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Redeverbot für Soldaten

Von Peter Preiß

Die israelische Regierung läßt den Sturmangriff auf die Free-Gaza-Flotte im Mittelmeer untersuchen – intern statt international. Bei der Enterung von sechs Schiffen mit Hilfslieferungen für die Palästinenser im Gazastreifen waren am 31.Mai neun türkische Aktivisten von israelischen Soldaten erschossen worden. Das Vorgehen war weltweit auf scharfen Protest gestoßen, allerorten – bis hin zum UN-Sicherheitsrat – war die Forderung nach Einsetzung einer unabhängigen internationalen Untersuchungskommission erhoben worden. Dem kommt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nicht nach. Er setzt auf die nationale Karte und ein eng begrenztes Mandat. Mit Ausnahme des Generalstabschefs dürfen israelische Armeeangehörige nicht zu den Vorgängen befragt werden. Den Vorsitz der Kommission soll der frühere Präsident des Obersten Gerichtshofs in Israel, der 75jährige Jaakov Turkel, übernehmen. Der fünfköpfigen Gruppe sollen zwei ausländische Beobachter angehören: Der nordirische Friedensnobelpreisträger David Trimble sowie der frühere kanadische Militärstaatsanwalt Brigadegeneral a.D. Ken Watkin.

Das Arbeitsziel der in den Medien als »unabhängige öffentliche Kommission« benannten Gruppe benannte Regierungschef Netanjahu am Montag offenherzig: Israel will der Welt zeigen, rechtmäßig gehandelt zu haben. Israels Justizminister Yaakov Neeman verstieg sich zur Behauptung: »Wir zeigen der ganzen Welt, daß wir sauber sind.«

Die Türkei weist die von Israel angekündigte Überprüfung als »wertlos« zurück. »Wir haben überhaupt kein Vertrauen, daß Israel, das in internationalen Gewässern eine solche Attacke auf einen zivilen Konvoi ausführt, eine unparteiische Untersuchung vornimmt«, sagte Außenminister Ahmet Davutoglu am Montag in Ankara. Israel sitze in der Angelegenheit auf der Anklagebank, wolle aber dennoch gleichzeitig Staatsanwalt und Richter sein.

Der frühere Knesset-Abgeordnete Uri Avnery kritisiert die Gaza-Gruppe als »erbärmliche Ersatzkommission«. In seiner aktuellen Kolumne formuliert der Mitbegründer des israelischen Friedensblocks Gush Shalom Dutzende Fragen, »die eine tatsächliche Untersuchungskommission stellen würde«. Etwa: »Was ist das wirkliche Ziel der Gaza­Blockade? Wenn das Ziel die Verhinderung von Waffenlieferungen in den Gazastreifen ist, weshalb ist dann die Einfuhr von nur 100 Produkten erlaubt– im Vergleich zu 12000 Produkten, in einem durchschnittlichen israelischen Supermarkt? Warum ist die Einfuhr von Schokolade, Spielzeug und Schreibmaterial sowie von vielen Obst- und Gemüsesorten verboten – und weshalb ist Zimt erlaubt, Koriander hingegen untersagt?« Schließlich würde Avnery gerne wissen: »Weshalb wurde die Gaza-Flotte während der gesamten Operation von jeglichem Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten, wenn es dabei nichts zu verheimlichen gab?« Und: »Entspricht es der Wahrheit, daß Soldaten bereits mit dem Schießen begonnen haben, bevor sie sich auf das Deck herabließen, wie von den Passagieren behauptet wird? Entspricht es der Wahrheit, daß der Beschuß auch noch fortgesetzt wurde, nachdem der Kapitän des Schiffes und die Aktivisten mehrere Male über Lautsprecher angekündigt hatten, daß die ›Mavi Marmara‹ kapituliert hatte und sogar weiße Flaggen gehißt worden waren? Entspricht es der Wahrheit, daß fünf der neun getöteten Menschen in den Rücken geschossen wurden, was zeigt, daß sie versucht hatten, den Soldaten zu entkommen und somit nicht deren Leben gefährden konnten?« Die »Frage aller Fragen« aber lautet: »Was versucht die politische und militärische Führung Israels zu verbergen?«

* Aus: junge Welt, 15. Juni 2010


"Ich fürchte, diese Leute werden das nie begreifen"

Kritik an der israelischen Regierung ist keineswegs antisemitisch, sondern dringend nötig. Ein Gespräch mit Moshe Zuckermann **

Moshe Zuckermann lehrt Geschichte und Philosophie an der Universität Tel-Aviv und ist wissenschaftlicher Leiter der Sigmund-Freud -Stiftung in Wien. Bis 2005 leitete der Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender zudem das Institut für Deutsche Geschichte in Tel-Aviv.

Was darf man von der angekündigten Untersuchungskommission zum Überfall Israels auf die Free-Gaza-Flottille erwarten?

Die israelische Regierung wollte sie nicht, mußte sie aber wegen des internationalen Drucks, vor allem aus den USA, einrichten. Entsprechend ist davon auszugehen, daß es sich um eine der Regierung genehme Zusammensetzung handelt. Die von außerhalb hinzugenommenen Kommissionsmitglieder haben lediglich ein Beobachtermandat.

Nach dem britischen Expremier Tony Blair hat nun auch BRD-Außenminister Guido Westerwelle von Anzeichen für Lockerungen der Gaza-Blockade gesprochen. Was ist davon zu halten?

Die Lockerung ist ja von Israel selbst angekündigt worden. Auch sie ist letztlich auf den Druck der Weltöffentlichkeit auf die Regierung von Benjamin Netanjahu zurückzuführen. Am Gesamtzustand wird sie aber nur graduell etwas ändern.

Laut eines aktuellen Gutachtens des Wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestages könnte die Kaperung des türkischen Hilfsschiffs »Mavi Marmara« durch Israel völkerrechtlich nicht zu beanstanden sein. Wie beurteilen Sie diese Einschätzung?

Auch wenn die Kaperung möglicherweise »rechtmäßig« war – sie war ein Desaster. Das gilt sowohl für die Konsequenzen als auch für die Absicht, die dahinter stand. Daß sie darüber hinaus auch noch fehlgeplant war, kommt hinzu.

Nach der Kaperung kam es in Tel Aviv zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern dieses Piratenakts; das israelische Parlament beschloß sogar Sanktionen gegen die arabische Abgeordnete Hanin Soabi. Trügt der Schein oder ist der innerisraelische Diskurs zunehmend spannungsgeladen? Er radikalisiert sich in dem Maße, in dem die Regierung radikaler wird. Daß es etwa zu Sanktionen gegen die arabische Abgeordnete kommen konnte, hat damit zu tun, daß wir im Moment die am weitesten rechts stehende Regierung in der Geschichte Israels haben. Das ist eine Koalition der rechten und ultrarechten Parteien, die die Stimmung hochpeitschen.

F. Können Sie sich vorstellen, daß die israelische Linke die Regierung eines Landes unterstützt, deren Premier vom Schlag Netan­jahus, deren Vizepremier vom Schlag des Außenministers Avigdor Lieberman ist?

Die Frage ist, was Sie unter »israelische Linke« verstehen. Wenn sie damit eine genuine Linke meinen, eine, die sich um die Befreiung des Menschen, um die Befreiung der Gesellschaft und um Menschenrechte im Allgemeinen bemüht, dann würde eine solche Linke nirgendwo Politiker wie Netanjahu und Lieberman unterstützen.

Im deutschsprachigen Raum gibt es noch immer Menschen, die sich als »fortschrittlich« oder »links« verstehen und gleichzeitig unbedingte Solidarität zu Israel geloben.

Auch hier gilt es zu differenzieren. Wenn Sie darunter eine Linke mit einem universellen, antiimperialistischen Anspruch verstehen, ist das eine Sache. Eine andere ist die »antideutsche« Linke – sie hat mit Linkssein nichts mehr zu tun; sie ist längst im Fahrwasser der bürgerlichen Presse und des Neokonservativismus angekommen.

Ich erwarte, daß sich diejenigen, die für Israel sind, erst einmal klar machen, womit sie sich solidarisieren. Nämlich mit einem rechtsextremen Israel, das das zionistische Projekt selbst in Gefahr bringt. Ich fürchte nur, diese Leute begreifen das nicht.

Interview: Samuel Stuhlpfarrer

** Aus: junge Welt, 16. Juni 2010


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