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(K)ein Schiff für Gaza

Israelische Marine stoppt Blockadebrecher - "im Einklang mit dem internationalen Recht" / Aktivisten wurden der Polizei übergeben *

Erneut ist ein Versuch pro-palästinensischer Aktivisten gescheitert, die von Israel vor dem Gaza-Streifen verhängte Seeblockade zu durchbrechen. Die »Estelle« wurde am Samstagabend von Soldaten gestoppt, geentert und in den israelischen Hafen Aschdod geleitet.

Am Samstagabend erreichte der kurz vor dem Gaza-Streifen gestoppte Blockadebrecher »Estelle« den Hafen der israelischen Küstenstadt Aschdod. Die 29 pro-palästinensischen Aktivisten wurden der Polizei übergeben, teilte das israelische Militär mit. Unter den Passagieren waren neben drei israelischen Friedensaktivisten auch fünf Parlamentsabgeordnete - zwei Griechen, ein Spanier, ein Schwede und ein Norweger - sowie der ehemalige kanadische Abgeordnete Jim Manly. Ihnen droht die Abschiebung.

Das unter finnischer Flagge fahrende Segelschiff »Estelle« war laut den Passagieren von maskierten Soldaten der israelischen Marine geentert worden. Die Aktivisten an Bord leisteten nach Angaben des Militärs keinen Widerstand, als Soldaten den 53 Meter langen Dreimaster knapp 50 Kilometer vor der Küste des Gaza-Streifens stoppten.

Auf eine Warnung der israelischen Regierung vor einer »illegalen Einreise nach Israel«, hatten die Aktivisten erklärt, sie hätten keinesfalls die Absicht, Israel zu betreten, ihr einziges Ziel sei es, den Gaza-Streifen zu erreichen, der nicht Teil Israels ist und von dessen Einwohnern sie eine ausdrückliche Einladung erhalten hätten.

In einer Erklärung der Organisatoren des Hilfstransports hieß es, die israelische Marine habe das Boot »in internationalen Gewässern aufgebracht« und »angegriffen«. Damit habe Israel »erneut seine Rolle als Gendarm in der Region bestätigt«. Ein Sprecher der israelischen Friedensorganisation »Gush Shalom« argumentierte, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wolle seinem Kabinett gerade ein Gutachten zustellen lassen, wonach die Palästinensergebiete »nicht besetzt« seien. Mit der Aktion beweise er der ganzen Welt jedoch, dass es eine Besetzung sehr wohl gibt und dass der Staat Israel diese Okkupation auf internationale Gewässer ausdehnt.

Die Reise der »Estelle« war von der schwedischen Organisation »Ship to Gaza Sweden« organisiert worden. Das Schiff war von Schweden kommend vor zwei Wochen aus dem Hafen von Neapel ausgelaufen. Damit habe man Druck machen wollen, damit die 2007 von Israel verhängte Blockade des Gaza-Streifens beendet werde, sagte Sprecher Mikael Löfgren. Während die »Estelle« von der israelischen Marine geentert wurde, sei außerdem die Homepage der Organisation für mehrere Stunden nicht abrufbar gewesen. »Ship to Gaza« sprach von einer »geplanten« Attacke und will Anzeige erstatten.

Israels Premier Netanjahu sprach von einer »Provokation« und lobte das Vorgehen der Armee. Er sagte, wenn den Aktivisten wirklich an den Menschenrechten gelegen sei, hätten sie besser nach Syrien segeln sollen.

Israel hat die Blockade für die Einfuhr von Waren in den Gaza-Streifen seit 2010 zwar etwas gelockert. Ein Großteil der Bevölkerung ist aber immer noch auf internationale Hilfslieferungen angewiesen. In Gaza sagte ein Sprecher der radikalen Hamas, Sami Abu Suhri: »Der Angriff der Besatzungsmacht auf die ›Estelle‹ und die Verschleppung der Aktivisten an Bord sind ein Akt der Piraterie und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit«.

Israel hat seit der Verhängung der Seeblockade Anfang 2009 schon mehrere Gaza-Flottillen gestoppt. Bei einem Einsatz gegen einen Blockadebrecher aus der Türkei waren 2010 neun Menschen getötet worden.

Der jüdische Intellektuelle Noam Chomsky, der in Gaza an einer Linguistik-Tagung teilnahm, nannte die »Estelle« ein Zeichen dafür, dass die Welt beginne, die palästinensische Sache stärker zu unterstützen. Der US-amerikanische Wissenschaftler beteiligte sich im Fischereihafen von Gaza an einer Solidaritätsveranstaltung mit den Aktivisten.

* Aus: neues deutschland, Montag, 22. Oktober 2012


Piraterie vor Gaza

Blockadebruch verhindert: Israels Marine entert Schiff mit Hilfslieferungen für Palästinenser. Organisatoren werfen Netanjahu-Regierung »Skrupellosigkeit« vor.

Von Rüdiger Göbel **


Seit 2007 leiden die gut eineinhalb Millionen Palästinenser im Gazastreifen unter der Abriegelung. Immer wieder versuchen Aktivisten, die von Israel verhängte Seeblockade zu durchbrechen – bislang vergeblich. So auch am Wochenende. Die israelische Marine stoppte am Samstag die unter finnischer Flagge fahrende »Estelle« rund 50 Kilometer vor der Küste des Gazastreifens. Vermummte und bewaffnete Soldaten enterten das mit Hilfsgütern beladene Schiff, kappten die Kommunikation und verschleppten es in den Hafen von Aschdod. Die rund 30 Aktivisten an Bord leisteten keinen Widerstand. Eine Sprecherin der Kampagne »Ship to Gaza« in Schweden sprach gegenüber der Nachrichtenagentur AP von einer »Demonstration der Skrupellosigkeit«.

Die im Gazastreifen regierende Hamas rief dazu auf, neue Versuche des Blockadebruchs zu unternehmen und verurteilte die israelische Kommandoaktion. Hamas-Sprecher Sami Abu Suhri erklärte: »Der Angriff der Besatzungsmacht auf die ›Estelle‹ und die Verschleppung der Aktivisten an Bord ist ein Akt der Piraterie und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.« Der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu dagegen lobte das Militär und attackierte die propalästinensischen Aktivisten, wenn diesen »wirklich die Menschenrechte wichtig wären, wären sie nach Syrien gesegelt«, so Netanjahu. In Gaza gebe es schließlich »keine humanitäre Krise«. Zur Erinnerung: Mittlerweile sind mehr als 80 Prozent der 1,6 Millionen Bewohner des Gazastreifens auf internationale Hilfen vor allem der UNO angewiesen.

Der Dreimaster »Estelle« hatte Baumaterial, Spielzeug und Musikinstrumente geladen. An Bord waren auch Abgeordnete aus Norwegen, Schweden, Griechenland und Spanien sowie israelische Aktivisten, darunter der frühere Kampfpilot der israelischen Luftwaffe, Yonathan Shapira, der sich geweigert hatte, palästinensische Städte zu bombardieren. Die israelische Friedensgruppe »Gush Shalom« nannte die Stürmung des Schiffes »einen dummen Akt der Gewalt, der die Besatzung auf internationale Gewässer im Mittelmeer ausdehnt«.

Der bekannte Linguist und US-Philosoph Noam Chomsky beteiligte sich am Samstag im Hafen von Gaza an einer Solidaritätsveranstaltung mit den Menschen an Bord der »Estelle«. »Das Abfangen des Schiffes zeigt, daß die israelischen Besatzer die Blockade des Gazastreifens aufrechterhalten und die Ungerechtigkeiten gegenüber dem palästinensischen Volk fortsetzen wollen«, sagte Chomsky. Der 83jährige ist einer der prominentesten Kritiker der US-Außenpolitik und der israelischen Regierung. 2010 war ihm die Einreise nach Israel verboten worden.

Konsequenzen braucht Tel Aviv nicht zu fürchten. Im Gegenteil. In dieser Woche wird im Europaparlament die Ausweitung des Assoziierungsabkommens der EU mit Israel diskutiert. Selbstbewußt kann die israelische Führung selbst zarte Kritik der Europäischen Union an der illegalen Siedlungspolitik in den besetzten palästinensischen Gebieten zurückweisen. Entsprechende Äußerungen der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton zeugten von einem grundlegenden Mangel an Kenntnissen der Region, erklärte Außenminister Awigdor Lieberman am Samstag. Ashton hatte am Freitag ihr »Bedauern« über die Pläne zum Ausbau der Siedlung Gilo im Westjordanland geäußert. Die Siedlungen verstießen gegen das Völkerrecht und verhinderten eine Friedenslösung zwischen Israel und den Palästinensern, so Ashton.

** Aus: junge Welt, Montag, 22. Oktober 2012

"Im Einklang mit dem internationalen Recht"?

Dokumentiert: Stellungnahme des israelischen Militärs:

„Estelle“ in Hafen von Ashdod geleitet

Am Samstag hat die Marine der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (ZAHAL) das Schiff „Estelle“ aufgebracht, das sich auf dem Weg in den Gazastreifen befand, um die Seeblockade zu durchbrechen.

Das Entern des Schiffes stand in Einklang mit dem Internationalen Recht und geschah erst, nachdem zahlreiche Versuche, das Schiff daran zu hindern, den Gazastreifen anzulaufen, gescheitert waren. Die Versuche waren sowohl durch direkten Kontakt zum Schiff, als auch über diplomatische Kanäle unternommen worden.

Die Passagiere und Crew an Bord waren mehrfach zur Kooperation und Kursänderung aufgefordert worden. Erst, als sie sich weigerten der Aufforderung nachzukommen, wurde entschieden, an Bord zu gehen und das Schiff in den Hafen Ashdod zu geleiten.

Die Soldaten der Marine operierten wie geplant und unternahmen alles, um die Sicherheit der Passagiere zu gewährleisten. Es wurde keine Gewalt angewendet. Nachdem die Soldaten an Bord gegangen waren, boten sie den Passagieren Essen und Getränke an.

Jede Organisation und jeder Staat, der Hilfsgüter in den Gazastreifen liefern möchte, kann dies in Abstimmung mit den israelischen Behörden über die Landübergänge tun.

(Israelische Verteidigungsstreitkräfte, 22.10.12)

Quelle: Newsletter der israelischen Botschaft in Berlin, 22.10.2012




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