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Akt der Aggression

Klares Urteil: Israels Blockade des Gazastreifens und Angriff auf Hilfsflotte sind rechtswidrig. UN-Kommission verurteilt Aggressivität des Überfalls auf "Mavi Marmara"

Von Norman Paech *

In der kommenden Woche erscheint im Melzer-Verlag die deutsche Übersetzung des Berichts der UN-Untersuchungskommission über den israelischen Angriff auf die Free-Gaza-Flotte. Bei dem Überfall auf hoher See am 31. Mai 2010 waren auf der »Mavi Marmara« neun türkische Aktivisten erschossen worden. Der Hamburger Völkerrechtler und frühere Linke-Bundestagsabgeordnete Norman Paech war an Bord des Schiffes. junge Welt dokumentiert leicht gekürzt sein Vorwort des Buches.

Die Untersuchungskommission des UNO-Menschenrechtsausschusses hat schnell gearbeitet. Am 2. Juni 2010, zwei Tage nach dem israelischen Überfall auf die Free-Gaza-Flottille, wurde sie eingerichtet. Am 22. September hat sie ihren Bericht abgegeben, nachdem sie 112 Zeugen in Genf, London, Istanbul und Amman vernommen und alle zugänglichen Beweisstücke gesichtet hatte. Am 27. September hat der UNO-Menschenrechtsrat den Bericht diskutiert und mit großer Mehrheit akzeptiert. Die Stimmenthaltung der europäischen Staaten wurde mit der mangelnden Zusammenarbeit mit der vom UN-Generalsekretär Ban Ki Moon einberufenen Kommission begründet, richtete sich also nicht gegen die sehr eindeutigen Ergebnisse der Untersuchung. Und diese sind für die israelische Regierung wie die Armee vernichtend: Die Blockade des Gaza­streifens, die mit der kollektiven Bestrafung der Bevölkerung eine humanitäre Krise hervorgerufen hat, ist rechtswidrig. Ebenso ist die Blockade der Free-Gaza-Flottille in internationalen Gewässern und ihre Entführung nach Israel rechtswidrig gewesen. Schließlich war der militärische Überfall auf die Flottille und die Erstürmung der Mavi Marmara nicht etwa durch das Recht auf Selbstverteidigung gerechtfertigt, wie es die israelische Regierung immer noch behauptet, sondern ein eindeutiger Akt der Aggression, gegen den die Passagiere berechtigt waren, sich zu wehren.

Humanitäre Mission

Die Kommission hat vor allem mit eindeutigen Worten die Aggressivität und vollkommene Unverhältnismäßigkeit des israelischen Überfalls verurteilt und noch einmal bestätigt, daß es sich bei der Free-Gaza-Flottille um eine vollkommen friedliche humanitäre Mission gehandelt hat. Wir, die wir an Bord der Schiffe waren, wurden immer wieder gefragt, ob wir den Ablauf der Militäroperation nicht hätten vorhersehen können, die Israelis hätten doch unmißverständlich die Mission als Provokation verurteilt und die Sperrung des Weges nach Gaza erklärt. Natürlich sollte die Flottille nicht nur dringend benötigte Güter nach Gaza bringen, sondern zugleich Israel, die USA und die europäischen Staaten provozieren, endlich die unmenschliche Blockade aufzuheben. Eine solche Provokation war und ist immer noch legitim und legal, da das internationale Recht eine solche Blockade verbietet. Aber an einen solchen »Auftritt« der israelischen Armee hatte niemand gedacht.

Die israelische Regierung versuchte, die Katastrophe auf der Mavi Marmara, die ein erneutes Debakel für das israelische Militär wurde, mit einigen Unzulänglichkeiten und Fehlern der Planung und Durchführung zu erklären. Alles spricht jedoch dafür, daß es sich hier um eine wohlkalkulierte Operation nach dem Muster »shock and awe« gehandelt hat, die ein demonstratives Zeichen setzen sollte: Niemand kommt ohne die Zustimmung der israelischen Regierung nach Gaza, gleichgültig, welche Opfer das erfordert. Dies zeigt einige problematische Aspekte israelischer Politik, die nur schwer zu erklären sind.

Wie schon beim Überfall auf den Gazastreifen im Winter 2008/2009 hat die israelische Regierung offensichtlich keine Probleme damit, ihre militärischen Operationen vollkommen außerhalb und gegen das Völkerrecht durchzuführen. Ihre halbherzige Rechtfertigung mit dem Recht auf Selbstverteidigung hat der damalige Verteidigungsminister Ehud Barak selbst als falsch entlarvt, als er später einräumte, den Überfall lange vorher geplant zu haben. Die schweren Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung haben die »moralischste Armee der Welt« in die Realität eines dreckigen Krieges zurückgeholt, in dem der skrupellose Einsatz auch völkerrechtlich geächteter Waffen zu einem Massaker an unschuldigen Zivilisten führte. War es da nicht Naivität, von einer solchen Armee ein Vorgehen nach den Regeln des Völkerrechts zu erwarten?

Schließlich zeigen die Operationen, daß die Regierung kein Konzept und keine Vorstellung von einem friedlichen Nebeneinander der beiden Völker in zwei souveränen Staaten hat. Heute leben Juden und Palästinenser notgedrungen in einem Staat, der alle Merkmale eines Apartheid-Staates hat. Besatzungsgewalt ist an die Stelle von Recht getreten und Terror an die Stelle des politischen Dialogs. Nicht nur Avigdor Lieberman, sondern auch Stimmen aus der Generalität haben erklärt, daß es für bestimmte Konflikte keine Lösungen gebe, man sich in ihnen also arrangieren müsse. Das bedeutet, daß die Zukunft eines solchen Staates nicht auf einem nationalen Konsens, verfassungsrechtlicher Gleichberechtigung und wechselseitiger Anerkennung aufbaut, sondern auf Gewalt, Unterwerfung, Raub und notfalls Krieg. Ein höllischer Boden, unter dem ständig das Grollen baldiger Eruptionen zu hören ist.

Herrschaftsanspruch

Was hat den jüdischen Staat, wie er sich selber definiert, so unfähig gemacht, auf die Herausforderungen einer Friedensregelung anders als mit der Gewalt der Siedler und mit dem Krieg der Armee zu antworten? Als Israel 2006 die Blockade gegen den Gazastreifen beschloß, sagte Dov Weinglass, ein enger Vertrauter von Ariel Scharon und Ehud Olmert, »Wir wollen die Bevölkerung auf Diät setzen, sie sollen aber nicht vor Hunger sterben.« Obwohl kein biblischer Mythos einen jüdischen Anspruch auf Gaza begründet, hat die israelische Regierung niemals ihren Herrschaftsanspruch über diesen Streifen aufgegeben. Scharons Rückzug 2005 bedeutete nicht Souveränität für die palästinensische Bevölkerung, sondern nur Unterpfand für weitere Annexionen des palästinensischen Kernlandes in der Westbank. Israel hat virtuos auf der Klaviatur der Schwächung der Kolonisierten gespielt, und die Palästinenser haben weder die Kraft allein noch die Unterstützung der arabischen Staaten gehabt, diesem Spiel zu begegnen.

»In der Konsequenz wird es keine Zwei-Staaten-Lösung geben«, schreibt John J. Mearsheimer und fährt fort: »Statt dessen werden Gaza und die Westbank ein Teil von Groß-Israel, das ein Apartheidstaat werden wird mit starker Ähnlichkeit zu Südafrika unter weißer Herrschaft. Israelis und ihre amerikanischen Unterstützer sträuben sich gleichermaßen gegen diesen Vergleich. Aber das ist ihre Zukunft, wenn sie ein Groß-Israel schaffen, in dem der arabischen Bevölkerung, die bald die jüdische Bevölkerung zahlenmäßig überflügeln wird, die vollen politischen Rechte vorenthalten werden. Zwei frühere Ministerpräsidenten – Ehud Olmert und Ehud Barak –haben dies in der Tat erkannt. Olmert ging so weit zu sagen, daß ›sobald das geschieht, der Staat Israel zugrunde gehen wird‹. Er hat Recht, weil Israel nicht in der Lage sein wird, als ein Apartheid-Staat zu überleben. So wie das rassistische Südafrika wird es sich schließlich in einen demokratischen binationalen Staat umwandeln, dessen Politik von den zahlreicheren Palästinensern dominiert wird. Aber dieser Prozeß wird sich über viele Jahre hinziehen, und während dieser Zeit wird Israel fortfahren, die Palästinenser zu unterdrücken. Dieses wird von einer wachsenden Anzahl von Menschen und mehr und mehr Regierungen in der ganzen Welt beobachtet und verurteilt werden. Israel wird unbewußt seine eigene Zukunft als ein jüdischer Staat zerstören und dies mit der stillschweigenden Unterstützung der USA.« Und der europäischen Regierungen gleichfalls, müssen wir hinzufügen.

So stark die offizielle Politik auch auf die Zwei-Staaten-Lösung fixiert ist, ihre realen Grundlagen werden ständig angegriffen und verschwinden zusehends. Die Gewalt ist in diesem permanent schwelenden Bürgerkrieg endemisch geworden. Der tägliche Terror durch die militärischen Übergriffe und gezielten Tötungen der israelischen Armee sowie durch die Selbstmordattentate und Raketen der Palästinenser ist eine traurige Selbstverständlichkeit dieses ungelösten Konfliktes. Er wird aber auch immer wieder in größere Gewalt umschlagen, wie wir sie auf der Free-Gaza-Flottille erlebt haben, wie sie Gaza im Winter 2008/2009 oder der Libanon 2006 erfuhr und wie sie jetzt gegenüber Iran angedroht wird.

Über den israelischen Angriff auf die Gaza-Hilfsflottille - Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen. Melzer-Verlag, Frankfurt am Main 2010, 112 Seiten, 9,99 Euro * Mit Vorworten von Henning Mankell, Norman Paech, Annette Groth und Inge Höger und einem Völkerrechtsgutachten von Norman Paech.

* Aus: junge Welt, 2. November 2010


Netanjahu dankt Marinekommando

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat die Marineeinheit gelobt, die Ende Mai am Überfall auf die Free-Gaza-Flotte und an der Erschießung von neun türkischen Aktivisten beteiligt war. Der Premier sagte in der vergangenen Woche beim Besuch einer Militärbasis in Atlit an der Mittelmeerküste, die Soldaten hätten auf dem türkischen Schiff »Mavi Marmara« »heldenhaft« gehandelt. »Gaza ist zu einer iranischen Terrorbasis geworden, die den Staat Israel gefährdet«, erklärte Netanjahu nach Angaben seines Büros bei dem Besuch. Diese »Basis« liege sehr nah an Israel und sei »sehr gefährlich«. Der Einsatz des Marinekommandos »Schajetet 13« sei »unabdingbar, notwendig, wichtig und legal« gewesen. »Ihr Kämpfer hattet es dort mit einer den Terror unterstützenden Gruppe zu tun, die gewalttätig, mit Messern, Schlagstöcken, Motorsägen und auch Feuerwaffen bewaffnet war«, rechtfertigte Netanjahu das Vorgehen der Marinesoldaten. Angesichts einer tödlichen Bedrohung hätten sie »professionell, heldenhaft, zurückhaltend, moralisch« gehandelt, so der Regierungschef.

Im Bericht der Untersuchungskommission des UNO-Menschenrechtsausschusses zum Angriff auf die Free-Gaza-Flotte heißt es in Absatz 264 dagegen wörtlich: »Das Verhalten des israelischen Militärs und anderer Personen gegenüber den Passagieren der Flotte war in dieser Situation nicht nur unangemessen, sondern auch durch eine in diesem Ausmaß völlig unnötige, unglaubliche Gewaltanwendung gekennzeichnet. Die Brutalität erreichte ein inakzeptables Niveau. Ein solches Verhalten kann weder aus Sicherheitsgründen noch aus anderen Gründen gerechtfertigt oder entschuldigt werden. Es stellte eine schwere Verletzung der Menschenrechte und des Kriegsrechts dar.«

Die türkische Regierung fordert vergeblich, daß sich die Führung Israels für den Überfall auf die »Mavi Marmara« entschuldigt. Wenn sich die israelische Regierung nicht offiziell für den Tod von neun türkischen Aktivisten entschuldige, könne es im Nahen Osten keinen Frieden geben, bekräftigte Recep Tayyip Erdogan im vergangenen Monat. Zudem bleibe Israel in der Region isoliert. Bereits am 23. September hatte der türkische Staatspräsident Abdullah Gül vor der UN-Vollversammlung angemerkt, daß die Türkei immer noch auf eine Entschuldigung und eine Entschädigung von Israel für die Toten auf der »Mavi Marmara« warte. »Es wäre sehr schwierig, Fortschritte auf dem Weg zu einem dauerhaften Frieden zu erzielen, wenn wir nicht der humanitären Tragödie in Gaza ein Ende setzen.« Der Nationale Sicherheitsrat in Ankara deklarierte Israel in der vergangenen Woche als »Bedrohung Nummer 1« für die Türkei. Die Politik Tel Avivs sei darauf ausgerichtet, Instabilität in der Region zu erzeugen. (rg)

Aus: junge Welt, 2. November 2010




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