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Auf dem politischen Schachbrett

IN DER HÖLLE VON GAZA

Von Roland Etzel *

Viele Bücher wurden schon über Gaza geschrieben, das Sandkorn auf dem Globus, 40 Kilometer lang, zwischen sechs und 14 Kilometer breit und selbst von den Bewohnern nur Streifen geheißen. Und doch kennt ihn jeder, der auch nur ein wenig am Weltgeschehen Anteil nimmt.

Gaza, das war 14 Jahre lang Wahlheimat und Martyrium für Abuna (Vater) Manuel Musallam, Palästinenser, Christ, Priester der Gemeinde zur Heiligen Familie in Gaza. Unter den Bezeichnungen, die er diesem Ort gibt, kommt Hölle am häufigsten vor. Dort hinab stieg sein Glaubensbruder aus der Diözese Venedig, um aufzuschreiben, was Vater Musallam zu sagen hat. Der Venezianer Don Nandino Capovilla hat protokolliert, in einfachen Worten, bar jedes Kommentars. Er fragt, und der Palästinenser antwortet. Hamas, Fatah, Israel, Ägypten. Möge der Leser das politische Schachbrett zwischen Damaskus und Kairo vor seinem geistigen Auge entstehen lassen und die Figuren mitziehen - doch für Musallam war es nicht Spiel-, sondern Schlachtfeld. Die geschlagenen Figuren trugen Gesichter, auch seiner Gemeinde.

Dies gilt besonders für den Drei-Wochen-Krieg 2008/09. Israel nannte ihn »Operation Gegossenes Blei«, die Bundesregierung mochte es auch nicht Krieg nennen und taufte das tägliche Töten »Militärschläge«, auf dass das sonst omnipräsente menschenrechtliche Gewissen hier zu schweigen habe.

Vater Musallam mag es gleich sein. Er legt Zeugnis ab, was da geschah: »Am 27. Dezember wurden plötzlich, innerhalb von zwei Minuten, alle Polizeiposten gleichzeitig bombardiert. 64 Polizeioffiziere kamen dabei ums Leben. Im unbeschreiblichen Lärm all der gleichzeitigen Explosionen begannen die Kinder in der von mir geleiteten Schule aus Leibeskräften zu schreien und zu weinen.« Solcherart Schilderungen sind kennzeichnend für den Report von Capovilla/Musallam. Beide kennen Israels Rechtfertigung für sein Vorgehen, den Abschuss von Raketen durch Palästinenser in Richtung Israel. In Verlegenheit bringt das den palästinensischen Priester keineswegs: »Ein Krieg wird mindestens teilweise zwischen gleichen Mächten geführt. Die von der Hamas abgefeuerten Geschosse waren rudimentäre Waffen, nicht zu vergleichen mit den israelischen, und haben in den beiden Embargojahren (zuvor) nur wenige Personen getötet, aber beim Vergleich der Anzahl der Toten schüttelt es einen.«

In diesem «Krieg«, sagt er an anderer Stelle, kamen 1396 Personen um, darunter 320 Kinder und 111 Frauen. Auf der anderen Seite waren es neun Israelis. Das, so sein Urteil, »war kein Krieg von Soldaten gegen Soldaten, sondern gegen unbeteiligte Zivilisten«.

Musallam verbirgt dem Leser nicht seine rasende Angst und bringt ihn doch bisweilen fast zum Schmunzeln, wenn er ihn teilhaben lässt an seinen kecken Versuchen, trotz äußerster Not seiner seelsorgerischen Mission gerecht zu werden. »An einem bestimmten Punkt habe ich überlegt, das Telefon zu nutzen, um die gesamte israelische Kriegsmaschinerie auszutricksen. Auf dem Handy habe ich das Evangelium gespeichert. Ich öffnete die Datei mit dem ausgewählten Bibelvers und schickte ihn mit einer Nachricht an meine Pfarrkinder, welche genauso antworteten, entweder um zu danken oder um mitzubeten …«. Ein Mensch, der in Verzweiflung und Todesangst seine Würde bewahrt.

Nandino Capovilla: Ein Priester in der Hölle. Zambon Verlag: Frankfurt/Main 2011, 190 S., br.,12 €.; ISBN-10:3889751865; ISBN-13:978-3889751867

* Aus: neues deutschland, 14. März 2012 (Beilage zur Leipziger Buchmesse)


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