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Ungestrafte "Selbsthilfe" gegen Roma

In Marseille vertrieben Franzosen unliebsame Migranten

Von Ralf Klingsieck, Paris *

Erst vertrieb die Polizei Roma aus ihren Camps, in Marseille wurden die französischen Bürger nun selbst tätig - bislang ohne Konsequenzen.

Was sich in der vergangenen Woche am Rande von Marseille abgespielt hat, müsste Innenminister Manuel Valls eigentlich peinlich sein: Eine Gruppe von Anwohnern des Stadtteils Créneaux hat in »Selbsthilfe« Roma-Familien aus ihrer Nachbarschaft vertrieben. Den Medien gegenüber beriefen sie sich auf das scharfe Durchgreifen des sozialistischen Ministers in den vergangenen Monaten gegen illegale Behelfssiedlungen von Roma in Lille und Lyon.

Vergeblich hätten sie bei Vermietern und Behörden um ein Eingreifen gebeten. »Wir wurden vertröstet, dass man Maßnahmen ergreifen werde, dass aber ein Urteil der Justiz nötig sei und dass bis dahin Monate vergehen können«, sagt ein Anwohner. »So lange wollen wir aber nicht warten, und so haben wir die Dinge selbst in die Hand genommen.«

An entschlossenen Männern fehlte es nicht. Zahlreiche Familien hatten sich in den letzten Wochen über Lärm und Geruch beklagt, der von den kampierenden Roma ausgegangen sein soll. Auch der Anstieg von Einbrüchen in der Umgebung wurde den Roma angelastet. Schließlich standen mehr als 30 selbst ernannte Sheriffs, vor allem jüngere Männer, etwa 40 erwachsenen Roma und einem reichlichen Dutzend Kinder gegenüber. Zu Handgreiflichkeiten kam es nicht, aber die Beschimpfungen und Drohgebärden der Franzosen waren so eindrucksvoll, dass die rumänischen Migranten ihre Habe zusammenpackten und mit ihren alten Autos und Wohnwagen davonzogen, um sich einige Kilometer weiter auf Brachland neu einzurichten.

Was zurückgeblieben war - alte Matratzen und Möbelstücke - schoben die »Sieger« zu einem Haufen zusammen und zündeten ihn an. »Um den Platz wieder einigermaßen rein zu bekommen«, meinte einer von ihnen. Erst dann kam die Polizei, ließ sich erzählen, was geschehen war - und zog wieder ab. Als die Medien von der Geschichte erfuhren, hielt die Präfektur mit einem Kommuniqué dagegen: »Die Roma haben spontan den Wunsch geäußert, ihren Lagerplatz zu wechseln und sind unter Polizeischutz abgezogen.«

Alain Gardère, der frühere Präfekt, der hier unter Präsident Nicolas Sarkozy amtierte, war seinerzeit sogar noch weiter gegangen. Nach einer vergleichbaren Vertreibungsaktion im November 2011 feierte er mit den tatkräftigen Anwohnern ihren Sieg über die Roma. Monate später führte die örtliche UMP-Abgeordnete Nora Remadnia-Preziosi selbst ein »Vertreibungskommando« an. Diese Aktion wurde in einem Dokumentarfilm des bekannten Regisseurs Serge Moatti verewigt. Festgehalten ist dabei auch, was ein junger Mann einer Roma-Frau ins Gesicht sagte: »Wir haben teuer bezahlt, um hier wohnen zu können und wir wollen euch hier nicht sehen, egal ob ihr nun wirklich Diebe seid oder nicht.«

Zur Zeit soll es in Marseille und Umgebung rund 1500 Roma geben. Vor Monaten kampierten sie in 60 über das ganze Stadtgebiet verteilten Lagern, heute sind es 25. »Solche Vertreibungsaktionen kann es jederzeit wieder geben«, warnt die sozialistische Bürgermeisterin des 15. Stadtbezirks von Marseille, Samia Ghali. »Die Einwohner sind der Unruhe und Unsicherheit, die die Roma mit sich bringen, überdrüssig. Wenn die Behörden die Dinge laufen lassen, wird es wieder zu solcher ›Selbsthilfe‹ kommen und früher oder später dabei auch zu Gewalt und Blutvergießen.« Sie schlägt die Einrichtung von Plätzen abseits der Wohnhäuser, aber mit Wasser- und Stromversorgung, vor. Sozialarbeiter sollten sich um die Familien kümmern und dafür sorgen, dass die Kinder zur Schule gehen. Sprachkundige Vermittler sollen Konflikte mit den Bürgern der Stadt vermeiden helfen. »Aber die Stadt tut da nichts«, so Ghali.

Der konservative Bürgermeister Jean-Claude Gaudin schießt dagegen: »Scharfmacher wie die Sozialistin Ghali sind es, die solchen gefährlichen Entwicklungen Vorschub leisten. Wir können nicht zulassen, dass sich Privatmilizen bilden und Selbstjustiz üben, selbst wenn man verstehen kann, dass die Leute am Ende mit der Geduld sind.« Am meisten ärgert sich Gaudin, dass Marseille durch die Aktion in der vergangenen Woche landesweit in die Medien geraten ist. »Hier herrscht schließlich kein Besatzungszustand«, so der UMP-Politiker. Inzwischen ist auch die Staatsanwaltschaft auf den Fall aufmerksam geworden und hat Ermittlungen gegen die »Roma-Vertreiber« eingeleitet - wegen des Verdachts vorsätzlicher Brandstiftung.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 05. Oktober 2012


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