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Genug vom Feuer

Vor einem Jahr kam es in den französischen Vorstädten zu wochenlangen Unruhen. An der Situation der Menschen hat das nichts geändert

Von Bernhard Schmid, Clichy-sous-Bois *

Es ist schwer, in diesen Tagen im Zentrum von Clichy-sous-Bois keinen Kameras zu begegnen. Das Phänomen begann vor ungefähr zwei Wochen, und es wird in wenigen Tagen wohl wieder verschwunden sein. Denn niemand interessiert sich normalerweise für die Trabantenstadt, die zehn Kilometer nordöstlich der Pariser Stadtgrenze liegt. Vor einem Jahr war es plötzlich anders. Nach dem Tod der beiden Jugendlichen Bouna Traoré und Zyad Benna - sie waren ohne Grund von der Polizei verfolgt worden - sind hier die ersten Unruhen ausgebrochen. Jene Unruhen, die sich in den darauf folgenden drei Wochen erst auf den ganzen Grossraum Paris und später auch auf andere Vorstädte in Frankreich ausdehnen sollten.

Heute, kurz vor dem ersten Jahrestag am 27. Oktober, interessieren sich die Medien für die Stadt mit knapp 30 000 EinwohnerInnen. Auch hier, vor dem Eingang des Veranstaltungsraums Espace 93, wo eine von den EinwohnerInnen organisierte Fotoausstellung gezeigt wird, die ein Stück Realität des Bezirks Nummer 93 abbilden soll. Dieser Bezirk ist das Département Seine-Saint-Denis, das die nördlich und östlich von Paris liegenden Vorstädte umfasst und eine der höchsten Armutsraten, Arbeitslosen- und ImmigrantInnenanteile von ganz Frankreich aufweist.

Der Titel der Ausstellung lautet «Clichy sans Cliché», also die Stadt ohne Klischees. Sie zeigt eine Sicht der Realität einer Vorstadt, die in den Augen der BewohnerInnen der Kernstädte nicht mehr als ein verrufenes Getto ist. Die Wirklichkeit ist davon weit entfernt. Es gibt «keine Zustände wie in der Bronx», schreibt ein US-amerikanischer Fotograf, dessen Bilder hier unter anderen ausgestellt werden. Man sieht fröhliche Schulkinder, Luftaufnahmen von Hochhausvierteln, Porträtfotos von EinwohnerInnen in ihren Wohnungen mit handgeschriebenen Kommentaren.

In einer Imbissstube in der Nähe der Ausstellung setze ich mich an einen Tisch. Nach wenigen Minuten bereits tritt ein Kamerateam ein. «Die werden noch so lange rummachen, bis es wieder knallt wie im letzten Jahr», sagt der Mann von der Imbissstube. «Die Einwohner beginnen sich wie in einem Zoo zu fühlen», sagt auch eine Frau vom Sozialzentrum an der Dhuyse - dem kleinen Fluss, der die Stadt zum Teil unterirdisch durchquert. «Wir empfangen inzwischen gar keine Journalisten mehr», sagt sie weiter. «Gestern hatte sich ein Wagen des Fernsehsenders France 3 vor unserer Eingangstür aufgebaut. Prompt hat er gebrannt.» Die Menschen hätten die Nase voll, wie kuriose Wesen vorgeführt und dann kurz nach dem Jahrestag wieder vergessen zu werden.

Bus bis um eins

Clichy-sous-Bois ist schwer zu erreichen, zumindest ohne Auto. Die Stadt hat keinen Bahnhof. Man muss in einer Nachbarstadt den Bus nehmen. Vom Bahnhof im nobel-bürgerlichen Le Raincy aus fährt man lange an der Stadtgrenze zwischen Livry-Gargan auf der linken und Clichy-sous-Bois auf der rechten Seite vorbei. Genau hier war vor einem Jahr eine Gruppe Jugendlicher nach einem Fussballspiel auf dem Nachhauseweg. Plötzlich tauchte eine Einheit der Bac (Brigade Anticriminalité) auf - ein Sondereinsatzkommando der Polizei - und wollte die Jugendlichen kontrollieren. Diese begannen wegzurennen, da sie keine Ausweispapiere dabei hatten und nicht Stunden auf einem Revier verbringen wollten. Die Bac verfolgte sie. Drei der Jugendlichen wollten sich in einem Transformatorhäuschen verstecken. Die Polizisten hätten gewusst, dass den Jugendlichen dort Gefahr drohe, klagten die AnwältInnen der Familien, doch sie hätten nichts unternommen. Am Ende starben Traoré und Benna an einem Stromschlag, ein Dritter erlitt schwere Verbrennungen. Der Bus der Linie 601 fährt an dem Gelände vorbei.

Bis zu den Unruhen im Herbst letzten Jahres verkehrte die Buslinie 601 täglich jeweils nur bis 21 Uhr. Wer danach nach Clichy wollte, musste entweder durch zwei Städte zu Fuss marschieren oder ein teures Taxi nehmen, wenn man denn eines fand. Die Tour gilt bei manchen FahrerInnen als gefährlich. Seit die Unruhen vorbei sind, verkehrt die Linie 601 nun bis ein Uhr morgens. «Insofern haben die Unruhen doch etwas gebracht», sagen mehrere EinwohnerInnen. Das sei aber auch die einzige positive Veränderung seit «den Ereignissen».

Ich frage Laurence Ribeaucourt, ob die Aufstände also keinen so «sinn- und ziellosen» Charakter hatten, wie die bürgerlichen Medien es gerne hervorheben. Ribeaucourt ist Sozialarbeiterin, Präsidentin eines Frauenfussballklubs und parteilose Stadträtin, steht aber auf der gemeinsamen Liste der Linksparteien. Seit achtzehn Jahren kennt sie die Cités, die Hochhaussiedlungen der beiden aneinander grenzenden Städte Clichy und Montfermeil. «Ja und nein», sagt sie. Die Ereignisse könne man durchaus als eine Art «militant geführter Verhandlungen» für eine Verbesserung der Lebensbedingungen betrachten. Oder als einen Aufschrei dagegen. «Allen Beteiligten ist immer klar gewesen, worum es geht. Seit den Unruhen hat sich aber nichts verbessert», sagt Ribeaucourt. Es sei alles gleich geblieben.

Ähnlich sieht das auch Monique Legrand, die Leiterin von Asti, einer Solidaritätsvereinigung für ArbeitsmigrantInnen. Ich treffe die energische Sechzigjährige in ihrem kleinen Büro im Untergeschoss eines Hochhauses. Die MitarbeiterInnen von Asti bemühen sich seit Jahren, zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen Solidarität zu schaffen. Das ist nicht immer leicht, denn auch wenn alle in ähnlichen sozialen Verhältnissen leben, so ziehen sich die Menschen immer mehr in die eigene soziale Gruppe zurück. Auch wurden die öffentlichen Mittel seit den Unruhen nicht erhöht. Grundsätzlich habe die konservative Regierung im Herbst 2005 nur versprochen, jene Subventionen wieder einzurichten, die nach ihrem Amtsantritt vor drei Jahren radikal zusammengestrichen wurden. Diese Mittel sollten nun wieder fliessen. Aber selbst das verändere kaum etwas, sagt Legrand: «Um finanziell zu überleben, mussten wir uns in der Zwischenzeit an andere Stellen wenden, etwa an Stiftungen von privaten oder öffentlichen Unternehmen.» Die einzige spürbare Verbesserung sei bei der Auszahlung der effektiv zugesprochenen Mittel zu verzeichnen: «In den letzten Jahren war das Geld für die Ausgaben des laufenden Jahres oft erst im Januar des Folgejahres überwiesen worden. Jetzt wird wenigs-tens pünktlich abgerechnet.»

Ruhe für die Aufgaben

Vereinigungen wie Asti haben eine wichtige Funktion im Alltag der BewohnerInnen. «Wenn wir Hilfe für die Hausaufgaben und Schülerbetreuung anbieten, sind unsere Stunden immer rappelvoll. Die Kinder erzählen uns, dass sie hier ihre Schulaufgaben in Ruhe machen können.» Zu Hause seien die Wohnungen oft klein und die Familien gross. Die Kinder hätten dort keinen Platz und keine Ruhe. «Es geht um die Zukunft dieser Kinder, die in der Hoffnung auf bessere Berufschancen die Schule auch wirklich abschliessen wollen. Fehlende Schulen, keine Transportmittel und eine schlechte Verkehrsanbindung sind heute einige der grössten Probleme in Clichy-sous-Bois. Lange Zeit war der Aufbau einer Infrastruktur vernachlässigt worden. Erst in den sechziger Jahren entstanden die Grosssiedlungen der Pariser Banlieue, damals noch für die eher gehobenen Bevölkerungsschichten. Am Rande des Waldes von Bondy und des gleichnamigen Sees erhoffte man sich eine hohe Lebensqualität. Monique Legrand erinnert sich, dass noch vor zwanzig Jahren Prominente wie der Rockschnulzensänger Johnny Halliday oder SchauspielerInnen hier lebten. Und Monsieur Bouzdi, der Pförtner der Fotoausstellung, erinnert sich an die vielen Ärzte und Anwältinnen, die hier praktizierten. Auf den Fotos sieht man auch, dass die Bevölkerung von Clichy damals eine andere war, nämlich vor allem eine weisse.

Dann folgte die Veränderung. Die Wohnungen in den Hochhäusern von Clichy waren überwiegend in privatem Besitz und wurden für Spekulationen benutzt, erzählt Laurence Ribeaucourt. «Die neuen Investoren sassen in Paris oder in der Schweiz und kümmerten sich nicht um die Instandhaltung.» Immer mehr Wohlhabende seien weggezogen. Vor Ort blieb nur, wer nicht anders konnte: ImmigrantInnen und Arme, die wegen der Städtebaupolitik und der steigenden Lebenshaltungskosten aus Paris gedrängt wurden und sich nur noch in den zunehmend heruntergekommenen Hochhäusern einmieten konnten.

Die Folge war, dass sich der Staat und die privaten EigentümerInnen immer weniger um die Infrastruktur kümmerten. So gibt es heute beispielsweise einen grossen Mangel an ÄrztInnen, da die meisten inzwischen weggezogen sind. In Clichy-sous-Bois kommen heute etwa neun ÄrztInnen auf 10 000 Einwohner-Innen; im nationalen Durchschnitt sind es 33 pro 10 000. Und weil es kaum Arbeitsplätze gibt, ist Clichy-sous-Bois gleichzeitig ein Reservoir für billige Arbeitskräfte im Grossraum Paris. «Nehmen Sie morgens früh den Bus hier, dann sehen Sie die vielen schwarzen Frauen, die seit 4 Uhr unterwegs sind. Sie putzen in den Büros der Hauptstadt, einmal frühmorgens und dann noch mal am Abend», sagt Legrand. «Oder sie arbeiten am Flughafen von Roissy, wie Tausende in dieser Gegend.» Trotz einer Arbeitslosigkeit von dreissig Prozent der Bevölkerung ist die Mehrheit der BewohnerInnen von Clichy in die Arbeitswelt integriert - allerdings auf der untersten Stufe der Hierarchie.

Weisse wohnen hier nicht

Leben müssen diese Menschen dagegen in Siedlungen, die vom Rest der Gesellschaft in mancher Hinsicht abgeschnitten sind. «Wir sind für die Gewalt. Es ist doch normal, dass die Leute sich gegen die Polizei zur Wehr setzen. Was die Weissen dazu denken, ist uns egal. Die wohnen hier ja nicht», haben zwei junge schwarze Frauen unter ihr Foto geschrieben, das im Espace 93 ausgestellt ist. Ein anderer Jugendlicher, der vor einem Wandposter von Mekka in der elterlichen Wohnung abgebildet ist, schreibt hingegen: «Wie gut wäre es, wenn sich Leute unterschiedlicher Herkunft stärker mischen würden. Hier sind wir weitgehend unter Einwanderern. Ich möchte auch mal mit anderen Leuten zusammenkommen.»

Haben denn die Unruhen vom letzten Jahr etwas am Gefühl von Trennung und Diskriminierung geändert, frage ich Ribeaucourt. «Ich glaube schon, dass es viele Menschen ausserhalb der Banlieues zum Nachdenken gebracht hat», sagt sie. Ihr Bruder, der im Elsass lebt, hatte sie nach Ausbruch der Unruhen angerufen. «Ich habe ihm erklärt, dass es hier nicht wie im Krieg zugeht, dass es eine Solidarität gibt, man sich kennt und dass ich hier eine Aufgabe habe, mit der ich etwas bewirken kann.» Wer natürlich mit dem Finger auf die Bevölkerung in den Banlieues zeigen wolle, werde es auch weiterhin tun.

Als Anfang eines positiven Prozesses sieht Mohamed Mechmache die Unruhen. Er ist der Sprecher der Vereinigung AC le feu!, die sich im November 2005 unmittelbar nach den Unruhen gegründet hat. Der Name steht für Association du collectif liberté, égalité, fraternité ensemble et unis (Vereinigung des Kollektivs Freiheit -, Gleichheit -, Brüderlichkeit, zusammen und vereint). Phonetisch ausgesprochen kann es auch «assez le feu» bedeuten, genug vom Feuer. Seit sechs Monaten sind die Mitglieder der Vereinigung in ganz Frankreich unterwegs, besuchten 120 Städte und sammelten rund 20000 Aussagen in einem «Cahier des doléances». In diesen Beschwerdeheften konnten die TeilnehmerInnen ihre Erfahrungen und Forderungen zum Beispiel zu den Themen Einwanderung, Umwelt oder «Praktiken der Polizei» formulieren. Immer wieder findet sich auch die Forderung nach einem Wahlrecht für alle, die in einer Kommune leben und Steuern zahlen - ob mit oder ohne französischen Pass. Oder nach einem Ende von Diskriminierungen bei der Arbeits- oder Wohnungssuche. Am Mittwochnachmittag dieser Woche wollen die OrganisatorInnen durch Paris marschieren und die Forderungen im französischen Parlament überreichen. «Danach liegt es an den Politikern, etwas zu tun», sagt Mechmache. Die Menschen würden aufmerksam beobachten, welche ihrer Forderungen auch umgesetzt werden, und dann entsprechend wählen. «Wir ermutigen die Leute auch, sich auf die Wählerlisten einzutragen», sagt Mechmache weiter. Früher hätten sie sich nicht um Politik gekümmert. Er möchte die Linke wie auch die bürgerliche Rechte in die Pflicht nehmen. Bisher hätten beide nicht viel zur Verbesserung der Lebensbedingungen getan. Wenn sich auch weiter nichts tue, so Mechmache, könne es bei einem nächsten Mal «zehn mal stärker» explodieren als im vergangenen Herbst.

Eine Frage der Zeit

In Clichy-sous-Bois hatte der Tod von zwei Jugendlichen, die von einer Polizeieinheit verfolgt worden waren, am 27. Oktober 2005 eine Serie von Brandstiftungen und Zusammenstössen zwischen Jugendlichen und der Polizei ausgelöst. In den darauf folgenden Tagen weiteten sich die Unruhen auf andere Pariser Banlieues und bis Mitte November auch auf Städte wie Dijon, Lille, Marseille und Toulouse aus.

Die Unruhen im Herbst 2005 in den Pariser Vorortstädten kamen wenig überraschend. Ursache der Krawalle der fast ausschliesslich männlichen Jugendlichen waren die schlechten Lebensbedingungen in den Banlieues. Die hohe Arbeitslosigkeit, Armut und Diskriminierung durch die Behörden sowie eine restriktive Sicherheitspolitik und Einsparungen der französischen Regierung im Sozialbereich hatten die soziale Situation der Bevölkerung in den Banlieues seit Jahren verschlechtert. Innenminister Nicolas Sarkozy hatte zudem durch seine Äusserungen, die Jugendlichen seien «Abschaum», den Konflikt noch verschärft.

Am 8. November hatte die Regierung den Ausnahmezustand verhängt. Mitte November flauten die Unruhen ab, worauf der Notstand am 3. Januar 2006 wieder aufgehoben wurde. Insgesamt wurden während der Unruhen rund 3500 Personen und nachträglich weitere 1600 verhaftet. Vielen konnten jedoch keine strafbaren Handlungen nachgewiesen werden. Andere wurden in Schnellprozessen mit zum Teil ungenügender Verteidigung verurteilt. Etwa 700 Personen - darunter 118 Minderjährige - erhielten grossteils Haftstrafen ohne Bewährung.



* Aus: Wochenzeitung WOZ (Schweiz), 26. Oktober 2006


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