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"Wir werden nicht nach Georgien zurückkehren"

Warum Südossetien nach Unabhängigkeit von Tbilissi strebt. Ein Gespräch mit Präsident Eduard Kokoity *

* Eduard Kokoity (42) wurde 2001 zum Präsidenten der Republik Südossetien gewählt



Ihr Land hat sich de facto von Georgien losgetrennt und will das nun auch de jure tun. Warum wollen die Südosseten ihr Selbstbestimmungsrecht unbedingt außerhalb Georgiens realisieren, obwohl sich Tiblissi bereit erklärt hat, Südossetien einen autonomen Status einzuräumen?

Wir wären bereit gewesen und haben das 1992 auch bekundet, unsere nationale Selbstbestimmung als autonomer Teil Georgiens zu verwirklichen. Aber Georgien hat die südossetische Autonomie immer wieder untergraben. Die in Tiblissi herrschenden Kräfte agieren außerhalb der Verfassung. Sie betreiben eine willkürliche Politik. Die Verhältnisse in Georgien entwickeln sich nicht auf rechtsstaatlicher Grundlage. Hier erfolgen Veränderungen stets über einen Umsturz. Diese Unberechenbarkeit verheißt einem kleinen Land wie dem unseren keine gedeihliche Entwicklung und bedroht uns in unserer Existenz als Nation. Ganz anders wie das in Europa aufgenommen wird, handelt es sich bei den von den georgischen Führungskräften ausgelösten Konflikten um keine Konflikte zwischen Völkern. Das wirkliche Problem stellt der georgische Nationalismus dar. Deshalb kämpfen wir auch nicht gegen das georgische Volk, sondern gegen den Nationalismus seiner Führung.

Wie äußerst sich der georgische Nationalismus?

Als Völkermord. Innerhalb der letzten hundert Jahre haben die georgischen Nationalisten zweimal einen Genozid am ossetischen Volk verübt. Das erste Mal waren es die georgischen Menschewiki, die in den 1920er Jahren versucht haben, die ossetische Nation auf dem Boden Georgiens zu vernichten, als sie uns das georgische Alphabet und das georgische Schulwesen aufzuzwingen versuchten. Im Krieg, den die georgischen Faschisten 1992 gegen uns begannen, haben sie 117 südossetische Dörfer zerstört, während von unserer Seite kein einziges georgisches Dorf angegriffen wurde. Damals gab es einen Beschluß der staatlichen und religiösen Führung Georgiens, daß südossetische Frauen in Familien mit mehr als zwei Kindern sterilisiert oder aus dem Land vertrieben werden sollten. Ilja II., das religiöse Oberhaupt Georgiens, erklärte, daß jeder, der einen georgischen Menschen töte, auch wenn er selbst angegriffen wurde, des Teufels sei. Niemand kann uns dazu zwingen, in einem Staat zu leben, in dem das Völkerrecht und die Menschenrechte außer Kraft gesetzt sind.

Aber rechtfertigt all das den Vorwurf des Völkermordes?

Vor dem Konflikt gab es in Südossetien 150000 Einwohner. Das waren in der Mehrheit friedliche Bauern, denen es damals nicht in den Sinn gekommen wäre, einen unabhängigen Staat in Südossetien zu fordern. Nach den ethnischen Säuberungen leben nur noch 30000 Osseten auf unserem Territorium. Sie stimmten am Sonntag über die Zukunft des südossetischen Volkes ab.

Handelt es sich bloß um einen ethnischen Konflikt oder stehen nicht auch unterschiedliche gesellschaftspolitische Optionen zur Debatte? Das autonome Gebiet Südossetien hatte 1989 den Austritt Georgiens aus der UdSSR nicht anerkannt und macht heute den Eindruck eines letzten Streifens sowjetischer Zivilisation inmitten der postsowjetischen Geographie.

Dem kann ich nicht zustimmen. Auch bei uns ist heute der Lebensstandard höher als zu sowjetischen Zeiten. Die sowjetische Zivilisation ließ der nationalen und auch individuellen Entfaltung wenig Platz. Deshalb ist der beste Teil der südossetischen Intelligenz abgewandert. Heute hindert uns nicht nur die militärische Aggression Geor­giens an einer besseren Entwicklung. Am meisten leiden wir unter der über uns verhängten ökonomischen und politischen Blockade.

Die Probleme in der Kaukasus-Region ergeben sich nicht zuletzt aus der US-amerikanischen Hegemonialpolitik. Gibt es in dieser weltpolitischen Konstellation eine Zukunft für Südossetien?

Ziel unserer nationalen Bestrebungen ist die Vereinigung von Süd- und Nordossetien. Für uns entscheidend ist, daß wir unsere Sprache und Kultur erhalten. Und daß sich unsere Re­gion ökonomisch entwickelt.

Liegt die Zukunft Gesamt-Ossetiens in der Russischen Föderation?

Beim ersten Referendum 1992 wurden zwei Fragen gestellt. Sind Sie für die Unabhängigkeit Südossetien? Und: Sind Sie für die Vereinigung von Süd- und Nordossetien? Südossetien ist von Georgiens aggressiver Politik abhängig geblieben. Beim jetzigen Referendum haben wir nur eine Frage gestellt: Wollen Sie, daß Südossetien ein unabhängiger Staat ist und dieser die Anerkennung der internationalen Gemeinschaft findet? Wir sind bereit, im Rahmen der internationalen Staatenwelt unseren Teil der Verantwortung zu übernehmen. Das gleiche verlangen wir auch von der internationalen Gemeinschaft. Dazu müßte sie ihre Politik der doppelten Standards aufgeben. Wir werden nicht nach Georgien zurückkehren. Sie haben selbst beobachten können, wie hoch die Wahlbeteiligung beim Referendum war.

Fühlen Sie sich von Putins Politik unterstützt?

95 Prozent der Bürger Südossetien sind auch russische Staatsbürger. 97 Prozent von ihnen haben bei den letzten russischen Präsidentenwahlen für Wladimir Putin gestimmt.

Interview: Werner Pirker und Sebastian Baryli, Zchinwali

Aus: junge Welt, 14. November 2006

Keine Demokratie

Westen erklärt Wahlen in der aus Georgien ausgetretenen Republik Südossetien als nicht zulässig. Russische Duma begrüßt Votum

Von Werner Pirker, Zchinwali

Es ist nicht das erste Mal, daß in Südossetien ein Referendum über die staatliche Unabhängigkeit durchgeführt wurde. Ein solches war bereits 1992 abgehalten worden, wobei die Stimmberechtigten damals nicht nur für die Lostrennung von Georgien votierten, sondern auch für die Vereinigung mit Nordossetien. In der Volksabstimmung vom vergangenen Sonntag wurde die Vereinigungsfrage nicht gestellt. Diesmal ging es um die Bestätigung der Eigenstaatlichkeit des sich formal im Bestand Georgiens befindlichen Gebietes und darum, die internationale Staatenwelt auf die Anerkennung der »Republik Südossetien« und ihrer gewählten Machtorgane zu verpflichten.

Die westlichen Hegemonialmächte ließen sich allerdings durch die fast 100prozentige Willensbekundung der südossetischen Bevölkerung für »einen unabhängigen Staat, der die Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft findet«, wenig beeindrucken. USA und EU leugnen nicht nur die faktische Existenz einer souveränen südossetischen Staatlichkeit. Sie haben auch das Referendum für illegitim erklärt. Aus diesem Grund hat die OSZE entgegen ihrer sonstigen Gepflogenheit, Wahlbeobachter zur Feststellung von Unregelmäßigkeiten zu entsenden, Abstand genommen und damit das Ergebnis des Referendums und der gleichzeitig abgehaltenen Präsidentenwahl von vornherein als null und nichtig erklärt. Im Klartext heißt das: In Südosse­tien haben demokratische Wahlen nicht stattzufinden.

Dennoch haben sich, der Einladung einer in Warschau ansässigen »Internationalen Organisation für Wahlbeobachtung« folgend, 28 internationale Beobachter in der südossetischen Hauptstadt Zchinwali eingefunden, darunter ein Abgeordneter der venezolanischen Nationalversammlung, zwei jordanische Parlamentarier und ein kosovo-albanischer Exminister. Die Anwesenheit des Albaners schien der Wahlbeobachtungsorganisatoren deshalb wichtig zu sein, weil das Kosovo aus ihrer Sicht einen Präzendenzfall für die internationale Anerkennung der Lostrennung aus bestehenden Staatsverbänden darstelle. Darauf bezieht sich auch der von südossetischer Seite vorgebrachte Vorwurf der doppelten Standards: Während mit dem Westen verbündete Sezessionskräfte wie die UCK im Kosovo gefördert werden, bleibt Bestrebungen zur nationalen Lostrennung von prowestlichen Staaten wie Georgien die internationale Anerkennung versagt.

Der Beobachter aus der südserbischen Provinz weigerte sich freilich in einer Pressekonferenz, die Ergebnisse seiner Beobachtungen mitzuteilen und wußte lediglich festzustellen, daß die Albaner im Kosovo die Verhältnisse in Südossetien ebensowenig kennen würden wie die Südosseten die Verhältnisse im Kosovo.

Tiblissi, das die Volksabstimmung in Südossetien für illegal erklärte, organisierte seinerseits unter der georgischen Bevölkerung der abtrünnigen Republik ein Referendum über den Weiterverbleib bei Georgien.

Die russische Staatsduma hat die Legitimität des südossetischen Referendums anerkannt und sieht auch keinen Grund dafür, die Ergebnisse der Volksabstimmung und der Präsidentenwahl in Zweifel zu ziehen. Die Anerkennung der Unabhängigkeit Südossetiens beinhalte auch dessen Recht, sich einem anderen Staat anzuschließen, erklärte der Vizepräsident der Duma, Oleg Morosow. Das bedeute jedoch nicht, daß der Beitritt des Gebiets zur Russischen Föderation bereits beschlossene Sache sei, fügte er hinzu.

Aus: junge Welt, 14. November 2006


Georgien: Westanbindung

Saakaschwili wirbelt bei der EU in Strasbourg

Ungeachtet der ständigen Provokationen gegen Rußland hat der georgische Präsident Michael Saakaschwili eindringlich für eine Normalisierung der Beziehungen seines Landes zum großen Nachbarn plädiert. Moskau müsse auf den »Weg des Dialogs zurückkehren«, sagte er am Dienstag vor dem Europaparlament in Strasbourg. Es müsse verhindert werden, daß sich die Beziehungen beider Länder »unwiederbringlich verschlechern«. Die Georgier seien nicht antirussisch und würden dies auch nie sein, behauptete der in den USA aufgewachsene georgische Staatschef. Die Georgier wollten vielmehr in Harmonie mit ihren Nachbarn leben, behauptete Saakaschwili, dem die Europaabgeordneten nach seiner fast 45minütigen Rede stehende Ovationen zollten.

Saakaschwili warf Rußland vor, mit seinen Wirtschaftssanktionen eine Politik der »Blockade« gegenüber Georgien zu betreiben. Dies sei aber kontraproduktiv, warnte er. Die Sanktionen würden dazu führen, daß Georgien noch rascher die Anbindung an den Westen suche. Tatsächlich strebt Saakaschwili die Aufnahme seines Landes in die NATO an.

Trotz des georgischen Säbelrasselns gegenüber den »abtrünnigen Teilrepubliken« Südossetien und Abchasien wies Saakaschwili zugleich den Vorwurf zurück, er wolle den Konflikt mit militärischen Mitteln lösen. In Südossetien und Abchasien lebten »kleine Minderheiten«, die zu einem »Unterpfand eines großen Spiels« geworden seien, sagte er unter Anspielung auf die russische Unterstützung für die beiden Teilrepubliken. Er habe ihnen »weitestmögliche Autonomie« angeboten. Dieses Angebot gelte noch immer.

Aus: junge Welt, 14. November 2006




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