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Von Opfern und Tätern - Verteidigung oder Angriff?

Zwei Interviews: Mit dem Pressesprecher der Palästinensischen Gemeinden in Deutschland und mit dem Gesandten der israelischen Botschaft in Berlin - Zwei Sichtweisen


"Die Opfer zu Tätern gemacht"

b> Palästinenser in Deutschland fordern internationalen Druck auf Israel Interview mit George Rashmawi *

George Rashmawi ist Pressesprecher der Palästinensischen Gemeinden in Deutschland.

ND: Die Palästinensischen Gemeinden in Deutschland haben mit der Koordination »Gegen den Krieg in Gaza« Nordrhein-Westfalen am Sonnabend in Düsseldorf demonstriert. An wen wollten Sie mit dieser Demonstration appellieren?

Rashmawi: Wir appellieren an die deutsche Regierung, an die EU und an die UNO. Sie müssen uns unterstützen, damit dieser Krieg gestoppt wird. Israel hatte den Palästinensern in Gaza 48 Stunden gegeben, um einen neuen Waffenstillstand zu verhandeln, und dann haben sie nicht einmal 24 Stunden gewartet und angegriffen. Leben wir etwa im Urwald? Ohne internationale Gesetze, ohne Menschenrechte? Wohin soll das führen?

Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier haben sich hinter Israel gestellt.

Sie verwechseln Ursache und Wirkung. Wir sind besetzt, nicht Israel. Wir leiden unter dieser Besatzung und nicht die israelische Bevölkerung. Die israelische Bevölkerung leidet, weil es keinen Frieden gibt und keine Sicherheit, das ist wahr. Aber Frau Merkel und Herr Steinmeier sollten Israel klarmachen, dass es über den Leichen der Palästinenser keinen Frieden geben wird. Das sollten sie mit allen Mitteln tun, die ihnen zur Verfügung stehen. Ich meine, nicht militärisch, sondern wirtschaftlich! Sie müssten damit nur drohen, dann würde Israel schon einlenken, aber sie machen gar nichts. Die Erklärungen von Frau Merkel und Herrn Steinmeier machen die Opfer von heute zu Tätern, das ist unakzeptabel.

Was will Israel mit dem Krieg erreichen?

Der Widerstandswille des palästinensischen Volkes soll gebrochen werden. Sie wollen Hamas als Partei und als militärische Kraft schwächen, aber das werden sie nicht schaffen, denn das gesamte palästinensische Volk stellt sich hinter den militärischen Widerstand.

Seit Monaten gibt es Streit unter den Palästinensern, kann es eine Lösung geben?

Es gibt drei Schritte für eine Lösung. Erstens einen sofortiger Waffenstillstand in Gaza, zweitens die Aufhebung der Blockade und drittens müssen die Palästinenser ihre Einheit wieder herstellen. Die arabische Welt muss sich hinter die Forderungen der Palästinenser stellen und aufhören, sich in die Interessen des palästinensischen Volkes einzumischen.

Wer kann vermitteln?

Die EU könnte vermitteln, die Türkei könnte vermitteln, denn sie hat gute Beziehungen zu Israel und zu den Palästinensern. Russland kann vermitteln, China auch. Außerdem gibt es Palästinenser, die direkten Kontakt mit Israel haben, die können auch vermitteln. Zum Beispiel Mahmud Abbas.

Der scheint angesichts des Krieges verstummt.

Er hat nach einem Ausgleich gesucht, aber aktuell geht das nicht. Entweder ist er mit dem palästinensischen Volk oder dagegen. Es gibt keinen Mittelweg.

Welche Rolle spielen die Wahlen in Israel?

Wer mehr von uns tötet, hat mehr Chancen bei den Wahlen in Israel Anfang Februar. Das sieht man bei den Umfragen. Die Arbeitspartei von Ehud Barak, der den Krieg gegen uns führt, und die Likudpartei haben heute mehr Stimmen als die Kadima Partei von Ehud Olmert und Zipi Livni.

Fragen: Karin Leukefeld

* Aus: Neues Deutschland, 5. Januar 2009


"Wir wollen Gaza nicht besetzen"

Der Gesandte der israelischen Botschaft in Berlin, Ilan Mor, verteidigt im Gespräch mit ksta.de die Bodenoffensive in Gaza als verhältnismäßig und wirft den Vereinten Nationen vor, mit zweierlei Maß zu messen. **

ksta.de: Herr Mor, Israel ist mit Bodentruppen in den Gazastreifen vorgedrungen. Was ist das Ziel der Ausweitung der Kämpfe?

ILAN MOR: Die Ziele haben sich seit dem Beginn der Operation nicht verändert. Wir wollen die Infrastruktur der Hamas zerstören und dadurch eine neue Lage schaffen, in der nicht weiter eine Million unserer Bürger von ständigem Raketenbeschuss bedroht sind.

Läuft das auf eine Wiederbesetzung des Gazastreifens hinaus?

MOR: Nein, auf keinen Fall. Israel hat Gaza 2005 verlassen, um nicht wiederzukommen. Wir haben uns acht Jahre zurückgehalten und sind nun an einen Punkt gekommen, wo etwas getan werden musste. Die Darstellung, es handele sich um einen Teufelskreis der Gewalt ist falsch. Es handelt sich um Terror der Hamas gegen Israel, auf die Israel im Rahmen seiner Selbstverteidigung reagieren muss.

Allenthalben wird dennoch ein beiderseitiger Waffenstillstand gefordert. Warum ignoriert Israel solche Vorschläge bisher?

MOR: Weil die Ausgangslage falsch ist. Es ist für uns absolut inakzeptabel, dass - leider auch bei den UN - teilweise so getan wird, als säßen Israel und die Hamas auf derselben Stufe. Israel ist ein souveräner Staat, ein UN-Mitglied, das sein verbrieftes Recht auf Selbstverteidigung wahrnimmt. Die Hamas ist eine Terror-Organisation. Das sehen nicht nur wir so. Die Hamas steht auf der Liste der Terrororganisationen der USA, Kanadas, Japans, Großbritanniens und Europäischen Union, was bedeutet, dass sowohl politische Kontakte als auch finanzielle Unterstützung für die Hamas untersagt sind. Das ist aber offenbar nicht jedem EU-Staat bekannt ...

Die Kritik an der israelischen Offensive betrifft vor allem den Aspekt der Verhältnismäßigkeit, gerade im Konflikt zwischen einer modernen Armee und einer Terrorgruppe, die mitten aus einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt operiert.

MOR: Was ist verhältnismäßig? Viele, die uns kritisieren, rechnen einfach 400 Tote auf der einen gegen vier Tote auf der anderen Seite auf. Das ist zynisch. Jeder Tote ist einer zuviel, daran sollte es keine Zweifel geben. Dennoch ist Israels Operation definitiv verhältnismäßig. Wir attackieren die terroristische Infrastruktur einer Organisation, die in ihrer Charta die komplette Vernichtung unseres Staates als Ziel ausgibt. Darüber hinaus wird die Hamas aus dem Iran unterstützt, die Raketen kommen doch von dort. Wenn Sie das in die Kalkulation einbeziehen, können Sie schwerlich zu dem Schluss kommen, der böse Goliath Israel attackiere unverhältnismäßig einen armen David.

Dennoch: Ein Viertel der Toten im Gazastreifen sind Zivilisten. Tut Israel genug, um sie zu schützen?

MOR: Bisher sind 100 Prozent der israelischen Opfer der letzten Tage Zivilisten, aber das nur nebenbei. Ich sage ganz deutlich: Auch für mich sind Bilder von leidenden Familien, von toten Kindern, unerträglich. Leider gibt es in einer Kriegssituation immer zivile Opfer. Die Hamas tut alles, damit es zivile Opfer unter den Palästinensern gibt. Wir dagegen tun alles, um deren Zahl so gering wie möglich zu halten. Vor Bombardements werden Flugblätter abgeworfen. Anwohner werden auf dem Handy angerufen und gewarnt, dass ein Angriff bevorsteht. Ich wüsste nicht, dass die Nato in Afganistan so etwas tut. Ich habe manchmal den Eindruck, dass an uns Maßstäbe angelegt werden, die für niemanden sonst gelten, und die darauf hinauslaufen, dass wir uns nicht verteidigen dürfen. Israel ist in einer Notsituation. In einer Notsituation müssen auch Demokratien die Möglichkeit haben, sich zu wehren - wenn sie dabei die demokratischen Werte einhalten.

Wie hält man an der Front demokratische Werte ein?

MOR: Jeder israelische Soldat ist darauf trainiert, sich an die Regeln des Völkerrechts zu halten. Sie sind grundlegend bei der Planung jeder militärischen Operation; es werden regelmäßig Einsatzpläne verworfen, wenn das Risiko zu hoch scheint, dass dabei die Zahl der zu erwartenden zivilen Opfer unverhältnismäßig zum militärische Ziel ist. Die Palästinenser sind nicht unser Feind. Wir wollen die Hamas treffen.

Aber Sie können das in einem Gebiet wie Gaza nicht garantieren ...

MOR: Nein. Die Tatsache, dass es zivile Opfer geben könnte, macht militärische Gewalt nicht per se illegal. Denn ein Waffenlager bleibt auch dann ein legitimes militärisches Ziel, wenn es bewusst in einem Wohngebiet versteckt worden ist. Die Verantwortung trägt laut Genfer Konventionen in diesem Fall derjenige, der Zivilisten einem Risiko aussetzt. Und das ist die Hamas.

Trotz der öffentlichen Verurteilungen hat man den Eindruck, dass diese Sicht der Dinge selbst von arabischen Politikern insgeheim geteilt wird und viele durchaus einverstanden sind, wenn die Hamas geschwächt wird. Oder?

MOR: Ich sage es mal vorsichtig so: Der Libanonkrieg 2006 hat zumindest in den moderaten Teilen der arabischen Welt ein Umdenken bewirkt. Der vom Iran ausgehende schiitische Fundamentalismus, den Hamas und die libanesische Hisbollah verköpern, macht beispielsweise Ägypten große Sorgen. Für Teile der arabischen Welt, etwa Staaten wie Jordanien und Ägypten, ist nicht mehr Israel der Hauptfeind, sondern der Iran.

Das Gespräch führte Tobias Kaufmann.

Quelle: Kölner Stadtanzeiger, Online-Ausgabe, 4. Januar 2009; www.ksta.de


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