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Schwierige Wahrheitssuche

Russlands Präsident Medwedjew: Tausende Menschenleben gerettet

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Russlands Präsident Dmitri Medwedjew hat ein Jahr nach dem Ausbruch der Kämpfe im Kaukasus die alleinige Verantwortung für den Befehl zum Einmarsch russischer Truppen in Georgien übernommen: »Ich war der einzige, der alle Entscheidungen getroffen hat«, sagte Medwedjew am Freitag im Fernsehen.

Er habe sich nichts vorzuwerfen, erklärte Medwedjew im Interview. Russland habe »harte Gegenmaßnahmen« gegen den georgischen Angriff auf Südossetien ergriffen, »in deren Folge hunderte, tausende Menschenleben gerettet wurden und der Frieden im Kaukasus wiederhergestellt wurde«. Keine Frage, dass dies in Georgien ganz anders beurteilt wird.

Mit der Schuldfrage befasst sich seit Monaten eine internationale Kommission unter Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini. Mehrfach verschoben, soll ihr Bericht Ende September vorgestellt werden. »Informierte Kreise« haben verlauten lassen, dass Georgiens Verantwortung für den Ausbruch des Krieges in dem Bericht weitaus kritischer betrachtet wird als bisher bekannt. Allerdings glaubt auch in Moskau kaum jemand, dass der Bericht die ganze Wahrheit enthalten wird. Weil damals in Tbilissi US-amerikanische Berater von Staatschef Michail Saakaschwili das eigentliche Sagen hatten, könne nur deren Befragung Licht in das Dunkel der verworrenen Abläufe bringen, glaubt ein russischer Diplomat. Doch davor werde Europa als Washingtons Juniorpartner wohl zurückschrecken. Aber auch der Generalstab in Moskau tut sich, weil er die Sicherheit Russlands gefährdet sieht, schwer mit der Offenlegung von Fakten.

Nach wie vor stempeln beide Seiten die jeweils andere zum Aggressor. Georgien und der Westen werfen Russland zudem Unverhältnismäßigkeit und Nichterfüllung des Friedensabkommens vor. Dieses verpflichtet beide Seiten, sich auf die Position vor Beginn der Kampfhandlungen zurückziehen. Moskau indes beruft sich auf die Beistandsverträge mit Südossetien und Abchasien und hat dort zwischen 3000 und 6000 Soldaten stationiert. Die nehmen auch den Schutz der Grenze zu Georgien wahr, die Südossetien in Teilen als vorläufig betrachtet.

Beide beanspruchen beispielsweise das Trusso-Tal, das zu Stalins Zeiten Georgien zugeschlagen wurde. Rücken dort südossetische Milizen oder gar russische Truppen ein, sei ein neuer Krieg unvermeidlich, warnten Beobachter. Die Provokationen der vergangenen Woche - Georgien und Südossetien warfen einander vor, das Gebiet des jeweils anderen beschossen zu haben, worauf die russischen Truppen in Alarmbereitschaft versetzt wurden - zeigen, wie zerbrechlich der unter Vermittlung Nicolas Sarkozys zustande gekommene Waffenstillstand ist. Russlands Premier Wladimir Putin indes bekräftigte dieser Tage, Moskau sei an weiteren Waffengängen im Kaukasus »nicht interessiert«. Das bestätigt auch der russische Militärexperte Alexander Goltz: Weder Moskau noch Tbilissi hätten derzeit »vernünftige Gründe« für einen neuen Krieg. Russland habe durch den Sieg im August 2008 die Erosion seines Einflusses im südlichen Kaukasus stoppen können und wolle jetzt vor allem das gestörte Verhältnis zum Westen reparieren. Georgiens Armee wiederum habe nahezu die gesamte Technik verloren und sei derzeit nicht gefechtsbereit. Moskaus militärische Präsenz direkt vor der Haustür sei ein zusätzlicher Abschreckungsfaktor.

Die Situation bleibe dennoch gefährlich, argwöhnt Alexej Mala-schenko vom Moskauer Carnegie-Zentrum. In Russland gebe es Kräfte, die den von Barack Obama verkündeten Neustart der russisch-amerikanischen Beziehungen stören oder gar verhindern wollen. Derweil haben sich auch westliche Politiker - von Hardlinern abgesehen - damit abgefunden, dass am faktischen Status Südossetiens und Abchasiens auf absehbare Zeit nichts zu ändern sein wird. Man müsse diesen Streitpunkt »isolieren« und die Beziehungen zu Russland verbessern. Wie es der deutsche Russland-Experte Alexander Rahr ausdrückt: »Der Westen hat Russland diesen Krieg verziehen.«

Chronologie - Krieg im Kaukasus

  • 7. August 2008: Georgische Truppen greifen Südossetiens Hauptstadt Zchinwali in der Nacht zum 8. August an, um die seit 1991 abtrünnige Region »heimzuholen«.
  • 8. August: Russische Truppen rücken mit Panzern in Südossetien und später auch in georgisches Kernland ein.
  • 9. August: Die russische Luftwaffe bombardiert Ziele im georgischen Kernland. Auch georgische Stellungen in Abchasien werden angegriffen.
  • 12. August: Russland und Georgien einigen sich auf eine Waffenruhe.
  • 15. August: Georgiens Präsident Saakaschwili unterzeichnet den EU-Friedensplan, der einen Waffenstillstand und einen Truppenrückzug vorsieht. Am nächsten Tag unterschreibt Russlands Präsident Medwedjew.
  • 19. August: NATO und EU fordern Russland zum sofortigen Truppenabzug aus Georgien auf.
  • 22. August: Nach russischen Angaben ist der Truppenrückzug aus georgischem Kernland beendet. Eine Pufferzone um Abchasien und Südossetien würde weiter kontrolliert.
  • 26. August: Russland erkennt die Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens an.
  • 29. August: Georgien bricht die diplomatischen Beziehungen zu Russland ab.
  • 17. September: Russland, Südossetien und Abchasien unterzeichnen Verträge über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe.
  • 1. Oktober: EU-Beobachter beginnen ihre Mission zur Kontrolle der Waffenruhe in den Pufferzonen.
  • 8. Oktober: Russland zieht seine letzten Soldaten aus dem georgischen Kernland ab. dpa/ND


* Aus: Neues Deutschland, 8. August 2009


Kaukasus-Krieg mit vielen Verlierern

Von Otfried Nassauer **

Vor einem Jahr waren aller Augen auf Peking gerichtet. Mit einem gigantischen Feuerwerk wurden am 8. August 2008 die olympischen Sommerspiele eröffnet. Aller Augen? Nein, denn Michail Saakaschwili, der Präsident Georgiens, zwang Peking-Besucher wie Wladimir Putin und George W. Bush wenige Stunden zuvor zum Blick auf sein Heimatland. Sein Feuerwerk war von anderer Art. Georgische Truppen traten in der Nacht vom 7. auf den 8. August zum Angriff auf die abtrünnige Republik Südossetien an, um - so der georgische General Kuraschwili - »die verfassungsmäßige Ordnung in der ganzen Region wiederherzustellen«. Russland griff militärisch ein; der Krieg war für Georgien binnen fünf Tagen verloren. Politisch hatte er viele Verlierer.

Abchasien und Südossetien erklärten ihre Unabhängigkeit. Georgien verlor seine territoriale Integrität für die vorhersehbare Zukunft. Bis heute kämpft es mit der Flüchtlingsproblematik und mit Schäden in Milliardenhöhe. Seine Streitkräfte sind kaum noch einsetzbar. Saakaschwilis Regierung verlor ihre Glaubwürdigkeit im In- und Ausland. Sie kann sich nur an der Macht halten, weil sie trotz autokratisch-repressiver Politik und Korruption westliche Finanzhilfe und politische Unterstützung durch Russland-kritische Staaten erhält. Die Aussicht auf eine baldige NATO-Mitgliedschaft ist verspielt.

Südossetien ist eine international nicht anerkannte Miniaturrepublik unter russischem Militärschutz. Politische und wirtschaftliche Eigenständigkeit sind unerreichbar. Die Region ist politisch, geografisch und wirtschaftlich isoliert. Auch hier bildet sich eine autokratisch-korrupte Herrschaftsstruktur heraus.

Russland gewann zwar den Krieg, wird politisch aber letztlich Verluste erleiden. Vor allem die neuen NATO-Mitglieder und die USA werfen Moskau eine unverhältnismäßige militärische Reaktion und eine Rückkehr zu imperialer Politik vor. Sie nutzen Institutionen wie die NATO, um eine Politik der Nadelstiche zu praktizieren. Russland ließ sich zudem in eine problematische Entscheidung drangen: Es erkannte Südossetien und Abchasien als unabhängige Staaten an und verpflichtete sich so zu einem längerfristigen militärischen und politischen Engagement südlich des Kaukasus, das nicht mehr in seinem Interesse lag. Obwohl Russland ähnlich argumentiert wie die NATO-Staaten bei der Herauslösung Kosovos aus Serbien - wenn mehrere einen Rechtsbruch begehen, bleibt es doch ein Rechtsbruch. Er schwächt die Autorität der UNO und ihrer Charta und liefert den Moskau-Kritikern Munition.

Auch die NATO und die EU sind Verlierer. In beiden Institutionen ist der Streit offen ausgebrochen, ob Sicherheit künftig vor oder mit Russland zu schaffen sei. So muss Anders Fogh Rasmussen, der neue NATO-Generalssekretär, sein Vorhaben, die Zusammenarbeit der NATO mit Russland zu verbessern, mit der Forderung harmonisieren, Georgien die Tür für einen schnellen NATO-Beitritt offen zu halten.

Der Tonfall der Kontrahenten hat sich anlässlich des Jahrestages des Krieges erneut verschärft. Mit einem stabilen Frieden ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Zu befürchten ist vielmehr, dass lokale wie globale Akteure den Konflikt auch weiterhin nutzen wollen, um mit Nadelstichen ihre Handlungsspielräume zu testen.

** Otfried Nassauer ist Direktor des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit.

Aus: Neues Deutschland, 8. August 2009 (Gastkolumne)


Saakaschwili will Abtrünnige "friedlich" in Staatsverband Georgiens zurückholen

MOSKAU, 08. August (RIA Novosti). Der georgische Präsident Michail Saakaschwili will die territoriale Integrität seines Landes mit "friedlichen Mitteln" wiederherstellen.

"Wir werden den Besatzer friedlich besiegen, und zwar mit der Förderung der Demokratie und mit der Integration in Europa", sagte Saakaschwili am Freitagabend in Gori anläßlich des ersten Jahrestags des Fünftagekrieges in Südossetien gegen Russland im August 2008.

"Vor einem Jahr war die russische Armee in Georgien einmarschiert. Das ist mit den Ereignissen von 1921 vergleichbar, als die Rote Armee Georgien besetzt hat ... Die Völker beider Länder brauchten diesen Krieg nicht. Die Handlungen Russlands sind ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Heute kämpft Georgien auch für jene, die vom Imperium bedroht sind. Die Wahrheit ist auf unserer Seite. Wir sind nicht allein", sagte Saakaschwili.

Am selben Tag wurde in Gori, der Heimatstadt der Sowjetdiktators Josef Stalin, ein Memorial zum Andenken an die Kriegsopfer eingeweiht und am Stalin-Denkmal ein Maket der Berliner Mauer angebracht. Saakaschwili hatte bereits vor dem Südossetien-Krieg versprochen, die abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausschließlich mit friedlichen Mitteln in den Staatsverband Georgiens zurückzuholen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 8. August 2009; http://de.rian.ru




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