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Balanceakt am Rande eines Krieges

Georgien wirft Russland illegale Grenzübertretungen der Armee nach Abchasien vor

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Don-Kosaken und ethnische Milizen der Nordkaukasusvölker sollen Russlands Interessen in Abchasien und Südossetien schützen.

Eine Bagatelle oder ein bloßer Zufall, fürchtet Sergej Markedonow vom Moskauer Institut für politische und militärische Analysen, könnten im russisch-georgischen Konflikt zu Entwicklungen führen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind und in eine Katastrophe münden. Seit Präsident Wladimir Putin Mitte April die Aufnahme besonderer Beziehungen zu Georgiens abtrünnigen Autonomien Abchasien und Südossetien ankündigte, balancieren Moskau und Tblissi hart am Rande einer militärischen Auseinandersetzung.

Russland, so Außenminister Sergej Lawrow, wolle keinen Krieg, werde aber »nicht tatenlos zusehen«, wenn Tblissi zu militärischen Mitteln greift. Kurz zuvor hatte das Verteidigungsministerium Verstärkungen seiner Blauhelmkontingente an den Grenzen zu Abchasien und deren Kompetenzerweiterung angekündigt. Begründung: Die Provokationen Georgiens würden sich häufen.

Die ersten Einheiten wurden schon am Mittwoch, als sich die Tagung des Russland-NATO-Rates um Deeskalation der Spannungen bemühte, in Marsch gesetzt. David Bakradse, Georgiens neu ernannter Vertreter bei NATO und EU behauptete sogar, diese hätten den Grenzfluss Psou überschritten und zog Parallelen zum Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei und Afghanistan.

Hiesige Experten, darunter auch staatsnahe wie Markedonow, werten den Konflikt zwischen Tblissi und den Separatisten bereits als »Stellvertreterkrieg« der USA mit Russland, bei dem Georgien versuche, sich als Teil des Westens zu verkaufen, Moskau indes bekäme bei einem Waffengang nicht einmal Unterstützung von der GUS: Mehrere UdSSR-Nachfolgestaaten hätten, weil Stalin einst die Grenzen der Sowjetrepubliken mitten durch das Siedlungsgebiet der Völker zog, »ähnliche Leichen im Keller« wie Georgien. Der Kreml, so Markedonow, müsse daher einen »pragmatischen Dialog« mit Westeuropa suchen, das im Gegensatz zu Washington »von Georgiens Vorgehen nicht begeistert« ist.

Allerdings mehren sich derzeit Anzeichen, dass Russland im Krisengebiet auf halblegale und illegale paramilitärische Strukturen setzt: Don- und Terekkosaken haben ihre bewaffneten Formationen bereits in Alarmbereitschaft versetzt, um den Glaubensbrüdern im überwiegend christlichen Südossetien beizustehen, die nationalen Bewegungen im Nordkaukasus rüsten sich zur Verteidigung Abchasiens, wo die Mehrheit der Bevölkerung zum gleichen Ethnos gehört wie die Adygäer im russischen Nordwestkaukasus.

Ihre Milizen mischen seit der Perestroika bei allen Konflikten der Volksgruppen mit den Zentralregierungen in Moskau und Tblissi mit. In Waffendepots, die Russlands Armee nach der Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens 1991 aufgab, versorgten sie sich sogar mit Panzerfahrzeugen und schwerer Artillerie. Schon im Bürgerkrieg 1993 kämpften sie auf Seiten Abchasiens gegen Georgien. Darunter auch reguläre Einheiten der tschetschenischen Separatisten, denen Jelzin eigens dazu freien Durchzug durch den nordwestlichen Kaukasus gewährte. Insgesamt etwa 7000 Kämpfer, darunter auch das Bataillon von Schamil Bassajew, dem späteren Kopf des Geiseldramas in der Schule von Beslan und anderer Terroranschläge.

Als militärische und politische Dachorganisation der Guerilla fungierte die Konföderation der Kaukasusvölker KNK. Sie löste sich im Sommer 1996, als Moskau Tschetschenien de facto in die Unabhängigkeit entlassen musste, formell zwar auf. In Wahrheit ging es nur um eine Dezentralisierung, die nationalen Gruppen wirkten fortan autonom. Putin konnte sie daher nur in den Untergrund zwingen, nicht jedoch liquidieren. Fast alle KNK-Feldkommandeure von Rang gaben sich daher am letzten Sonnabend die Ehre und gründeten in Tscherkessk, der Hauptstadt der Teilrepublik Karatschai-Tscherkessien mit Unterstützung der Regionalregierung und ausdrücklicher Billigung Moskaus die »Assoziation der Abchasien-Veteranen«. Einziger Tagesordnungspunkt: »Internationalistische Waffenhilfe für unsere Brüder in Abchasien«.

Das, so fürchtet die »Nesawissimaja Gaseta«, könnte langfristig den Fortbestand Russlands in seinen gegenwärtigen Grenzen in Frage stellen. Zu Recht: Für militärische Erfolge dürften die Feldkommandeure den Kreml mit ähnlich maximalistischen Autonomieforderungen bedrängen wie Tschetschenen-Präsident Ramzan Kadyrow. Und bei einer Niederlage die Schuld ebenfalls in Moskau suchen, was latenten Sezessionsbestrebungen im russischen Nordkaukasus neuen Auftrieb gäbe.

* Aus: Neues Deutschland, 2. Mai 2008

Krise im Kaukasus: Russland will keinen Krieg gegen Georgien

LUXEMBURG, 30. April (RIA Novosti). Russland hat Außenminister Sergej Lawrow zufolge nicht die Absicht, einen Krieg gegen Georgien zu führen.

Das russische Verteidigungsministerium versprach am Dienstag eine scharfe Reaktion auf jegliche Versuche Georgiens, Gewalt gegen die Friedenstruppen und die russischen Bürger in den nicht anerkannten Republiken Abchasien und Südossetien anzuwenden.

Tiflis behauptet, dass die jüngsten Schritte Russlands wie die Aufstockung der Friedenstruppen, das Risiko einer militärischen Konfrontation in der Konfliktzone erhöhe.

„Russland plant keinen Krieg gegen Georgien. Wir führen zahlreiche Fakten an, die davon zeugen, dass die georgische Führung Pläne für eine militärische Lösung der Probleme um Abchasien und Südossetien ausheckt. Die georgische Führung kauft direkt oder geheim eine große Menge von Offensivwaffen auf“, sagte Lawrow.

Der russische Außenminister hob hervor, dass Georgien gegen Vereinbarungen verstößt, die mit dem Kodori-Tal zusammenhängen, wo sich georgische bewaffnete Einheiten gemäß einer Resolution des UN-Sicherheitsrats nicht aufhalten dürfen.

Lawrow sagte darüber hinaus, dass er EU-Vertretern zahlreiche Materialien übergeben habe, die bezeugen, dass Tiflis gegen etliche Vereinbarungen verstöße.

Das russische Außenministerium hatte zuvor erklärt, dass die Schritte Moskaus auf den Schutz der Rechte der russischen Bürger in den nicht anerkannten Republiken gerichtet sind, an deren Grenzen Georgien seine militärische Präsenz verstärkt.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 30. April 2008




Politik der inszenierten Krise

Rußland verstärkt Truppen in Abchasien. Georgien: »Militärischer Aggression«

Von Knut Mellenthin **

Das aus neun Parteien bestehende georgische Oppositionsbündnis hat Präsident Michail Saakaschwili am Donnerstag vorgeworfen, den Konflikt mit Rußland aus wahltaktischen Gründen anzuheizen. In der Kaukasusrepublik wird am 21. Mai ein neues Parlament bestimmt. Die alleinregierende Nationalpartei könnte dann ihre absolute Mehrheit verlieren. Es wird damit gerechnet, daß die Opposition der Regierung, wie schon nach der Präsidentenwahl im Januar, massive Fälschungen vorwerfen wird.

Die Eskalation von Konflikten mit Rußland sei in Georgien inzwischen zum festen Ritual vor Wahlen geworden, sagte am Donnerstag der Vorsitzende der zum Oppositionsbündnis gehörenden Konservativen Partei, Kakcha Kukawa, in einem Fernsehinterview: »Saakaschwili ist zu jeder Art von Abenteuer und Provokation bereit, um seine Macht zu behalten«. Die Opposition, die nicht weniger nationalistisch, antirussisch und prowestlich ist als die regierende Nationalpartei, ist schon seit vergangenem Herbst auf Distanz zu Saakaschwilis Politik der inszenierten Krisen gegangen.

Jüngster Anlaß: Rußland hatte am Dienstag angekündigt, zusätzliche Truppen in die Anfang der 90er Jahre von Georgien abgefallene Republik Abchasien zu schicken. Begründet wurde das mit »destabilisierenden Maßnahmen der georgischen Seite«. Darunter fallen unbemannte Spionageflüge über Abchasien und die Verstärkung des georgischen Militärs im Oberen Kodori-Tal. Georgien hatte diesen Teil Abchasiens im Juli 2006 besetzt und plant dort die Installation einer Gegenregierung. Das Gebiet liegt nur 50 Kilometer von der Hauptstadt Suchumi entfernt und stellt einen strategisch erstklassigen Ausgangspunkt für Militäroperationen gegen die abtrünnige Republik dar.

Russische Soldaten befinden sich als Friedenstruppe der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) aufgrund des abchasisch-georgischen Waffenstillstandsabkommens von 1994 in der Republik. Einem damaligen Beschluß der GUS zufolge soll ihre Stärke 2500 bis 3000 Mann betragen. Moskau hat erklärt, diesen Höchstwert auch durch die Verstärkung nicht zu überschreiten. Inzwischen sind die zusätzlichen Truppen im Bezirk Tkwarcheli eingetroffen, der südlich des Oberen Kodori-Tals liegt.

Die georgische Regierung verurteilt die russischen Maßnahmen als »militärische Aggression« und fordert ein internationales Eingreifen. Am weitesten ging Ministerpräsident Lado Gurgenidse: »Von nun an werden wir jeden russischen Soldaten, der nach Abchasien kommt, als illegal und potentiellen Aggressor betrachten.« Gleichzeitig hat Georgien die Verhandlungen über Rußlands Beitritt zur Welthandelsorganisation unterbrochen. Rußland kann nur beitreten, wenn alle bisherigen Mitglieder zustimmen. Georgien und Saudi-Arabien sind die letzten Staaten, die immer noch blockieren.

** Aus: junge Welt, 3. Mai 2008


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