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Keine Sirenen, keine Bunker

170 Tote, 1000 Verletzte in Gaza: Israels achttägige Bombardierung läßt Kinder traumatisiert zurück

Von Karin Leukefeld *

Die Gewalt zwischen Israel und der Hamas betrifft vor allem die Kinder »auf beiden Seiten der Grenze«, erinnerte das UN-Komitee über die Rechte des Kindes am Donnerstag, dem ersten Tag des Waffenstillstandes. Die »hohe Zahl von Toten und Verletzten in Gaza« würde Kinder tief traumatisiert zurücklassen. Die Erfahrungen würden sie bis ins Erwachsenenleben verfolgen. Unter den fünf Toten in Israel sind keine Kinder. Unter den 170 Toten in Gaza – die Zahl könnte steigen – sind 30 Kinder. Die Ungeborenen, die mit ihren Müttern getötet wurden, sind nicht gezählt. Durch den Raketenbeschuß aus Gaza wurden 100 Israelis verletzt, darunter 14 Kinder. In Gaza wurden mindestens 400 Kinder verletzt; etwa 1000 Verletzte gab es insgesamt.

Die überlebenden Kinder in Gaza haben ihre Eltern und Geschwister, Onkel, Tanten, Freunde vor ihren Augen sterben sehen. Lehrer, Nachbarn, selbst ein Mann, der das Wasser in einen Container bringt, wurde mit seinem Sohn getötet, ihr Zuhause zerstört. Kindergärten und Schulen, Spielplätze, Gesundheitszentren, ihre komplette Nachbarschaft wurde dem Erdboden gleich gemacht. In Gaza gibt es keine Sirenen, wie in Israel. Die Palästinenser haben kein Raketenabwehrsystem, wie in Israel, und auch keine Schutzbunker.

2011 wurden die Kinder in Gaza Weltmeister im Drachensteigen lassen. Sie versahen ihre Drachen mit Botschaften für Frieden, ein Ende der israelischen Belagerung und ein Leben in Sicherheit. Israel hat nicht verstanden. Es fehlt den Kindern weiter an Nahrungsmitteln und Medikamenten, an sicheren Wohnungen und warmer Kleidung. Ihre Schulbildung in den UN-Einrichtungen war und ist gut, doch es gibt weder Ausbildungsplätze noch Arbeit in dem von Israel abgeriegelten Küstenstreifen. Die Menschen dürfen nicht einmal Verwandte in der Westbank besuchen oder Angehörige in einem israelischen Gefängnis. Oft gibt es keinen Strom, kein Benzin, kein Heizöl. Täglich fehlt es an sauberem und genügend Wasser.

Den Palästinensern in Gaza steht der Winter bevor. Wo werden sich die Verletzten erholen können? Wann werden die 856 Häuser wieder aufgebaut sein, die israelische Bomben während der acht Tage und Nächte dauernden Angriffe zertrümmerten? Sechs Gesundheitszentren, 30 Schulen, zwei Universitäten, 15 Büros von Hilfsorganisationen, 27 Moscheen, 14 Pressebüros, elf Fabriken, 81 Geschäfte, ein Nahrungsmittelverteilzentrum der UNRWA, sieben Regierungsgebäude, zwölf Polizeistationen, fünf Banken, 30 Fahrzeuge, zwei Jugendclubs sind zerstört, listet die palästinensische Menschenrechtsorganisa¬tion Al-Mezan auf.

Die in mehreren europäischen Ländern organisierte Friedensgruppe »Jüdische Stimme für einen Gerechten Frieden in Nahost« verurteilte »aufs Schärfste die brutalen Angriffe Israels auf den Gazastreifen«. Die Mehrheit der 1,5 Millionen Einwohner von Gaza seien Flüchtlinge, die von Israel vertrieben wurden. Die israelische Armee habe sogar festgelegt, was an Nahrung für die Menschen in Gaza ausreiche: »2279 Kalorien pro Person und Tag«. Der militärische Angriff sei »ein Kriegsverbrechen«, erklärt die Gruppe. »Angesichts der schändlichen Komplizenschaft der deutschen Regierung rufen wir alle europäischen Staatsbürger auf, im Einklang mit der palästinensischen Forderung nach BDS (Boycott, Divestment, Sanctions) israelische Waren solange zu boykottieren, bis Israel für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wird« (siehe jW vom 23. November).

* Aus: junge Welt, Samstag, 24. November 2012

Karin Leukefeld

referiert auf dem 19. Friedenspolitischen Ratschlag am 1./2. Dezember 2012 in Kassel zum Thema:
Was habt ihr dem arabischen Frühling in Libyen und Syrien angetan!?
Hier geht es zum Programm des Kongresses




Die andere Seite:

"Das war mein Haus" – Manche wissen nicht, wohin zurückkehren

22. November 2012

Die Waffenruhe ist da, und nun könnte, so scheint es, das Leben weitergehen: Die Familien, die bei Freunden und Verwandten im Norden untergekommen sind, kehren zurück in die südlichen Städte und Gemeinden, Schulen und Kindergärten nehmen den Unterricht wieder auf, Geschäfte öffnen wieder – Alltag kehrt ein.

Für Familie Alfasi und viele andere Familien im Süden Israels bleibt das zunächst ein schöner Traum. Denn zwar müssen sie, wenn sie Glück haben, in den nächsten Wochen keinen Sirenenalarm mehr fürchten – aber ein Zuhause, in dem sie zur Ruhe kommen könnten, hat die Familie aus Ashdod nicht mehr. Vater Itzik geht mit einer Taschenlampe durch die dunklen Zimmer dessen, was einmal sein Haus war. „Wir sind durch ein Wunder gerettet worden“, erklärt er. „Wir saßen hier alle in einem Zimmer im Erdgeschoss, ich habe meine Enkelin festgehalten, als der Einschlag im ersten Stock passiert ist. Ein Teil der Rakete ist auch in das Zimmer eingeschlagen. Jetzt ist die ganze Familie in Tel Aviv. Sie sind so traumatisiert, dass niemand über eine Rückkehr nachdenken möchte.“

Erinnerungen an dreißig Jahre eines gemeinsamen Lebens mit seiner Frau seien unter den Trümmern des Hauses vergraben, erzählt Itzik Alfasi. Er mache nun eine Therapie. „Das Haus müssen wir wieder aufbauen und alles neu kaufen“, erzählt er. „Aber die Seele kann man nicht so einfach wieder aufbauen, besonders für die Mädchen ist es sehr schwer.“

Auch Familie Sergeijev in Be’er Sheva ist Opfer eines Raketenangriffs geworden. „Als es losging, habe ich wie immer die Kleine und den Hund genommen und bin mit den Nachbarn in den ersten Stock hinunter“, so Vater Sergej Sergeijev. „Wir hatten uns schon daran gewöhnt, aber diesmal haben wir auf einmal einen Knall gehört, und der ganze Eingang war voll Rauch. Die Nachbarin aus dem Erdgeschoss hat geschrien: ‚Das ist unser Haus. Wir haben kein Haus mehr!‘“

Nachbarin Tatjana Shepdov erzählt: „Mein Sohn ist sechs und kommt mit der Situation nicht zurecht. Wenn wir zu Hause sind, sitzt er die ganze Zeit neben mir und hält sich an mir fest. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.“

(Ynet, 21.11.12)

* Quelle: Newsletter und Website der israelischen Botschaft in Berlin, 22.11.2012; http://www.botschaftisrael.de


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