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Aus für die Force de frappe?

Debatte in Frankreich über Sinn der teuren Nuklearstreitkräfte

Von Ralf Klingsieck, Paris *

Auf der Suche nach Möglichkeiten, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen, hat der ehemalige sozialistische Premier Michel Rocard vorgeschlagen, die »völlig überflüssigen« französischen Nuklearstreitkräfte - die Force de frappe (wörtlich: Schlagkraft) - abzuschaffen. So könnten in einer fünfjährigen Legislaturperiode 16 Milliarden Euro gespart werden.

Das nukleare Abschreckungspotenzial Frankreichs habe seit dem Ende des Kalten Krieges und den Veränderungen auf der internationalen Bühne seinen Sinn verloren, meint Michel Rocard. Mit seinem Vorschlag hat der heute 81-Jährige, der von 1988 bis 1991 die Regierung unter Präsident François Mitterrand führte, eine heftige Polemik sowohl unter rechten wie auch unter linken Politikern ausgelöst, die diesen Vorschlag mehr oder weniger einhellig ablehnen. Ausnahmen bilden nur die Grünen, die das auch schon wiederholt vorgeschlagen haben, und FKP-Nationalsekretär Pierre Laurent, der die Idee zumindest »bedenkenswert« findet.

Präsident François Hollande, der zweifellos um die weltpolitische Rolle Frankreichs und seinen Einfluss etwa im UN-Sicherheitsrat fürchtet, hat sofort mit der offiziellen Erklärung reagiert, dass ein solcher Verzicht nicht in Frage komme und dass die nukleare Abschreckung »zum Frieden beiträgt«. Zugleich versicherte er, dass sich Frankreich an allen Bemühungen um eine nukleare Abrüstung aktiv beteiligt. Wohl um die Militärs hinsichtlich der Zukunft der Force de frappe zu beruhigen, wurde für Anfang Juli demonstrativ ein Besuch von Verteidigungsminister Jean Yves Le Drian auf der Atom-U-Boot-Basis in Brest anberaumt.

Als einziger unter Rocards ehemaligen Parteifreunden unterstützt ihn der frühere sozialistische Verteidigungsminister Paul Quilès. Der hat dieser Tage ein Buch mit dem Titel »Die Atomwaffen - eine französische Lüge« herausgebracht, in dem er ebenfalls den Nutzen der Force de frappe wie den landesweiten Konsens darüber in Zweifel zieht und eine breite öffentliche Debatte fordert.

Allerdings geht es ihm um geopolitische und weniger um finanzielle Erwägungen. Quilès, noch vor dem Ende der Ost-West-Konfrontation Verteidigungsminister, betont, dass er sich »seitdem weiterentwickelt« habe. »Die nukleare Abschreckung passt nicht mehr in die Welt von heute«, meint er und fordert, sich mit allen Mitteln für eine weltweite und totale Abschaffung aller Kernwaffen einzusetzen.

Selbst wenn die Zahl der Atomsprengköpfe in der Welt, die vor allem den USA und Russland gehören, inzwischen auf 20 000 reduziert wurde, seien das zusammen noch immer 450 000 Mal soviel wie die Stärke der Atombombe von Hiroshima, die 200 000 Tote gefordert hat, gibt Quilès zu bedenken. Die Erklärung des gegenwärtigen sozialistischen Verteidigungsministers Jean Yves Le Drian, die Force de frappe sei eine »Lebensversicherung«, weist er mit der Bemerkung zurück, es handele sich doch wohl eher um eine »Todesversicherung«. Auch General Vincent Desportes, der ehemalige Chef der Militärhochschule, hält die nukleare Streitmacht für überholt und meint, angesichts der neuen Bedrohungen etwa durch den internationalen Terrorismus sei die Abschreckung durch moderne konventionelle Waffen sinnvoller.

Die Force de frappe verfügt heute noch über 300 nukleare Raketensprengköpfe an Bord von Rafale-Jagdbombern auf dem Stützpunkt im nordfranzösischen Saint-Dizier und von Maschinen des Typs Mirage 2000 auf dem südfranzösischen Stützpunkt Istres sowie von vier mit Interkontinentalraketen bestückten Atom-U-Booten, von denen sich ständig drei auf dem Meer befinden. Die Kosten für Unterhaltung und ständige Erneuerung belaufen sich offiziell auf jährlich 3,4 Milliarden Euro, was etwa zehn Prozent der Verteidigungsausgaben ausmacht.

Die Landkomponente der Force de frappe, die Raketenstellung auf dem südfranzösischen Plateau d'Albion mit ihren 18 Raketenbunkern, wurde 1999 gemäß einer schon 1995 von Präsident Mitterrand gefassten Entscheidung aufgegeben. In diesem Zusammenhang ordnete Mitterrand auch das Ende der Atombombenversuche an, die aber von seinem Nachfolger Jacques Chirac 1995/96 für die Dauer eines Jahres wieder aufgenommen wurden. Der Militärstandort auf dem Plateau d'Albion dient heute u.a. als Abhörstation des Auslandsgeheimdienstes DGSE. Die Raketenbunker wurden zugemauert, bis auf einen, der heute als Sternwarte dient und der Öffentlichkeit zugänglich ist.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 26. Juni 2012


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