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Der tragische Fall Goldstone

Mitglieder der Untersuchungskommission zum Gaza-Krieg sehen keinen Grund für Korrekturen

Von Norman Paech *

Der südafrikanische Richter Richard Goldstone ist nach seinen Äußerungen, der Bericht zum Gaza-Krieg 2008/2009 wäre heute anders ausgefallen, auf Kritik der drei Mitautoren gestoßen. In dem sogenannten Goldstone-Bericht waren sowohl Israel als auch die palästinensische Hamas beschuldigt worden, Kriegsverbrechen und möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Unser Autor, Völkerrechtler und früherer Bundestagsabgeordneter der LINKEN, hat die Entwicklung verfolgt.

Man kann seinen Ruf auf verschiedene Weise ruinieren. Käuflichkeit oder Betrug sind in der Politik ebenso verbreitet wie in der Wissenschaft. Der Betrug scheint die größere Sünde zu sein, sie kann mitunter den Job kosten. Die Käuflichkeit hingegen ist – ähnlich wie die Prostitution – zwar nicht fein, aber offensichtlich notwendig und daher legal. Richter Richard Goldstone ist in eine dritte Ruffalle getappt, er hat abgeschworen. Er hat die Ergebnisse seiner mühevollen und unter erheblichem äußeren Druck erstellten Arbeit widerrufen, ohne klar machen zu können, dass er sich geirrt habe oder nicht bei Sinnen gewesen sei. Hat ihm die zionistische Inquisition den Scheiterhaufen angedroht wie 1632 die päpstliche Inquisition dem Galileo Galilei? Dieser konnte sein Leben durch Abschwören retten und handelte sich lebenslange Kerkerhaft ein.

Knapp 400 Jahre später geht es nicht mehr um die physische, wohl aber die intellektuelle Existenz Goldstones – und die ist gründlich ruiniert. Nur eines hätte ihn retten können: Wenn die übrigen Mitglieder seiner Kommission, die Juristin Hina Jilani, die Professorin Christine Chinkin und der Oberst i.R. Desmond Travers, sich seinem Widerruf angeschlossen hätten. Denn es war der gemeinsame Bericht einer Kommission aus vier Mitgliedern, der im September 2009 dem Menschenrechtsrat der UNO vorgelegt wurde. Er ist nun ein UNO-Dokument, das Ende 2009 von der Generalversammlung gebilligt wurde und damit nicht mehr vom Tisch zu bekommen ist. Doch jetzt haben sich die übrigen Mitglieder zu Wort gemeldet und Goldstone in einer Schärfe widersprochen, die einer intellektuellen Hinrichtung gleichkommt: »Verleumdungen über die Ergebnisse des Reports können … nicht unwidersprochen bleiben. Mitglieder der Mission, Unterzeichner dieser Erklärung, halten es für notwendig, jeden Eindruck zu zerstreuen, dass spätere Entwicklungen irgendeinen Teil des Missionsreports unsubstanziiert, irrig oder ungenau gemacht haben. Wir stimmen darin überein, dass es keine Rechtfertigung für irgendeine Forderung nach oder Erwartung auf Neubewertung des Reports gibt, da nichts Substanzielles aufgetaucht ist, welches in irgendeiner Weise den Kontext, die Ergebnisse oder Schlussfolgerungen des Reports bezüglich einer der Parteien des Gazakonfliktes ändert.«

Die übrigen Kommissionsmitglieder beharren darauf – was niemand außer der israelischen Regierung je bezweifelt hatte –, dass die Untersuchungen äußerst sorgfältig gemacht worden seien, ihr einziger Mangel, die fehlende Zeugenvernehmung der israelischen Soldaten und Politiker, jedoch von den Israelis selbst zu verantworten sei. Ziel sei die Wahrheitsfindung gewesen, die wie bei allen anderen vergleichbaren UN-Missionen nur eine Grundlage für die notwendigen gerichtlichen Untersuchungen liefern sollte. Weder in Israel noch in Gaza habe es aber bisher derartige effektive Gerichtsverfahren gegeben.

Dieses wird nun auch von der Folgekommission mit Mary McGowan Davis und Lennart Aspergren bestätigt, die im März ihren Bericht dem Menschenrechtsrat vorgelegt hat. Goldstone kann ihn nicht für seinen Sinneswandel verantwortlich machen. Denn der Bericht weist nach, dass von den 400 israelischen Regierungsuntersuchungen nur 52 strafrechtlichen Charakter hatten. Drei von ihnen führten zu einer Strafverfolgung. Es ergingen zwei Urteile, eines davon wegen Diebstahls einer Kreditkarte, was zu einer siebenmonatigen Freiheitsstrafe führte, und eines wegen Benutzung eines palästinensischen Kindes als Schutzschild mit einer dreimonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung. Niemand aus der politischen oder militärischen Führung, die für den Krieg und sein Geschehen verantwortlich waren, musste sich einer Untersuchung stellen. Gleiches galt allerdings auch für die palästinensische Seite im Gaza-Streifen, was beide Kommissionen kritisieren.

McGowan Davis rügt zudem, dass die israelische Regierung auf die Anschuldigungen des Goldstone-Berichts über »den Rahmen und die Umsetzung der Gaza-Operationen« sowie »ihre Absichten und Ziele« nicht adäquat eingegangen sei. Dennoch schreibt Goldstone, dass Israels eigene Untersuchungen »zeigen, dass es nicht Israels Politik gewesen ist, bewusst auf Zivilisten zu zielen«. Das allerdings hatte sein eigener Bericht auch nicht behauptet. Dieser spricht davon, dass die Kriegsführung »bewusst willkürlich« gewesen sei, um die Bevölkerung »zu bestrafen, zu erniedrigen und zu terrorisieren«. Die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch kam ebenfalls zu der Überzeugung, dass das »Verbrechen willkürlicher Kriegsführung« Politik des israelischen Staates gewesen sei. Für die israelische Regierung allerdings ist jeder palästinensische tote Zivilist entweder ein Extremist oder Opfer eines Irrtums.

Es ist durchaus möglich, dass sich bei einer gerichtlichen Untersuchung etliche der von der Goldstone-Kommission erhobenen Vorwürfe oder Beweise nicht bestätigen lassen. Doch dieses ist nur mit den Mitteln eines gerichtlichen Verfahrens möglich. Da beide Seiten bisher keine Prozesse eingeleitet haben und nichts dafür spricht, dass sie es in Zukunft tun werden, hat der Sicherheitsrat die Sache nun endlich dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu überweisen. Das ist die einzige Lehre aus dem tragischen Fall Goldstone.

* Aus: Neues Deutschland, 16. April 2011

Dokumentiert: Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost schreibt an Goldstone

Ein Brief an Herrn Goldstone

Sehr geehrter Herr Goldstone,

als Ihr UN-Bericht in Deutschland erschien, veranstalteten wir eine Pressekonferenz in Berlin, an der unser damaliger erster Vorsitzender, Prof. Dr. Rolf Verleger, die Herren Stéphane Hessel und Jeff Halper sowie der Verleger Abraham Melzer, der Ihren Bericht auf Deutsch verlegt hat, teilnahmen. Der Bericht hat viel Interesse in Deutschland erweckt, die Resonanz in den Medien war jedoch sehr bescheiden, da die Journalisten offensichtlich Angst hatten, den Bericht zu thematisieren.

Als der Staat Israel und die jüdische Gemeinde in Südafrika Sie beschuldigten, Antizionist und gar Antisemit zu sein und dazu noch ein sich selbst hassender Jude, haben wir uns darüber empört und dagegen protestiert.

Ebenso sind wir empört über die Art und Weise, wie Israel und viele jüdische Institutionen Ihren Artikel in der Washington Post für ihre Zwecke instrumentalisieren. Auch wir haben diesen Beitrag gelesen, und obwohl wir mit einigem nicht einverstanden waren, so konnten wir darin keine Aufforderung Ihrerseits an die Vereinten Nationen erkennen, den Bericht zurückzuziehen, wie es der israelische Innenminister Eli Yishai gefordert hat.

Dennoch fragen wir uns, was Sie bewogen haben mag, einen solchen Beitrag zu schreiben. War das der enorme seelische, soziale und politische Druck, den man auf Sie ausgeübt hatte? Wir sind Juden und Israelis und wissen sehr gut, wie inquisitorisch Israel vorgeht, und wir wissen auch, wozu israelische Soldaten fähig sind, zum Teil aus deren eigenen Berichten. Wir glauben deshalb, dass Israel Ihren Artikel als Persilschein interpretieren könnte, den dieses Land nicht verdient hat.

Ihr Bericht hat einiges bestätigt, was wir über die Gräueltaten der israelischen Armee schon wussten. Die vielen Zeugenaussagen der israelischen Soldaten, die gegenüber der Organisation „Breaking the Silence“ gemacht wurden, sind sehr aufschlussreich. Sie berichten über ihren seelischen Notstand und ihre moralischen Zweifel wegen Tötungen von Zivilisten, die militärisch unnötig waren und zum Teil aus Vergnügen, aus Langeweile und aus purem persönlichem Hass ausgeführt wurden. Es ist höchste Zeit, dass der „Human Rights Council“ der UN diese Zeugenaussagen untersucht.

Wir sind Ihnen für den Mut und die Integrität dankbar, die Sie bisher gezeigt haben und die Sie weiter benötigen werden, um dem Versuch des israelischen Staats zu widerstehen, Sie als integere Person zu diskreditieren. Wir gehen davon aus, dass der Druck auf Sie und gegen Sie noch stärker und gemeiner wird. Sie haben der israelischen Regierung zwar Ihren kleinen Finger gereicht, aber sie will die ganze Hand, wie den Aussagen von Präsident Shimon Peres deutlich zu entnehmen ist.

Der Krieg gegen Zivilisten ist immer Teil der tagtäglichen Routine der israelischen Armee gewesen, in der zwar sehr viel über die Reinheit der Waffen gesprochen und gelehrt wurde, in der man sich aber immer mehr von dieser Maxime entfernt hat, wenn es sie je gegeben haben sollte. In Moshe Sharetts geheimen Tagebüchern liest man, wie er schon 1952 über draufgängerische israelische Kommandeure wie z. B. Ariel Sharon dachte, der nachts die Grenze überquerte und auf jordanischer Seite Zivilisten tötete. „Ich muss morgens aus den Nachrichten hören“, schrieb Sharett, „was dieser Bastard Sharon wieder getan hat.“ In ihrem Buch „Israel’s sacred Terrorism“ kommentiert Livia Rokach Auszüge aus Sharetts Tagebuch, die das israelische Vorgehen gegen Zivilisten von Anfang an belegen. Daran hat sich bis heute leider nichts geändert.

Erwähnen muss man auch die unzähligen Aktionen israelischer Soldaten, denen es zwar nicht darum ging, Zivilisten zu töten, sondern „nur“ darum, den Menschen das Leben so schwer wie möglich zu machen, sie zu drangsalieren und zu quälen, als man nachts Familien und die Bewohner ganzer Dörfer aus den Wohnungen warf und sie stundenlang im Glauben ließ, man wolle sie vertreiben. Viele Mitglieder unserer Gruppe haben auch in der israelischen Armee gedient, und erzählen solche und ähnliche Geschichten. Es war nie Zufall und Irrtum, sondern Methode und Absicht: Auf die Frage warum „wir“ das machen, antwortete ein junger befehlshabender Offizier: „Weil wir ihnen (den Palästinensern) das Leben bitter machen wollen, damit sie von selbst fliehen.“

Der Krieg gegen Zivilisten ist der rote Faden, der die israelische Armee von Anfang an begleitet hat. Die Erinnerungen von Itzchak Rabin erzählen, wie er und seine Kameraden im so genannten Unabhängigkeitskrieg Palästinenser aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben haben. Uri Avnerys zweites Buch „Die andere Seite der Medaille“ erzählt, wie Israel mit Zivilisten umging. Der Konflikt und der Krieg waren von Anfang an auch gegen eine unbewaffnete, zivile Gesellschaft und nicht gegen hochgerüstete Armeen gerichtet.

Hunderte von Städten und Dörfern sind ausradiert und ihre Bewohner getötet oder vertrieben worden. Man kann den Mythos der anständigen israelischen Soldaten nicht wieder beleben, die ihre Opfer telefonisch warnen, bevor sie sie töten. Das ist zynisch und lächerlich, unglaubwürdig und gelogen. Die israelische Armee ist keine „humane“ Armee, wie es Ehud Barak nach dem Massaker in Gaza behauptet hat. Die israelische Armee ist brutal und zynisch wie andere Armeen und sollte deshalb keinen Kosher-Stempel bekommen, dass sie nur „irrtümlich“ palästinensische Zivilisten getötet habe. Die schwere Bombardierung des Gazastreifens, des dichtest besiedelten Landstreifens der Welt, musste voraussehbar zur Folge haben, dass dabei viele Zivilisten umgebracht oder verletzt werden.

Täglich sind jetzt die Zeitungen voll absurder Meldungen über Sie und über den Bericht. Ein Knesset-Mitglied will gegen Sie ein Gerichtsverfahren vor dem Bundesbezirksgericht in New York initiieren. Israel will gegen einen UN-Bericht klagen, denn es meint wohl, er schade seinem Ansehen. Nicht die Berichterstattung unter Ihrer Obhut schadet dem Land, sondern vielmehr dessen zynische aggressive Anwendung von Gewalt unter dem Deckmantel einer defensiven „Selbstverteidigung“ sowie die permanente Missachtung von Menschenrechten und die Verletzung der Charta der Vereinten Nationen. Sie sollten aber wissen, dass es in Israel und überall auf der Welt Juden gibt, die diese inquisitorische Diffamierung ablehnen, Sie unterstützen und weiterhin hinter Ihnen stehen.

Wir befürchten, dass durch Fehlinterpretationen Ihrer Aussage, die besagen, Sie wollten sich von dem ursprünglichen Bericht distanzieren, weiterer Schaden verursacht werden könnte. Wir bitten Sie daher dringendst, klar und unmissverständlich zu bestätigen, dass Sie den Bericht weder relativieren, noch sich davon distanzieren wollen.

Vorstand der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V.

Publiziert am April 15, 2011; www.juedische-stimme.de



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Erklärung von drei Mitgliedern der von den UN eingesetzten Gaza-Untersuchungskommission (Mai bis September 2009), Hina Jilani, Christine Chinkin und Desmond Travers (22. April 2011)


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