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"Die nukleare Abschreckung gibt uns die Macht, Herrscher über unser Handeln zu sein"

Chiracs umstrittene Rede im Wortlaut - Dokumentation von Stellungnahmen und Kommentaren

Wer als Staatsführer terroristische Mittel gegen Frankreich anwenden oder Massenvernichtungswaffen einsetzen wolle, müsse mit einer "entschlossenen und angemessenen Antwort" rechnen, sagte Frankreichs Präsident Jacques Chirac am 19. Januar 2006 in einer Rede auf einem Marinestützpunkt vor der bretonischen Küste. "Dies kann eine konventionelle Antwort sein, sie kann aber auch anderer Natur sein." Chiracs Ansprache stieß auf empörte Reaktionen in der Friedesnbewegung und überwiegend kritische Kommentare in den überregionalen Zeitungen.
Im Folgenden dokumentieren wir

  1. die Rede Chiracs (Auszüge)
  2. Stellungnahmen aus der Friedensbewegung (u.a. vom französischen "Mouvement de la Paix
  3. Kommentare aus der Presse.



Rede von Staatspräsident Jacques Chirac in Auszügen:

Zur atomaren Abschreckung:

(...) Angesichts der Krisen, die die Welt erschüttern, angesichts der neuen Bedrohungen hat sich Frankreich immer in erster Linie für die Prävention entschieden. Diese bleibt in allen Formen die eigentliche Grundlage unserer Verteidigungspolitik. Die Prävention stützt sich auf das Recht, die Einflussnahme und die Solidarität und kommt so durch das Handeln unserer Diplomatie zum Ausdruck, die ohne Unterlass darum bemüht ist, Krisen zu lösen, die hier oder dort entstehen können. Sie kommt auch über eine große Wahl an unterschiedlichen Strategien aus den Bereichen Verteidigung und Sicherheit zum Ausdruck, in erster Linie über die bereits in Zeiten des Friedens dislozierten Streitkräfte.

Aber es wäre zu gutgläubig, alleine in die Prävention zu vertrauen, um uns zu schützen. Um gehört zu werden, muss man nötigenfalls auch fähig sein, Gewalt anzuwenden. Wir müssen also über eine bedeutende Interventionskapazität außerhalb unserer Grenzen mit konventionellen Mitteln verfügen, um diese Strategie zu unterstützen und zu vervollständigen.

Eine solche Verteidigungspolitik beruht auf der Gewissheit, dass unsere lebensnotwendigen Interessen garantiert werden.

Diese Rolle wird der nuklearen Abschreckung zugedacht, die sich in die direkte Fortsetzung unserer Präventionsstrategie einfügt. Sie ist deren letztes Mittel.

Angesichts der Sorgen der Gegenwart und der Unsicherheiten der Zukunft bleibt die nukleare Abschreckung die grundlegende Garantie für unsere Sicherheit. Sie gibt uns die Macht, egal wo die Bedrohungen herkommen, Herrscher über unser Handeln, unsere Politik, über die Bewahrung unserer demokratischen Werte zu sein.

Gleichzeitig unterstützen wir weiterhin die internationalen Bemühungen um generelle und vollständige Abrüstung und, insbesondere, die Verhandlung um einen Sperrvertrag für die Herstellung von Kernbrennstoffen. Aber wir werden natürlich nur weiter in Richtung Abrüstung gehen können, wenn die Bedingungen unserer globalen Sicherheit erhalten bleiben und wenn der Wunsch nach Fortschritt von allen geteilt wird.

In diesem Sinne hat Frankreich seine nuklearen Mittel zur Abschreckung aufrechterhalten, sie aber gemäß dem Inhalt des Nichtverbreitungsvertrages und prinzipiell auf das absolut Notwendigste reduziert.

Es liegt in der Verantwortung des Staatschefs, permanent die Grenze unserer vitalen Interessen einzuschätzen. Die Unsicherheit dieser Grenze ist untrennbar von der Abschreckungsdoktrin selbst.

Die Integrität unseres Staatsgebiets, der Schutz unserer Bevölkerung, die freie Ausübung unserer Souveränität werden immer den Mittelpunkt unserer vitalen Interessen bilden. Aber sie beschränken sich nicht darauf. Die Wahrnehmung dieser Interessen verändert sich im Rhythmus der Welt, einer Welt, die von der zunehmenden Unabhängigkeit der europäischen Länder und von den Auswirkungen der Globalisierung geprägt ist. Die Garantie unserer strategischen Versorgung oder der Verteidigung verbündeter Länder sind, unter anderem, Interessen, die es zu verteidigen gilt. Es ist die Sache des Staatspräsidenten, das Ausmaß und die potentiellen Folgen eines schwerwiegenden Angriffs, einer Bedrohung oder einer Erpressung hinsichtlich dieser Interessen einzuschätzen. Diese Einschätzung kann gegebenenfalls zu dem Schluss führen, dass unsere vitalen Interessen beeinträchtigt sind.

Die nukleare Abschreckung ist, ich habe es nach dem 11. September 2001 betont, nicht dazu gedacht, fanatische Terroristen abzuschrecken. Vielmehr müssen die Staatschefs, die eventuell auf terroristische Mittel gegen uns zurückgreifen, genau wie diejenigen, die es in Betracht ziehen, Massenvernichtungswaffen zu benutzen, verstehen, dass sie sich einer strengen und angemessenen Reaktion von unserer Seite aussetzen. Diese Reaktion kann konventionell sein. Sie kann aber auch anderer Natur sein.

Seit ihren Anfängen ist die Abschreckung stets an ihr Umfeld und an die Einschätzung der Bedrohung, an die ich soeben erinnert habe, angepasst worden - in Theorie und Praxis. Wir sind in der Lage, einer starken Macht, die Interessen gefährdet, welche wir für vital halten, Schaden jeder Art zuzufügen. Gegen eine regionale Macht haben wir nicht die Wahl zu treffen zwischen Untätigkeit und Vernichtung. Die Flexibilität und Reaktivität unserer strategischen Kräfte würden uns erlauben, unsere Antwort direkt an ihre Machtzentren und an ihre Handlungsfähigkeit anzupassen. Unser nukleares Potential wurde in diesem Sinne ausgerichtet. So wurde zum Beispiel die Anzahl der Atomsprengköpfe bei einigen Raketen unserer U-Boote reduziert.

Aber unser Konzept der Anwendung von Nuklearwaffen bleibt gleich. Es darf auf keinen Fall die Rede davon sein, atomare Mittel zu militärischen Zwecken bei einem Konflikt zu verwenden. In diesem Sinne wird das nukleare Potential bisweilen als „Waffe zum Nichtgebrauch“ qualifiziert. Dies darf jedoch keinesfalls Zweifel an unserer Absicht und unserer Fähigkeit entstehen lassen, unsere Atomwaffen einzusetzen. Die glaubwürdige Drohung ihres Einsatzes lastet pausenlos auf den Staatschefs, die feindliche Absichten uns gegenüber haben. Sie ist notwendig, um diese zur Vernunft zu bewegen, um ihnen bewusst zu machen, welchen Preis ihr Handeln hätte - für sie selbst und für ihre Staaten. Darüber hinaus behalten wir uns selbstverständlich immer das Recht vor, eine letzte Warnung zu benutzen, um unsere Entschlossenheit zu zeigen, unsere vitalen Interessen zu verteidigen.

Also haben sich die Grundsätze unserer Abschreckungsdoktrin nicht verändert. Aber ihre Art, zum Ausdruck zu kommen, hat sich weiterentwickelt und wird sich noch weiterentwickeln, damit wir dem 21. Jahrhundert mit all seinen Herausforderungen begegnen können. (...)

Quelle: Homepage der französischen Botschaft; www.botschaft-frankreich.de


Stellungnahmen aus der Friedensbewegung


IPPNW empört über Chiracs nukleare Drohung

Frankreich ändert seine Nuklearstrategie – und sendet falsches Signal an Iran

Berlin, 19. Januar 2006: Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) reagieren empört auf Äußerungen des französischen Staatspräsidenten Chirac, wonach er u.a. „Terrorstaaten“ mit einem Atomwaffeneinsatz droht.
„Dieses Säbelrasseln ist in der gegenwärtigen Krise um Irans Atomprogramm das grundsätzlich falsche Signal. Chirac dreht an der Eskalationsschraube“, so die Abrüstungsreferentin der IPPNW, Xanthe Hall. „Gefordert sind jetzt vor allem Ruhe und geschickte Diplomatie, um einen drohenden Krieg zu verhindern. Noch mehr Drohungen sind wenig hilfreich.“
Chiracs Erklärungen passen Frankreichs Atomwaffendoktrin denen der „großen“ Atomwaffenstaaten USA und Russland an. Auch sie sind bereit, Atomwaffen gegen atomwaffenfreie Staaten einzusetzen. „60 Jahre nach Hiroshima rückt die Welt wieder näher an den nuklearen Holocaust“, erklärt Xanthe Hall.
Die IPPNW erinnert daran, dass laut dem Rechtsgutachten des Internationalen Gerichthofes, dessen Verkündung sich 2006 zum 10. mal jährt, die Androhung eines Einsatzes oder der Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich völkerrechtwidrig seien.


Arbeitskreis Darmstädter Signal:

Frankreichs Präsident Chirac spielt mit dem atomaren Feuer!
Gewissenhafte Soldaten werden A-Waffen nie einsetzen!

Präsident Jacques Chirac provoziert und stärkt mit seinem unverantwortlichen Gerede über den möglichen Einsatz atomarer Massenvernichtungsmittel die irrational Denkenden in den Lagern der Atomkraft nutzenden Länder und in terroristischen Organisationen, ebenfalls den Besitz von Atomwaffen anzustreben!
Der Einsatz von Atomwaffen ist wegen der unverhältnismäßigen, mörderischen Auswirkungen auf die Bevölkerung seit Jahrzehnten völkerrechtlich untersagt. Einen rechtswidrigen Befehl zu ihrem Einsatz wäre für alle Soldaten - auch französische - ein politisch-rechtliches und auch moralisches Verbrechen!
Wer versucht, wie der französische Präsident, innenpolitische Probleme durch irrationale, die internationale Sicherheit gefährdende außenpolitische Drohgebärden zu bewältigen, der ist eventuell auch bereit, tatsächlich Massenvernichtungswaffen einzusetzen.
Die Bundesregierung, an ihrer Spitze Bundeskanzlerin Angela Merkel, ist gefordert, den französischen Präsidenten wirkungsvoll zu mahnen, auf den gemeinsamen Boden einer internationalen Politik der Kooperation zurückzukehren. Auch die Wirkung des Atomwaffen-Sperrvertrages muss gestärkt werden, z.B. durch dessen noch ausstehende Unterzeichnung durch Israel. Und die Atomwaffenbesitzer selbst müssen ihre atomaren Arsenale weiter abbauen, (Abzug auch von deutschem Boden!), und durch zähes, fortdauerndes Verhandeln, z. B. mit der iranischen Regierung, sowie verstärkte Kontrollen die Gefahr des atomaren Untergangs zu verringern. Die Soldaten haben sie dabei ganz sicher auf ihrer Seite!
Helmuth Prieß, Oberstleutnant a.D.
Dr. Lothar Liebsch, Oberstleutnant a.D.



The sudden change of nuclear doctrine imposed by Jacques Chirac is a dangerous act for the world’s security

Mouvement de la Paix

While France has accepted so far the principle of no-first strike, the principle of nuclear deterrence, Jacques Chirac, President of the French Republic, has just anounced –wihout any consultation of the Parliament and under no urgency- that France could retaliate with targeted nuclear strikes if attacked or even as prevention.
By anouncing all of the sudden this fundamental change in the French nuclear doctrine, he adopts an aggressive strategy. This is very serious! Thinking about using the atom bomb is synonymous with disappearance of all life on earth at short term.
The President of the Republic’s behaviour is dangerous. It sounds like a call to develop nuclear weapons and is a genuine declaration of war. It gives our country a statute of priority target, thereby threatening both targeted countries’ and France’s civil population.
It badly hides though the current difficult position of France at the international level due to its non-compliance with the Non-Proliferation Treaty (come into force in 1970 but signed by France only in 1992).
To justify the new –nuclear– armament programmes, militarily useless, socially expensive, and illegal and suicidal diplomatically from the NPT Article 6 viewpoint, Jacques Chirac thinks up new enemies. His argumentation takes up Georges W. Bush’s when he justified his intervention in Iraq.
Today security conditions must be subjected to a broad public debate. There exist international treaties, the implementation of which would prevent nuclear weapons proliferation. It is urgent to implement them.
The last three years mobilisations over the issues of peace, security and disarmament indicate a new receptiveness of the public. The memory of the victims of Hiroshima and Nagasaki but also of the French nuclear tests, leads us to question public opinion, governements and institutions so that the key priority be nuclear weapons’ abolition. There is nothing more urgent than cutting military spendings that swallow more than 1,000 billion $ of the world’s wealth and that seriously handicap human development.

Saint Ouen, January 20, 2006
Pierre Villard
co-president, Mouvement de la Paix



Aus einer Pressemitteilung der "Kooperation für den Frieden":

Kofi Annan soll Pause der Eskalation bewirken

Die "Kooperation für den Frieden", ein bundesweiter Zusammenschluss von ca. 40 Friedensorganisationen, hat auf ihrer Strategietagung in Hannover am Wochenende ein "Monitoring-Projekt für zivile Konfliktbearbeitung und Kriegsprävention" beschlossen.
Der Bundesregierung und der EU soll an Hand konkreter Krisensituationen auf die Finger geschaut und rechtzeitig mit Analysen, Mahnungen und Vorschlägen zur Deeskalation und Konfliktbearbeitung Druck für friedenspolitisches Engagement gemacht werden. Das ehrgeizige Vorhaben könnte später in eine Art "Stiftung Warentest für Konfliktbearbeitung" münden.
Begonnen wird diese Arbeit mit der alarmierenden Situation im Atomstreit mit dem Iran, die nach Einschätzung der Experten aus Friedensforschung und Friedensbewegung schon bald zu einem Krieg mit unabsehbaren Konsequenzen eskalieren kann.
Die Konferenz unterstützt des halb eine Initiative des Osnabrücker Friedensforschers Mohssem Massarat, UN-Generalsekretär Kofi Annan zu bewegen, eine Pause im weiteren Gang der Eskalation zu bewirken und eine "Mediationsgruppe" zum Konflikt einzuberufen, die aus für alle Seiten akzeptierbaren Persönlichkeiten bestehen sollte.
Kritisiert wird die Verhandlungsführung der "EU-3" Deutschland, Frankreich und Großbritannien, die jetzt zur Rechtfertigung für Gewaltanwendung durch die USA und evtl. Israels zu werden droht. Dazu wird in den nächsten Wochen ein umfangreiches Dossier erstellt, das neben der Analyse und dem drohenden Szenario realistische Alternativen zum politischen Handeln enthalten wird. Noch sei der Weg in den drohenden Krieg umkehrbar.

22. Januar 2006


Kommentare aus der Presse

CHIRACS DROHUNG: Willkommen im Falkenhorst

VON KARL GROBE

George W. Bush muss sich nicht mehr einsam fühlen. Jacques Chirac hat sich auf seine alten Tage entschlossen, ihm Gesellschaft zu leisten beim Entwerfen nuklearer Strategie. Die Umrüstung der französischen Atomsprengköpfe auf kleinere Kaliber, damit ihre Verwendung nicht gleich ganze Staaten verwüstet - welch humaner Gedanke! -, und die Drohung, sie gegen staatliche Freunde von Terroristen zu verwenden, ähneln der fünf Jahre alten Nuclear Posture Review aus dem Hause Rumsfeld wie ein Kuckucksei dem anderen. Willkommen im Falkenhorst, Monsieur le président.

Die Idee, Atomwaffen kriegsverwendungsfähig zu machen, indem man sie miniaturisiert, hebt die bisherige von fataler Überlegung ausgehende, aber wirksame Abschreckungstheorie aus den Angeln. Die ging davon aus, dass auf den Erstschlag der Zweitschlag des Gegners folge, so dass beide untergehen; selbstmörderische Morddrohung. Die Existenz der vernichtenden Waffen verhinderte ihren Einsatz. Dass sie aber nicht einsetzbar waren, machte hunderte Stellvertreterkriege möglich. Das war die Realität des angedrohten großen und des kleineren tatsächlichen Grauens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Chirac hebt das auf seine Weise den umfassenden Krieg verhindernde Denkgerüst nun aus den Angeln. Er geht über die neue US-Ideologie in einem Punkt noch hinaus. Dem Pentagon war die Existenz des russischen Rivalen immer bewusst; seine veränderten Pläne sollten den Nuklearwaffen-Einsatz möglich machen, ohne dass eine russische Antwort folgen musste: Taktisch, das heißt nicht auf strategische Vernichtung abhebend, gleichwohl verheerend genug, und präemptiv, also schon auf die Gefahr hin, dass ein konkurrierender Staat sich ein A-Arsenal zwecks Bedrohung oder Zurückdrängung der USA zulegen könnte.

Chirac hebt nun auf Staaten ab, die "den Terrorismus fördern". Dies ist ein doppelter Denkfehler. Erstens hat bisher kein noch so aggressives, imperialistisches, im ideologischen Allwissenheitswahn befangenes Regime A-Waffen eingesetzt, eingedenk des Risikos. Zweitens wird Terrorismus besonders in versagenden, herrschaftsunfähigen Staaten gefördert. Wie das geht, zeigen die Entwicklungen etwa in Irak und Afghanistan sehr deutlich. Staatlich ausgeübten Terror - wie in Tschetschenien oder durch Todesschwadrone auf anderen Kontinenten - ist ohnehin nicht als Objekt gemeint.

Das relativ schwache Machtzentrum eines Versagerstaates zu vernichten, trifft gerade die Terroristen nicht, die bekämpft werden sollen. Im Gegenteil; es befreit sie von einem Gegner, dem Inhaber staatlicher Restgewalt.

Dies reicht schon, um Chiracs Altersweisheit als gefährlich zu erkennen. Es gibt aber noch eine über die Grande Nation hinausreichende mögliche Wirkung. Nachahmer können sich nun legitimiert fühlen - Indien gegen Terroristennester in Pakistan, China gegen Taiwan, Nord- gegen Südkorea. Die Liste ist lang.

Aus: Frankfurter Rundschau, 21. Januar 2006


Verhängnisvolles Duo

Von Frank Wehner

Der Iran-Streit hat die Spannungen in der Welt enorm verschärft, und just in dieser Zeit feiern fast Vergessene Auferstehung. Bin Laden wurde wieder mobilisiert als Schreckgespenst, und Chirac erinnert daran, dass Frankreich ja noch Atomwaffen hat, von denen man lange nicht viel hörte. Das Gemeinsame an diesem Doppelauftritt so unterschiedlicher Akteure ist, dass er in beiden Komponenten höchst geeignet ist, das Klima anzuheizen. Wobei es freilich dem Franzosen Nummer eins mühelos gelingt, den Oberterroristen auszustechen.
Denn während Bin Laden nur das oft Gesagte wiederkäut, und das auf ziemlich müde Weise, ändert Chirac ganz munter Frankreichs nukleare Strategie. War die Force de frappe bislang die Abschreckung des Schwachen, so geht der Schwache nunmehr dazu über, den starken Mann zu spielen, und senkt in einem Moment, in dem das die besorgte Welt am wenigsten braucht, die Schwelle zum Einsatz nuklearer Waffen. Nun mag die präsidiale U-Boot-Rede vor allem dazu dienen, ein ramponiertes Image aufzubessern, doch die Wirkung ist deshalb nicht weniger verhängnisvoll. Will man Teheran dazu bringen, bei seinem Atomprogramm keine Kompromisse einzugehen, kann man das kaum effektiver tun. Ein Mitglied der EU-Troika, das mit dem atomaren Knüppel droht, disqualifiziert sich selber. Und stärkt andere Nuklearbesessene nebst den Bin Ladens dieser Welt.

Aus: Neues Deutschland, 21. Januar 2006


Euro-Bushismus

Chirac droht mit Atomwaffen

Von Werner Pirker


Während die Bush-Krieger an der Heimatfront schwer in die Defensive geraten sind, findet in Europa die Bush-Politik der militärischen Erpressung von um ihre nationale Souveränität ringenden Staaten ihre eifrigen Nachahmer. So scheint vor allem Frankreichs rechtskonservativer Präsident Jacques Chirac zu der Überzeugung gelangt zu sein, daß von Bush lernen siegen lernen bedeute. Auf der Marinebasis Ile Longue drohte er den Anführern von Staaten, die terroristische Mittel »gegen uns« einsetzen würden, mit atomarer Vergeltung. Die würde dann wohl nicht nur die Regierungen dieser Staaten treffen.

Nun behält sich also auch Frankreich sein Recht auf den atomaren Erstschlag vor. Nicht nur gegenüber Ländern, die selbst auch in Besitz von Atomwaffen sind, sondern auch gegenüber solchen, die nicht nuklear aufgerüstet sind. In Wirklichkeit ist diese Drohung ausschließlich gegen Länder ohne Atomwaffen gerichtet. Denn eine wirkliche nukleare Erstschlagskapazität ist nur dann gegeben, wenn der angegriffene Staat zu keiner nuklearen Antwort befähigt ist. Das sind in der Sprache der selbstermächtigten Weltenlenker die sogenannten »Terrorstaaten«. Monsieur Chirac hält es somit für durchaus angemessen, auf einen terroristischen Anschlag mit einem atomaren Vernichtungsschlag zu reagieren. Die nukleare Hemmschwelle ist so niedrig wie noch nie. Standen früher Atomwaffen gegen Atomwaffen, die damit ein »Gleichgewicht des Schreckens« herstellten, so werden nun Atomwaffen gegen selbstgebastelte Autobomben in Stellung gebracht.

Chiracs Atomkriegsansage platzte mitten in die von den Westmächten gegen den Iran betriebene Kampagne hinein. Ein mit Kernwaffen aufgerüsteter Iran wäre als Objekt der Erpressung wenig geeignet. Um erpreßbar zu bleiben, wird er unter Anwendung aller Mittel einer aggressiven Diplomatie erpreßt. So wurde schon der Irak wehruntauglich gemacht. Deshalb wäre man in Teheran wohl nicht allzu peinlich berührt, würde das iranische Atomforschungsprogramm Möglichkeiten einer militärischen Anwendung der Kernenergie bloßlegen. Chiracs Liebeserklärung an die Bombe dürfte das iranische Regime in seinem Bestreben, sich nicht willenlos auf die Schlachtbank führen zu lassen, noch bestärkt haben.

Aber warum rührt ausgerechnet ein Chirac nun am lautesten die Kriegstrommel, wo doch Paris als eine Bastion des Widerstandes gegen den Irak-Krieg galt? Je mehr die Bush-Doktrin der globalen Unterwerfung Schwächen zeigt, desto mehr fühlt sich EU-Europa offenbar ermutigt, imperialistische Stärke zu demonstrieren. Und so befindet sich der Bushismus weiter auf dem Vormarsch – nicht im Irak und nicht in den USA, sondern in Good Old Europe.

Aus: junge Welt, 20. Januar 2006


Was George W. Bush mit dem Irakkrieg erreicht hat, macht Jacques Chirac auf seine Art - von Josef Kirchengast
Auszug

(...)
Jetzt überrascht Chirac ein weiteres Mal Freund und Feind. Er droht Staaten, die gegen Frankreich terroristische Mittel einsetzen oder den Einsatz von Massenvernichtungswaffen erwägen, mit gezielten Atomschlägen. Der Hinweis auf "die Versuchung gewisser Staaten, sich unter Bruch der Verträge mit Atomwaffen auszustatten", spielt klar auf den Iran an. Chiracs spontane Modifizierung der französischen Nukleardoktrin soll also, wie man vermuten darf, abschreckende Wirkung haben. Zumindest aber die Kompromissbereitschaft Teherans in neuen Verhandlungen über sein fragwürdiges Atomprogramm erhöhen. Das war freilich schon nach den jüngsten Äußerungen des geistlichen Oberhaupts Ayatollah Ali Khamenei äußerst unwahrscheinlich. Mit Chiracs Drohung tendiert diese Chance gegen null. Denn jene Hardliner im Iran, die Atomwaffen wollen - und diese Kräfte gibt es mit Sicherheit -, haben nun einen willkommenen Beleg für ihre (absurde) Behauptung, der Westen wolle das Land in die Enge treiben. Was George W. Bush mit dem Irakkrieg erreicht hat, macht Jacques Chirac auf seine Art: jene Realität, die man zu bekämpfen vorgibt, selbst nach Kräften zu fördern.

DER STANDARD (Wien), 20. Januar 2006


Bomben gegen die Bombe

(Stefan Coprnelius setzt sich in der Süddeutschen Zeitung vor allem mit der iranischen Atomdrohung auseinander und erwägt militärische Antworten Israels. Auszug:)

(...)
Schaul Mofaz, der israelische Verteidigungsminister, hat nun die Militäroption in den Mittelpunkt der tagespolitischen Aufgeregtheit gerückt, obwohl alle Varianten des Waffeneinsatzes von den Experten längst durchdacht sind.
Zerstören lässt sich die iranische Atomforschung wohl nicht. Teheran hat aus der Vergangenheit gelernt und seine Programme auf mindestens 80, stark befestigte und verbunkerte Standorte im ganzen Land verteilt. Vermutlich sind es mehr. Wollte man sie alle zerstören, dann müsste die israelische Luftwaffe tagelang Einsätze fliegen, zuvor die iranische Luftabwehr ausschalten und für all dies die Überflugsrechte der USA über den Irak erwirken.
Der Konflikt würde automatisch den Irak einschließen und dort vermutlich zu schweren inneren Unruhen führen. (...)
Bleibt eine militärische Minimaloption, auf die Mofaz vermutlich anspielt: Israel könnte versucht sein, die Atomproduktion Irans so weit zu behindern, dass eine Waffe in weite Ferne rückt. Schlüsselanlagen für die Anreicherung von Uran müssten getroffen und zerstört werden, damit Iran auf Jahre mit dem Wiederaufbau beschäftigt ist. Wo diese Anlagen sind, weiß nicht mal die Atomenergiebehörde.
Ob Israel mehr weiß, ist fraglich. Allerdings rückt der Moment näher, an dem Israel abwägt: Wie gefährlich ist ein atomar bewaffneter Iran für die eigene Existenz – und wie gefährlich sind gezielte Luftschläge inklusive der Gegenangriffe und der unkalkulierbaren politischen Folgen für das Land. Es ist daher höchste Zeit, den Katalog der Möglichkeiten wieder zu erweitern und die gefährliche Eskalation zu stoppen.

Auszug aus: Süddeutsche Zeitung (online-Ausgabe), 22. Januar 2006


FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG

(...)
Chiracs Auftritt zeigt, dass das iranische Nuklearprogramm jene Probleme von der Spitze der internationalen Prioritätenliste verdrängt hat, die im Gefolge der amerikanisch-britischen Intervention im Irak entstanden sind. Es ist erwiesen, dass Iran seit Jahren Bestimmungen des Vertrags gegen die Verbreitung von Atomwaffen verletzt und permanent versucht hat, die Inspekteure der Internationalen Atomenergiebehörde hinters Licht zu führen. Es ist offensichtlich, dass Teheran die Verhandlungen mit dieser Behörde und den EU-3 dazu missbraucht hat, Zeit zu gewinnen und sein Programm fortzuführen. Es gibt also wenig Zweifel daran, dass das Mullah-Regime die technischen Kapazitäten aufbaut, um Nuklearwaffen herzustellen. Die Besorgnis über diese Entwicklung ist deshalb so dramatisch gewachsen, weil es in den vergangenen Monaten unübersehbar eine Radikalisierung des Teheraner Regimes gegeben hat."


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