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Kollektive Bestrafung

Israels Verbrechen an der Zivilbevölkerung in Gaza

Von Rolf Verleger *

Anfang kommender Woche erscheint im Kölner PapyRossa Verlag die zweite Auflage von Rolf Verlegers Buch »Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht«. In dem Band beschreibt der Autor seine jüdischen Wurzeln als persönlichen Hintergrund und umreißt die Geschichte des Zionismus.
Rolf Verleger ist Psychologieprofessor am Universitätsklinikum in Lübeck. Als Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland distanzierte er sich in einem offenen Brief von dessen vorbehaltloser Unterstützung der israelischen Politik während des Libanon-Kriegs 2006 und initiierte als Alternative die Aktion »Schalom 5767«.
An einer Stelle von »Israels Irrweg« heißt es: »Das Judentum, meine Heimat, ist in die Hände von Leuten geraten, denen Volk und Nation höhere Werte sind als Gerechtigkeit und Nächstenliebe.« - Ursprünglich sollte die Nachauflage des Bandes bereits im Januar gedruckt werden, als Israel seinen Überfall auf Gaza begann. Aus diesem Anlaß fügte Rolf Verleger drei Kapitel ein, aus denen wir vorab einen Auszug veröffentlichen. (jW)


Bekanntlich begann der Irak-Krieg von 2003 mit einer Lüge.

George W. Bush, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, behauptete mit Hilfe seines Außenministers, Colin Powell, der Irak habe Massenvernichtungswaffen, der Irak bedrohe damit sowohl seine unmittelbare Umgebung im besonderen als auch den Weltfrieden im allgemeinen, und der Irak habe irgend etwas mit der Organisation Al-Qaida zu tun. Daher sei es höchste Pflicht eines jeden ehrbaren Menschen, gegen den Irak Krieg zu führen.

Die Unwahrheit dieser Behauptungen war offensichtlich. Trotzdem gab es genügend Politiker und Journalisten, auch in Deutschland, die diese Märchen gerne nachplapperten. Inzwischen sagt Colin Powell, daß es ihm leid tue.

Ebenso begann der Krieg Israels gegen Gaza im Dezember 2008 mit einer Lüge.

Premierminister Olmert, Armeeminister Barak und Außenminis­terin Livni behaupteten, daß der Raketenbeschuß israelischer Städte aus dem Gazastreifen unerträglich geworden und nicht anders zu stoppen sei als mit massivem israelischen Eingreifen.

Die Unwahrheit dieser Behauptungen war ebenso offensichtlich wie bei den Lügen des George W. Bush. Wieder gibt es genügend Politiker und Journalisten, diesmal gerade und besonders in Deutschland, die diese Märchen gerne nachplappern. Bisher habe ich noch von keinem gehört, daß es ihm leid tue.

Hier sind die Zahlen über Raketeneinschläge auf israelischem Territorium im Jahre 2008. Die Quelle dieser Zahlen ist die Website des israelischen Außenministeriums www.mfa.gov.il (Stand vom 14. Januar 2009). Die Punkte auf der x-Achse sind die Monate des Jahres 2008; der Juni ist unterteilt, da am 19. Juni eine wesentliche Änderung eintrat. Die Werte auf der y-Achse sind die Anzahl der niedergegangenen Einschläge. [Der Link zur Grafik: www.mfa.gov.il]

Die Zahl der Einschläge dieser Geschosse war also vom 19. Juni bis 31. Oktober auf fast null zurückgegangen.

Kann man dann wirklich sagen: »Der Krieg Israels erfolgte als Reaktion auf den fortwährenden Raketenbeschuß der (...) Hamas auf israelische Städte und Dörfer« (Gregor Gysi, Bundestagsfraktionsvor­sitzender der Partei Die Linke, Frankfurter Rundschau 7.1.2009)? Wo ist denn der »fortwährende Raketenbeschuß« geblieben, vom 19. Juni bis zum 31. Oktober?

Und wenn es eine nicht-kriegerische Methode gab, diesen Raketenbeschuß für mehr als vier Monate zum Verschwinden zu bringen, warum ging dann diese Methode nicht mehr ab November? Ist der Anstieg der Zahlen ab November wirklich Folge einer »einseitigen Aufkündigung des Waffenstillstands durch die Hamas« (Gysi, a.a.O.)?

Eine sachkundige Erklärung dieses Zahlenverlaufs gibt der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter in seinem Artikel »An Unnecessary War« (Washington Post vom 8.1.2009, Übersetzung aus dem Englischen durch den Verfasser):

»Ich weiß aus persönlicher Beteiligung, daß Israels verheerende Invasion nach Gaza leicht hätte vermieden werden können.

Nach einem Besuch in Sderot im letzten April, unter dem Eindruck der ernsten psychologischen Schäden durch die in diesem Gebiet niedergehenden Raketen, erklärten meine Frau Rosalynn und ich die Abschüsse aus Gaza für unverzeihlich und als Akt von Terrorismus. Obwohl es wenige Opfer gab (drei Todesfälle in sieben Jahren), war die Stadt durch die unvorhersagbaren Explosionen traumatisiert. Zirka 3000 Bewohner waren in andere Gemeinden gezogen, und die Straßen, Spielplätze und Einkaufszentren waren fast leer. Bürgermeister Eli Moyal versammelte für unser Treffen eine Gruppe von Bürgern in seinem Büro und beklagte sich, daß die israelische Regierung den Raketen nicht ein Ende setze, sei es durch Diplomatie oder durch militärische Maßnahmen.

Da wir wußten, daß wir bald Hamas-Führer aus Gaza und auch in Damaskus sehen würden, versprachen wir, die Aussichten auf einen Waffenstillstand auszuloten. Vom ägyptischen Nachrichtendienstchef Omar Suleiman, der Verhandlungen zwischen Israelis und Hamas vermittelte, erfuhren wir, daß es zwischen beiden Seiten einen fundamentalen Meinungsunterschied gab. Hamas wollte einen umfassenden Waffenstillstand sowohl in der Westbank als auch in Gaza, Israel weigerte sich, über etwas anderes als Gaza zu diskutieren.

Wir wußten, daß die 1,5 Millionen Einwohner Gazas ausgehungert wurden, da der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung den Befund erhoben hatte, daß die akute Unterernährung in Gaza im selben Bereich lag wie bei den ärmsten Nationen in der südlichen Sahara; mehr als die Hälfte aller palästinensischen Familien hatten nur eine Mahlzeit am Tag.

Die palästinensischen Führer aus Gaza blieben in allen Sachfragen unverbindlich und nahmen für sich in Anspruch, daß Raketen der einzige Weg seien, um auf ihre Gefängnissituation zu reagieren und ihre humanitäre Notlage in Szene zu setzen. Die Hamas-Spitze in Damaskus jedoch war bereit, einen Waffenstillstand nur in Gaza zu erwägen, vorausgesetzt, Israel würde Gaza nicht angreifen und die Lieferung normaler humanitärer Güter an die palästinensischen Bürger gestatten.

Nach ausgiebigen Diskussionen mit den Hamas-Führern aus Gaza stimmte die Führung auch zu, jede Friedensvereinbarung zu akzeptieren, die zwischen den Israelis und dem Präsidenten der palästinensischen Behörde Mahmud Abbas, der auch Vorsitzender der PLO ist, ausgehandelt würde, vorausgesetzt, sie würde von einer Stimmenmehrheit der Palästinenser bei einem Referendum oder durch eine gewählte Einheitsregierung gebilligt.

Da wir nur Beobachter waren, keine Unterhändler, ließen wir diese Information den Ägyptern zukommen, und sie verfolgten diesen Waffenstillstandsvorschlag. Nach etwa einem Monat informierten uns die Ägypter und Hamas, daß alle Militäraktionen beider Seiten und alle Raketenabschüsse am 19.Juni aufhören würden, für einen Zeitraum von sechs Monaten, und daß humanitäre Lieferungen auf das normale Niveau gebracht würden, das vor Israels Rückzug 2005 bestand (etwa 700 Lastwagen pro Tag).

Wir waren nicht imstande, dafür in Jerusalem eine Bestätigung zu erhalten, wegen des Unwillens Israels, irgendwelche Verhandlungen mit der Hamas zuzugeben, aber die Raketenabschüsse endeten zeitnah, und es gab einen Zuwachs an Lieferungen von Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und Treibstoff. Jedoch resultierte dieser Zuwachs im Durchschnitt nur in 20 Prozent des normalen Niveaus. Und diese fragile Waffenruhe wurde zu einem Teil am 4. November gebrochen, als Israel einen Angriff nach Gaza startete, um einen Verteidigungstunnel zu zerstören, den Hamas innerhalb der Mauer, die Gaza umschließt, bauen ließ.

Bei einem weiteren Besuch in Syrien Mitte Dezember bemühte ich mich um Ausdehnung des nahenden Endes der Sechsmonatsfrist. Es war klar, die herausragende Sachfrage war die Öffnung der Übergänge nach Gaza. Vertreter des Carter-Zentrums besuchten Jerusalem, trafen sich mit israelischen Offiziellen und fragten, ob dies im Austausch für ein Ende der Raketenabschüsse möglich wäre. Informell schlug die israelische Regierung die Möglichkeit von 15 Prozent der normalen Lieferungen vor, wenn die Hamas als erstes alle Raketenabschüsse für 48 Stunden einstellte. Dies war für die Hamas unakzeptabel, und die Feindseligkeiten brachen aus.«


Kann man dies eine »einseitige Aufkündigung des Waffenstillstands durch die Hamas« nennen?

Wie kann man angesichts der hier berichteten Tatsachen, angesichts der Zahlen über die Raketenabschüsse 2008, angesichts der Zahlen über die chronische Aushungerung Gazas behaupten, Schuld an ihrer Bombardierung habe einzig und allein die Hamas-Bewegung? Wie kommen sie alle zu dieser Behauptung - der Fraktionsvorsitzende der Linken, der Generalsekretär der FDP, der Geschäftsführer der »Grünen«-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, der außenpolitische Sprecher der SPD, der außenpolitische Sprecher der CDU, der Außenminister, die Bundeskanzlerin? Wie können sie eifrig mit dem Kopf nicken bei der Frage »Hat ein Staat das Recht, seine Bürger vor Raketenbeschuß zu schützen?« und nicht merken, daß die Frage dazugehört »Hat ein Staat das Recht, eine Bevölkerung seit drei Jahren zu belagern und auszuhungern?«

Amnesty International schrieb schon 2006 in ihrem Jahresbericht über Israel und die besetzten Gebiete unter der Überschrift »Kriegsverbrechen«: »Die unverhältnismäßigen und willkürlichen Restriktionen, die die israelische Armee gegen den Waren- und Personenverkehr in den Gazastreifen hinein und von dort hinaus verhängt, stellen außerdem eine kollektive Bestrafung der gesamten Bevölkerung dar. Diese verstößt gegen die Vierte Genfer Konvention, die eine Bestrafung von Personen für Verbrechen, die sie nicht begangen haben, untersagt.«

Rolle der Medien

Wie bei George W. Bush gibt es auch bei unseren Politikern zwei Möglichkeiten. Entweder sie sagen bewußt die Unwahrheit, obwohl sie die Fakten kennen. Oder sie kennen diese einfachen und jedermann zugänglichen Fakten nicht; dann würden sie sich Entscheidungsbefugnis anmaßen über Dinge, von denen sie im Grunde keine Ahnung haben.

Kräftige Mithilfe bei der Verdrehung der Realität leistete in den letzten drei Jahren die Journalistenzunft.

Eine besonders grobe Verdrehung der Wahrheit war der Satz, der Gazastreifen sei seit der Machtübernahme der Hamas »abgeriegelt«. Ich habe häufig Berichte gelesen, in denen dadurch offensichtlich mit Absicht der Eindruck erweckt wurde, eine fanatische, weltfeindliche, fundamentalistische Sekte namens »Hamas« habe ihre Bevölkerung im Gazastreifen eingeriegelt und lasse sie nicht hinaus: elegant die Opfer zu Tätern gemacht. In Wirklichkeit ist zentrales politisches Anliegen der Hamas, endlich die Öffnung der Übergänge nach Gaza zu erreichen. Dies bestätigt Jimmy Carter in seinem obigen Bericht. Drolligerweise bestätigt dies auch das israelische Außenministerium auf seiner Website www.mfa.gov.il; dort sind in anklägerischer Absicht die Aussagen führender Hamas-Leute im Wortlaut abgedruckt, man hoffe, mit friedlichen Massendemonstrationen Israel zur Grenzöffnung zu zwingen.

Beliebt ist auch die Formulierung »seit der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas 2007«. Dadurch wird der Eindruck erweckt, die Hamas sei nicht durch Wahlen legitimiert. Richtig ist vielmehr, daß die Hamas nach fairen demokratischen Wahlen die Stimmenmehrheit bekam und daher 2006 die Leitung der Autonomiebehörde in Gaza und der Westbank übernahm. Israel begann daraufhin mit der totalen Blockade des Gaza­streifens, steckte Minister und Parlamentarier aus der Hamas ins Gefängnis und tötete 2006 durch Bombardement des Gazastreifens Hunderte Menschen. Schließlich belieferten die USA, mit Unterstützung von Teilen der bei den Wahlen unterlegenen PLO und von Israel, den Warlord Mohammed Dahlan in Gaza mit Waffen, Geld und Logistik, mit dem Ziel eines Putsches gegen die gewählte Regierung (ausführlich dokumentiert von der US-Illustrierten Vanity Fair im April 2008). Die Hamas kam diesem geplanten Putsch 2007 durch einen Gegenputsch bevor und regiert seitdem mit einer Art Notstandsregime weiterhin als die durch Wahlen legitimierte Regierung. Statt »seit der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas 2007« muß es also korrekt heißen entweder »seit dem fehlgeschlagenen Putsch gegen die Hamas 2007« oder »seit der Regierungsübernahme durch die Hamas 2006«.

Selbstverständlich kommt kein Artikel über die Hamas ohne schmückende Beiwörter wie »islamistisch-extremistisch« oder »radikalislamistisch« aus. So wird andauernd der Eindruck erweckt, die Hamas-Leute hätten - neben ihrer religiösen Ausrichtung, die man verurteilen mag oder nicht - nicht auch das Wohl der von ihnen vertretenen Palästinenser im Auge.

Ein kleines aussagekräftiges Beispiel, wie Diskussionen über die große Einigkeit zur Hamas-Alleinschuld und zu diesem Krieg unter den Tisch gekehrt werden: Bei »Anne Will«, der wichtigsten politischen Diskussionssendung im deutschen Fernsehen, war vorgesehen für Sonntag abend, 11.1.09, eine Diskussion über Gaza mit Daniel Barenboim (Israeli und weltberühmter Musiker, der sich seit Jahren klar gegen Israels Sackgassenpolitik ausspricht), Joseph Fischer (Exaußenminister, Befürworter des Gaza-Krieges im Interview mit Zeit-Online, 7.1.09), Avi Primor (ehemaliger israelischer Botschafter in Deutschland; Befürworter einer friedlichen Regelung, zumindest skeptisch gegenüber dem Nutzen des Gaza-Krieges), Frau Dr. Sumaya Farhat-Naser (Dozentin an der palästinensischen Bir-Zeit-Universität, Autorin mehrerer deutschsprachiger Bücher über den Konflikt). Die Flugkarte für Frau Farhat-Naser war bereits bezahlt, da wurde die Sendung vier Tage vor dem Termin abgesagt und statt dessen eine Diskussion über das Thema »Selbsttötung« organisiert. Barenboim und Frau Farhat-Naser durften dafür im Nischenprogramm 3sat am späten Montag abend kurze Stellungnahmen abgeben.

»Haut ab!«

Das Irritierende an Israels Angriff auf Gaza ist unter anderem, daß er aussieht wie ein gigantischer Pogrom.

Es wurde viel gerätselt über Israels strategische Ziele bei diesem Krieg gegen Gaza. Rational schien das alles nicht zu sein. Und so ist es auch. Ein Pogrom ist irrational. Das Motiv eines Pogroms ist der pure Haß. Ein Pogrom hat eine klare Aussage an die überlebenden Opfer: »Wir wollen Euch hier nicht. Haut ab!«. So war es in Kischinjow 1903 und 1905, in Berlin 1938, in Kielce 1946, und so ist es nun in Gaza 2009.

Es wird in Deutschland unterschätzt, mit welchem Haß in Israel über Palästinenser gesprochen wird. Mein E-mail-Partner in Kapitel 14 ist aber kein Einzelfall. Da in Israel systematisch die Nakba - also die Vertreibung und Enteignung der Palästinenser ab 1947 - verschwiegen und heruntergespielt wird, verstehen die meisten Israelis nicht, was die Palästinenser gegen sie haben. »Wir geben ihnen Strom und Wasser, und sie beschießen uns.« Ein israelischer Psychologieprofessor, mir bekannt seit vielen Jahren als eher links orientiert, skeptisch gegenüber Militärmacht, sagte mir im September 2008, er habe die Palästinenser satt. Wenn es denn eine Möglichkeit gäbe, Israel dadurch Frieden und Ruhe zu verschaffen, daß zehn Meilen um Israels Grenzen verbrannte Erde geschaffen und alles Leben ausgelöscht würde, dann solle Israel das tun.

»Haut ab! Soll sich doch Ägypten um euch kümmern! Geht doch nach drüben! Es ist uns egal, ob ihr lebt oder krepiert!« Das ist die israelische Botschaft an Gaza. Und es wird so getan dabei, als lebten die Palästinenser in dieser übervölkerten Stadt vor allem aus einem Grund: um als Fremdlinge den friedlichen Einwohnern Israels das Leben schwer zu machen. Es sind aber keine Fremdlinge, sondern in ihrer Mehrheit die Nachkommen der früheren Einwohner des heutigen Israels: Flüchtlinge und Vertriebene aus Israel vor, bei oder nach der Staatsgründung. Wie Beni Ziper, Redakteur bei der Tageszeitung Ha'aretz in seinem Blog berichtet1, kann man im Geschichtsmuseum der Stadt Ashkelon (das bis 1948 eine Moschee gewesen sei) alles darüber erfahren, wie man 1953 (!) die Araber, die 1948 noch in der Stadt geblieben waren, deportierte. »Ich denke«, schreibt Ziper über den freundlichen Museumswärter, der ihm alles gerne zeigt, »dieser Mann stellt keine Verbindung her zwischen der Tatsache, daß Kassam-Raketen in Ashkelon landen, und der Tatsache, daß arme Palästinenser, die niemandem etwas getan hatten, auf Lastwagen geladen und aus der Stadt vertrieben wurden, nach Gaza, vor fünfundfünfzig Jahren. Und seitdem sind sie dort und Ashkelon ist hier. Und das geschah nicht während des Krieges, in der Hitze des Gefechtes, sondern aus kalter Berechnung, daß man die Gegend ethnisch bereinigen müsse. Es gibt ein Bild in diesem Museum, und darauf sieht man die Palästinenser sitzen und warten, vor dem Haus der Militärverwaltung.«

Gaza ist offenbar nicht weit genug weg. Die Palästinenser sollen ganz weg, das ist der irrationale Gedanke, der vielleicht nicht Grundlage des israelischen Regierungsbeschlusses ist, aber breite Zustimmung bei der israelischen Wählerschaft finden kann und daher Wahlstimmen für die Kriegsorganisatoren verspricht.

Verhöhnte Opfer

Der Pogrom wird damit begründet, daß die Hamas eine »Terrororganisation« sei. Ihr müsse nun ein für allemal eine Lektion erteilt werden. Der Angriff gegen Gaza habe vor allem dieses eine Ziel, diese »Terrororganisation« zu stürzen. Nun ist aber die Hamas weit mehr als eine Organisa­tion zum Abschießen von Raketen. Die Hamas ist eine religiös-politische Partei, unterhält soziale und karitative Organisationen und hat als politische Vertretung die Mehrheit der palästinensischen Stimmen erhalten. Wenn die Hamas eine Terrororganisation ist, die mit ihren primitiven Raketen, die glücklicherweise meistens auf dem Feld landen, in den letzten Jahren leider ungefähr zehn Menschen getötet hat, was ist dann die israelische Regierung, die nun allein im Januar 2009 mehr als 1 300 Menschen umbringen ließ? Kann »Krieg gegen den Terror« jeden Irrwitz rechtfertigen? Wieso ist es ein todeswürdiges Verbrechen, Mitglied der Hamas-Administration zu sein?

Hamas-Funktionäre können machen, was sie wollen, man darf sie offensichtlich immer töten. Ein erster großer, öffentlich gefeierter Erfolg war der Volltreffer auf das Wohnhaus des Hamas-Funktionärs Nisar Rayan am Neujahrstag. Er war auch so unverschämt, sich nicht zu verstecken. Er war einfach in seinem Haus mit seiner großen Familie geblieben. (Die Presse berichtete genüßlich, daß er mehrere Frauen hatte, das ist natürlich todeswürdig.) Vielleicht war er so verzweifelt wie der Fuchs in der Falle, daß er nicht mehr klar denken konnte. Vielleicht hatte er darauf vertraut, daß Israel als eine zivilisierte Nation das Völkerrecht beachten würde. Vielleicht machte er sich keine Illusionen und erwartete seinen Tod in Würde.

Wenn ich lese, wie so ein Hamas-Funktionär in seinem Tod auch noch verspottet wird - daß es eine besondere Infamie von ihm gewesen sei, sich nicht zu verstecken -, dann kann ich nicht anders, dann fallen mir die zynischen Bemerkungen der Nazis ein, mit denen sie ihre Opfer noch über den Tod hinaus in den Dreck zogen.

Amnesty International schrieb bereits im Jahresbericht 2006: »Anstatt gesuchte Palästinenser festzunehmen und strafrechtlich zu belangen, verfolgt die israelische Regierung seit geraumer Zeit die Strategie der extralegalen Hinrichtung dieser Personen. Obwohl bei solchen Übergriffen oft mehr unbeteiligte Zivilisten als bewaffnete Kämpfer ums Leben kommen, stellt die israelische Armee diese Angriffe beschönigend als 'gezielte Tötungen' dar.«

Israels Regierung und Militär wissen, daß sie gegen die Regeln der Kriegsführung verstoßen. Deshalb wollen sie keine Zeugen haben. Journalisten wurde die meiste Zeit während dieses Kriegs der Zutritt zum Gazastreifen verwehrt, trotz einer gegenteiligen Anweisung des israelischen obersten Gerichts. Dies ist nicht die erste Gerichtsentscheidung, die von der israelischen Regierung einfach ignoriert wird.

Die von Israel aktuell begangenen Kriegsverbrechen werden die Länder des Nahen Ostens auf Jahre und Jahrzehnte hinaus belasten.

[1] Danke an Abraham Melzer für den Hinweis und die Übersetzung aus dem Hebräischen.

Rolf Verleger, Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht, 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, 183 Seiten, brosch., PapyRossa Verlag, Köln 2009, 12,90 Euro, ISBN 978-3-89438-394-7

* Aus: junge Welt, 28. Januar 2009


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