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USA wird Gaza-Krieg unangenehm

Über 1300 Tote / Im Telefongespräch zwischen Netanjahu und Obama fliegen die Fetzen

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv *

Es ist der verlustreichste Krieg im Gaza-Streifen seit 1973: Mehr als 1300 Menschen sind bisher gestorben. Und nun gibt es auch noch offenen Streit zwischen Israel und den USA.

In diesen Krieg droht jeder mit hineingerissen zu werden: Journalisten, die tagtäglich zwischen Fakt und Fiktion abwägen müssen, während beide Seiten nur auf ein falsches Wort warten; und auch die Vereinten Nationen, deren Ziel es eigentlich ist, Zivilisten zu schützen und zu unterstützen in diesem hermetisch abgeriegelten, übervölkerten, verarmten Landstrich.

Doch stattdessen müssen sich die Mitarbeiter des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) in diesen Tagen viel zu oft in Diplomatie üben, beiden Seiten gut zureden. »Es ist eine wirklich schwierige Aufgabe«, sagt ein hochrangiger Beamter der UNPOL. Das ist die Polizei der Vereinten Nationen, zu deren Aufgaben es gehört, Personal der Vereinten Nationen zu schützen. Nachdem in der vergangenen Woche mehrmals Raketen in Einrichtungen der UNRWA im Gaza-Streifen gefunden wurden, Israels Luftwaffe auch UN-Schulen angriff, wurden am Mittwoch eilig einige Mitarbeiter der Organisation eingeflogen. Ihre Aufgabe: »Wir sollen sicherstellen, dass die Neutralität unserer Einrichtungen gewährleistet wird.«

Das aber ist leichter gesagt als getan. Denn die UNRWA-Neutralität in Gaza wurde nirgendwo festgeschrieben. Auch die UN-Polizisten sind nur geduldet, können, falls nötig, Raketen und Blindgänger entschärfen und darauf hoffen, »dass das Signal in Israel ankommt, es keine weiteren Luftangriffe auf unsere Anlagen gibt und dass die Hamas versteht, dass sie sich ins eigene Fleisch schneidet, wenn sie ihre Raketen bei uns einlagert. Wir können die Flüchtlinge nicht anders schützen.«

Um die 200 000 Menschen haben mittlerweile in den Anlagen der Vereinten Nationen Schutz vor den Kämpfen, den Luftangriffen gesucht; die genaue Zahl jener, die auf der Flucht sind, ist unbekannt. Die Zahl der Todesopfer dort hat mittlerweile die Zahl der Opfer des Krieges zum Jahreswechsel 2008/2009 und auch des Israel-Libanon-Krieges 2006 überschritten. Weder in Israel noch in Palästina rechnet man damit, dass es dabei bleiben wird. Am Mittwochnachmittag erklärte Israels Regierung erneut eine »humanitäre Waffenruhe«; doch die Essedin-al-Kassam-Brigaden antworteten darauf, man fühle sich daran nicht gebunden. In einer Fernsehansprache hatte Mohammad Daif, der Kommandeur der Brigaden, einen Waffenstillstand ausgeschlossen: »Solange die Palästinenser nicht in Frieden leben, werden Israelis nicht in Frieden leben.«

Jene, die die Hamas und ihren militärischen Flügel an den Verhandlungstisch bringen könnten, sind mittlerweile weitgehend ausgeschaltet. Mit Nachdruck bemüht sich Israels Regierung, Katar und die Türkei als Vermittler zu diskreditieren. So wirft man der Regierung in Doha vor, die Kriegsführung der Hamas zu finanzieren, versehen mit an den Westen gerichteten Spitzen. Gerne verweisen israelische Regierungsmitarbeiter darauf, dass Katar viel Geld mit Investitionen in europäischen und US-Konzernen verdiene.

Auslöser war US-Außenminister John Kerry Ende vergangener Woche, der einen Waffenstillstandsvorstoß Katars und der Türkei gelobt hatte. Nach Ansicht Israels gehen deren Vorschläge zu stark auf Forderungen der Hamas nach Aufhebung der Gaza-Blockade ein.

Wegen der Kerry-Initiative kam es mittlerweile zum offenen Streit zwischen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und US-Präsident Barack Obama. Am Dienstagabend veröffentlichte ein israelischer Fernsehsender die Abschrift eines Telefonats zwischen den beiden vom Sonntag. In dem Gespräch ist es hoch hergegangen: In scharfen Worten fordert Obama darin einen sofortigen Waffenstillstand; innerhalb einer Woche würden Katar und die Türkei Verhandlungen aufnehmen. Netanjahu gab dem Bericht zufolge zurück, Katar und die Türkei gehörten zu »den größten Unterstützern der Hamas«.

Das Weiße Haus und der Nationale Sicherheitsrat der USA bestreiten, dass dies der Wortlaut ist. Ein Sprecher Obamas sagte, dies sei eine Kampagne, um die Friedensbemühungen der USA zu diskreditieren.

Doch man weist nicht von der Hand, dass die Beziehungen zu Israel schweren Schaden erlitten haben. »So spricht man nicht unter Freunden«, sagt Jen Psaki, Sprecherin des US-Außenministeriums.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 31. Juli 2014


Granaten auf Kinder

Gaza: Erneut Schule des UN-Hilfswerks UNRWA bombardiert – mindestens 20 Tote. Wachsende Kritik an Aggression auch in Israel

Von André Scheer **


Ungeachtet internationaler Proteste und auch im eigenen Land wachsender Kritik hat Israel am Mittwoch die Angriffe auf den Gazastreifen fortgesetzt. Im Flüchtlingslager Dschabalia wurde erneut eine Schule des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (­UNRWA) von Granaten getroffen. Angaben von Ärzten zufolge wurden dabei 20 Menschen getötet. UNRWA-Chef Pierre Krähenbühl warf Israel daraufhin einen schweren Verstoß gegen internationales Recht vor. »In der vergangenen Nacht wurden Kinder getötet, die neben ihren Eltern auf dem Boden eines von den Vereinten Nationen zum Schutzraum erklärten Klassenzimmers geschlafen haben. Kinder, die im Schlaf getötet wurden – das ist ein Affront gegen alle von uns, das ist ein Grund für universelle Scham.«

Insgesamt starben seit Beginn der israelischen Militäroffensive am 8. Juli bislang fast 1300 Menschen, etwa 7200 wurden verletzt. Als Reaktion darauf haben Chile und Peru ihre Botschafter aus Israel zu Konsultationen zurückgerufen. Auch auf dem Gipfeltreffen des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses MERCOSUR in Caracas war die Lage Thema. Vier der fünf Staatschefs der Mitgliedsländer verabschiedeten am Dienstag (Ortszeit) eine gemeinsame Erklärung, in der sie den »unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt durch die israelische Armee« energisch verurteilen. Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, ihre brasilianische Amtskollegin Dilma Rousseff, Uruguays Staatschef José Mujica und Venezuelas Präsident Nicolás Maduro forderten die sofortige Aufhebung der Blockade des Gazastreifens durch Israel und riefen die internationale Gemeinschaft dazu auf, Druck für eine dauerhafte Feuereinstellung auszuüben. Die Unterschrift von Paraguays Präsident Horacio Cartes fehlt.

Inzwischen wächst auch in Israel die Kritik an der Aggression. Tal Niv, Chef der englischsprachigen Ausgabe der israelischen Tageszeitung Haaretz, kommentierte im Onlineportal seines Blattes: »Hamas gefährdet Israels Existenz nicht. Sehr wohl tut dies aber die Rückkehr zu einer Politik und ihre Verewigung, die Israel und Gaza zu diesem Juli 2014 geführt haben.« Die wichtigste Lehre sei, daß Israel ohne ein Abkommen mit den Palästinensern unter Einschluß der Hamas und ohne eine Vision für deren wirtschaftliche Wiedergeburt zu einer »Quasidemokratie« werde, »die durch ihr Schwert lebt«.

Im gleichen Medium kommentierte Aejal Gross am Mittwoch den am Vorabend erlassenen sechsmonatigen Sitzungsausschluß der Knesset-Abgeordneten Hanin Soabi. Noch am Montag hatte Israels Generalstaatsanwalt Jehuda Weinstein seine Ermittlungen gegen die Parlamentarierin eingestellt. Mit ihrer Aussage in einem Interview, die Entführer der drei israelischen Jugendlichen, die im Juni ermordet worden waren, seien »keine Terroristen« gewesen, habe Soabi keine Gesetze verletzt, da sie im gleichen Atemzug auch ihre Ablehnung der Entführung zum Ausdruck gebracht habe. Die Ethikkommission der Knesset kam ihrerseits zu dem Schluß, Soabi habe sich nicht für das »Wohl des Staates« eingesetzt und damit die Regeln des Parlaments verletzt. Gross kommentierte, es gebe in kontroversen Angelegenheiten nicht nur eine Sicht, was das Wohl des Staates sei: »Wer anderen das Recht auf eine abweichende Meinung abspricht, pflastert den Weg zu Faschismus und Tyrannei.«

** Aus: junge Welt, Donnerstag 31. Juli 2014


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