, ranghoher Mitarbeiter im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, wertete die Lage am 27. April 1933 wie folgt: »Die Situation hat sich wesentlich mit dem Machtaufstieg Hitlers verändert. Einerseits verstärkt Hitlers Expansionspolitik nach Osten die Bedeutung Finnlands für Deutschland ..., andererseits sehen die faschistischen Kräfte und die ihnen nahe stehenden Konservativen natürlich Hitlers Deutschland als Stütze für die Faschisierung Finnlands.« Für die sowjetische Außenpolitik jedoch war wichtig, dass Finnland »Garant« für eine ruhige Nordwestgrenze blieb, auch zum Schutz von Leningrad.

Veränderungen im politischen Helsinki verbesserten die Beziehungen zur Sowjetunion Ende 1936. Der neue finnische Außenminister Rudolf Holsti war ein Verteidiger des Völkerbundgedankens: »Ich hatte festgestellt, wie überall im Ausland Finnland für eine Art Verbündeter Deutschlands gehalten wurde, und wenn sich diese Auffassung endgültig festigen würde, würde sie Finnland direkt einen unabsehbar großen Schaden zufügen, sobald ein ernsthafter europäischer Konflikt entstehen könnte.« Nach dem kurzen »Tauwetter« in den finnisch-sowjetischen Beziehungen Ende 1936/Anfang 1937 kam es jedoch wieder zu Spannungen durch die sich verschärfende internationale Lage, den Stalinschen Terror in der Sowjetunion und einen erneuten personellen Wechsel in Helsinki.

In Moskau gab es offenbar zwei Optionen für die Haltung zu Finnland. Eine Denkschrift des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten vom 1. April 1938 ging davon aus, dass die finnische Regierung nicht deutschfreundlich sei, sondern sich um Verbesserung der Beziehungen zur UdSSR, um Zusammenarbeit mit den skandinavischen Ländern und um Neutralität bemühe. Eine Gefahr wurde allerdings darin gesehen, dass die finnische Regierung nicht stark genug sein könnte, dem Druck der faschistischen Kräfte standzuhalten. Geschlussfolgert wurde schließlich jedoch, es bestünde eine realistische Möglichkeit, die deutschen Einflüsse zu neutralisieren und Finnland in die Einflusssphäre der Sowjetunion einzubeziehen. In der Denkschrift wurde als Vorgehensweise empfohlen: »Wir gewähren Finnland die Unversehrheitsgarantie im Rahmen der jetztigen Grenzen; wir rüsten Finnland mit Waffen, Materialien und technischen Geräten aus, die notwendig für die Verteidung der strategischen Ziele gegen die deutsche Luftwaffe und Kriegsflotte sind, und wir erweitern den Handel ... Als Ersatzleistung fordern wir, dass Finnland mit der Sowjetunion ein gegenseitiges Beistandsabkommen schließt, die sowjetischen Ansichten in den internationalen Fragen unterstützt und wirkliche militärische Garantien gibt.« Die zweite Linie in der sowjetischen Außenpolitik kommt in einem Dokument vom Juni 1938 zum Ausdruck, verfasst vom Chef des Leningrader Gebiets des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten der UdSSR, Litvin. Hier nun wurde konträr eingeschätzt, dass die Verträge mit Finnland äußerst ungünstig für die UdSSR seien. Und es wurden härtere Massnahmen gegenüber dem nördlichen Nachbarn gefordert.

Verhandlungen über Inseln im Meerbusen

Nachdem das faschistische Deutschland im März 1939 das Memel-Gebiet besetzt hatte, schlug der Kreml im Sinne der ersten Option Helsinki Verhandlungen über eine Reihe von Inseln im Finnischen Meerbusen vor, die man zu Verteidigungszwecken für 30 Jahre mieten wollte, vor allem, um den Meeresweg nach Leningrad zu schützen. Doch Außenminister Eljas Erkko lehnte ab: Ein solches Abkommen würde die Neutralität Finnlands verletzen.

Bis zum Sommer 1939 wurde Finnland von der sowjetischen Seite weitgehend als ein neutrales Land angesehen. Dies änderte sich mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939. In dessen Geheimen Zusatzprotokoll wurde Finnland den Interessensphären der Sowjetunion zugeschlagen. Der finnische Historiker Ohto Manninen und sein russischer Kollege N. I. Baryshnikov kommentieren: »Es war klar, dass der Nichtangriffsvertrag aus der Sicht Moskaus keine ausreichende Garantie für die Sicherheit des nordwestlichen Teils der Sowjetunion anbot. Das geheime Zusatzprotokoll kann als das Streben nach Verhinderung des Eindringens der deutschen Truppen in die baltischen Länder angesehen werden. Die Sowjetführung wusste, dass nach dem Angriff auf Polen Deutschland in der Zukunft auch die Sowjetunion angreifen würde.«

Im Oktober und November 1939 führten sowjetische Vertreter mit finnischen neue Gespräche über Gebietsabtretungen zur Sicherung von Leningrad. Über die zweite Verhandlungsrunde in Moskau (23.-26. Oktober) berichtete am 2. November die »Neue Zürcher Zeitung«: »Die russischen Aspirationen auf einige kleinere Inseln im Finnischen Meerbusen zur Stärkung der Sicherheit Petersburgs dürften dem relativ geringsten Widerstand begegnen, und vielleicht erscheint auch die Grenzverschiebung nördlich von Petersburg im Austausch gegen russisch-karelisches Gebiet annehmbar.« Erkko hatte jedoch, was die Zeitung nicht wusste, bereits am 10. Oktober in einer geheimen Sitzung des außenpolitischen Ausschusses des finnischen Parlaments verkündet: »Wir werden keine Zugeständnisse machen, sondern wir kämpfen, egal was kommt, weil Britannien, die USA und Schweden uns ihre Unterstützung zugesichert haben.«

Einen Tag vorher hatte der Staatssekretär des deutschen Auswärtigen Amtes, Ernst von Weizsäcker, dem finnischen Botschafter in Berlin mitgeteilt, dass Finnland der sowjetischen Einflusssphäre zugerechnet werde. Das hat man jedoch in Helsinki nicht ernst genommen. Nach Aussage von Aarno Pakaslahti, leitender Angestellter im finnischen Außenministerium, glaubte Erkko trotz der Information aus Berlin, dass Finnland gegen den »Feind«, die Sowjetunion, »von Deutschland Unterstützung erwarten kann«.

»Jetzt müssen die Militärs sprechen«

Moskaus Hauptsorge war trotz des Hitler-Stalin-Paktes Deutschland, wie eine Äußerung des sowjetischen Außenministers W. M. Molotov offenbart: »Wir haben jetzt gute Beziehungen zu Deutschland, aber alles kann sich in dieser Welt verändern.« Nicht der Kreml, sondern Helsinki brach die sowjetisch-finnischen Verhandlungen am 12. November 1939 ab. Erkko ließ vermelden, dass die finnische Delegation keine Bevollmächtigung mehr habe, die Gespräche weiterzuführen, und ordnete deren Rückkehr in die Heimat mit der Bemerkung an, dass sie »andere wichtige Aufgaben habe«. Bereits am 3. November hatte Molotov in den Verhandlungen angesichts der Unwilligkeit der anderen Seite drohend geäußert: »Wir, die Zivilisten, scheinen nichts in der Sache tun zu können: Jetzt müssen die militärischen Kreise ihr Wort sprechen.« Trotzdem war die Sowjetführung vom Ausgang der Verhandlungen überrascht. Denn ungeachtet der für den Fall des Scheiterns der Diplomaten ausgearbeiteten Pläne der Militärs hatte die Rote Armee tatsächlich nicht die erforderlichen Truppen, um einen bewaffneten Konflikt zu beginnen.

Der Winterkrieg wurde am 30. November 1939 mit dem sowjetischen Angriff auf Finnland eröffnet. Die vorrangigen Kriegsziele der UdSSR waren – nach sowjetischem Archivmaterial – das Zerbrechen der finnischen Verteidigung, die Zerschlagung der Hauptkräfte der finnischen Armee und die Eroberung militärischer Stützpunkte in der Karelischen Landenge. Das deutet darauf hin, dass das Hauptziel der sowjetischen Aggression auf die strategische Absicherung des Vorfeldes von Leningrad sowie auf einige zusätzliche Sicherheitspuffer waren und nicht Okkupation des gesamten Landes.

Während Finnland starke Solidarität erfuhr, manövrierte sich die Sowjetunion in die Isolation auf der internationalen Bühne. Der Sowjetbotschafter in London, I. M. Maiski, schrieb: »Ich habe manche sowjetfeindliche Stürme erlebt, aber was nach dem 30. November geschach, brach alle Rekorde.«

* Unser Autor lehrt an der Universität Joensuu, Finnland.

Aus: Neues Deutschland, 28. November 2009


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