"Unruhen wie in Paris sind auch in Deutschland möglich"
Interview mit dem Konfliktforscher und Frankreich-Experten Johannes M. Becker, Uni Marburg*
Marburg. Pariser Vorstädte werden von Gewalttaten Jugendlicher
erschüttert. Der Marburger Konfliktforscher und Frankreich-Spezialist
Johannes M. Becker befürchtet ein ähnliches Szenario in Deutschland.
von Michael Schmidt**
"Die Gewalt in den Vorstädten der Hauptstadt Frankreichs ist
Ausdruck der Perspektivlosigkeit vieler französischer Jugendlicher", sagt
Johannes M. Becker im Gespräch mit der OP**. Eine der Ursachen dieser Perspektivlosigkeit gründe sich
auf die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich von etwa 50
Prozent. "Die Jugendlichen haben weder eine Ausbildungs- noch eine
Arbeitsstelle. Umfassende Beschäftigungsprogramme der vergangenen
Linksregierung Jospin aus den 90er Jahren, die Jugendlichen die Chance
boten, sich am Arbeitsmarkt zu etablieren, laufen aus - die
Rechtsregierungen legen nichts Entsprechendes neu auf. Zudem leben vor allem
die Kinder der Einwanderer unter teilweise sehr schlechten Bedingungen",
erklärt Becker.
Dies seien soziale "Umstände, die wir uns in Deutschland zwar nur schwer
vorstellen können", doch befürchtet der Konfliktforscher, dass solche
Unruhen auch in Deutschland auftreten können: "In der Tat sehe ich solche
Probleme wie in Frankreich vor allem auf die fünf neuen Bundesländer, in
denen eine ähnlich hohe Jugendarbeitslosigkeit herrscht wie in Frankreich,
zukommen. Die Motivierten hauen ab, zurück bleiben die Demotivierten." Hinzu
kämen große Integrationsprobleme der Spätaussiedlerkinder.
Sozialpsychologisch ein ebenfalls gravierendes Problem sei die
Arbeitslosigkeit der Elterngeneration, also der möglichen Vorbilder für die
Jugendlichen.
Bereits heute verließen hierzulande 10 Prozent der Jugendlichen die Schule
ohne Abschluss. Weitere 10 Prozent gelten als nicht ausbildbar.
"20 Prozent der Jugendlichen in Deutschland haben also auf dem Arbeitsmarkt
einfach keine Chance. Deren Frustration wird sich bemerkbar machen, ähnlich
wie jetzt in den Pariser Vorstädten", glaubt Becker.
"Als ich in der Montags-Ausgabe der Oberhessischen Presse neben den
Nachrichten aus Frankreich von der Demolierung von 30 Autos im Marburger
Südviertel las und gleichzeitig das Ergebnis der 2. "Pisa"-Studie, dass
Unterschichten-Kinder extrem benachteiligt sind im Land des
,Exportweltmeisters', da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Im Übrigen
finden wir jugendliche Gewalt in allen Ländern, wo weite Teile 'no future'
haben, so in Großbritannien, in den USA, in lateinamerikanischen
Megastädten...". Drängt sich die Frage auf, wie hoch die Gefahr ist, dass
die Gewaltexzesse weiter eskalieren, sich gar ausbreiten: "Die akuten
Spannungen, die sich jetzt in einigen Vorstädten entladen, können einen
Flächenbrand auslösen, weil die soziale Lage der französischen Jugendlichen
insgesamt sehr angespannt ist. Das betrifft nicht nur die Kinder der
Einwanderer, selbst Abiturienten bekommen vielfach keine Arbeit", sagt
Becker.
Der Marburger Politologe sieht in der Eskalation der Gewalt keineswegs eine
Art "einmaliges Erlebnis". Vielmehr handele es sich um einen Protest - einen
politischen und einen sozialen.
Appelle, wie die des französischen Präsidenten Jacques Chirac, "Ruhe zu
bewahren", nützten nach Ansicht Beckers wenig: "Man muss demgegenüber sehr
schnell ein Programm für die Jugendlichen auflegen, das ihnen eine
Perspektive bietet. Und zwar nicht nur für ein halbes Jahr.
"Darüber hinaus gießt der französische Innenminister Sarkozy mit seinen
Attacken auf die Jugendlichen Öl ins Feuer, er befindet sich schon im
Wahlkampf und wildert mit seinen 'Law and Order'-Parolen am rechten Rand des
Parteienspektrums", sagt Becker.
* Der Marburger Politologe und Publizist Johannes M. Becker ist Koordinator des Zentrums für Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die
Frankreichforschung.
** Quelle: Oberhessische Presse (OP), 5. November 2005
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