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Georgien kontra Russland: Scheidung ist unvermeidlich

15 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion gibt es kein beständiges und stabiles System der Beziehungen zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken

Von Juri Filippow, Moskau *

Der große "Spionage-Skandal" in Georgien mit der Verhaftung und der späteren Freilassung von russischen Militärs, die Blockade des russischen Stützpunkts, die Abberufung der russischen Diplomaten aus Tiflis, Russlands finanzielle und wirtschaftliche Sanktionen gegen Georgien werfen Fragen auf, die weit über den Rahmen der jüngsten Eskalation der russisch-georgischen Spannungen hinaus gehen.

Das Problem besteht darin, dass auch 15 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion im postsowjetischen Raum kein beständiges und stabiles System der Beziehungen zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken entstehen konnte. Und in erster Linie das System der Beziehungen zwischen Russland und den so genannten "Versager-Staaten", d.h. Ländern mit einer äußerst schwachen und von der Außenwelt völlig abhängigen Wirtschaft und mit einer unberechenbaren Politik sowie ernsthaften territorialen Problemen.

Georgien mit seiner auch nach postsowjetischen Maßstäben außerordentlichen Armut sowie einem schwachen und korrupten politischen Regime, im permanenten Konflikt mit seinen abtrünnigen autonomen Republiken Abchasien und Südossetien, steht in dieser Reihe wohl ganz oben.

Ein anderes krasses Beispiel ist Moldawien, das längst die Kontrolle über Transnistrien verloren hat und in wirtschaftliche Krise und Arbeitslosigkeit versinkt sowie für Jahrzehnte keine Aussicht hat, zu einem normalen europäischen Staat selbst zweiten oder dritten Ranges zu werden.

Unter einem bestimmten Vorbehalt kann man zu diesen Ländern auch die Ukraine hinzurechnen. Zwar verbessert sich hier die Lage allmählich, doch das Land bleibt für politische Krisen, für ethnische und kulturelle Konflikte zwischen Ost- und Westukraine immer noch äußerst sensibel. Ganz zu schweigen von der Unausgewogenheit der ukrainischen Wirtschaft, die dringend billige Energiequellen braucht, sie aber selbst nicht besitzt und in absehbarer Zukunft auch nicht besitzen wird.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion sahen sich diese Länder objektiv unter den Bedingungen der politischen und wirtschaftlichen Schwäche und Einsamkeit. Sie lösten sich von Russland, verfehlten jedoch den Weg in den Westen. Eine provisorische Rettung sahen ihre politischen Regimes in der zur Schau gestellten Konfrontation mit Russland, in der Suche nach einem äußeren Feind im Osten, was ihnen anscheinend wenigstens erlaubte, das eigene Volk besonders bei ernsthaften wirtschaftlichen Missständen zu konsolidieren.

In den 90er Jahren war diese Taktik in der Regel recht erfolgreich. Sie stoß auch bei den EU-Ländern und den USA auf Verständnis, wo damals das Image von Russland als imperiale Macht, die die Freiheit seiner kleinen Nachbarn bedroht, sehr verbreitet war. Russland selbst war in der Zeit allzu sehr in innere Probleme vertieft, um auf die ungerechten Angriffe angemessen zu reagieren.

Doch die Lage änderte sich. Die politische Situation in Russland ist stabil, die Wirtschaft wächst in hohem Tempo. Außerdem ist ein äußerst wichtiger Erfolg in den internationalen Beziehungen erzielt worden: Nach fast 100 Jahren Abwesenheit kehrte Russland in die globale Arena als ein verantwortungsvoller Partner der führenden Weltmächte. Das wird besonders deutlich am Beispiel seiner aktiven Teilnahme an der Arbeit der G8. Die Auszeichnung des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Frankreichs höchstem Orden der Ehrenlegion zeugt auch davon, dass das alte Europa Russlands Rückkehr in die große Politik nicht für eine zeitweilige, zufällige oder konjunkturbedingte hält.

Im Ergebnis erscheint das antirussische Vokabular, die demonstrativen Feindseligkeiten Russland gegenüber zwangsläufig als ein Anachronismus. Doch offen gesagt, wenn man die Dinge global betrachtet, darf man Russlands kleine und schwache Nachbarn dafür nicht einmal allzu streng verurteilen. Viele kleine und schwache Nachbarn von anderen Großmächten benehmen sich ähnlich. Wahrscheinlich ist es nicht nur auf eine exzentrische Veranlagung deren Politiker, sondern auch auf eine objektive politische Logik zurückzuführen.

Trotzdem ist ein derartiger politischer Stil aussichtslos. Und im vorliegenden Fall mit Russland und Georgien wird dies immer deutlicher. Wie sehr auch die georgische Führung sich bemüht, den abchasischen und südossetischen Separatismus mit den russischen "Umtrieben" zu erklären, wurzelt er in der Tat in einem Unwillen des abchasischen und des südossetischen Volkes im Bestand Georgiens zu leben. Dieser Unwille hat auch seinen Ursprung in den Kriegen, die die georgische Führung in Abchasien und Südossetien geführt und so ruhmlos verloren hatte. Und zwar in militärischer wie auch in politischer Hinsicht.

Tiflis weiß nur zu gut, dass es nicht gelingen wird, die von dem sowjetischen Georgien abgenabelten Republiken auf dem Verhandlungswege zurückzugewinnen. Weder die Abchasen noch die Osseten werden darauf eingehen. Einen Krieg zu entfesseln und ihn zu gewinnen? Dafür reichen die Kräfte nicht. Also greift man eben zu dem altbekannten antirussischen Trumpf. Doch diesmal ist die Sache so, dass Russland beschlossen hat, zu antworten. Russlandfeindlichkeit von kleinen Staaten, die sich bemühen, die inneren Probleme zu lösen, indem sie ihren großen Nachbarn im Norden beschmutzen, von dem sie ziemlich stark abhängen, ist eine unerhörte Abnormität. Außerdem stört diese Russlandfeindlichkeit, die Beziehungen zwischen den Staaten im postsowjetischen Raum zu stabilisieren und zu regeln. Und auch das zu verwirklichen, was Wladimir Putin als Politik der "zivilisierten Scheidung" bezeichnete.

Eine Scheidung also, bei der jeder selbständig seine Probleme überwindet und für alles einen Marktpreis zahlt.

In einem gewissen Maße war die kritische Zuspitzung der Spannungen in den russisch-georgischen Beziehungen auch erforderlich. Die Krise ermöglicht, die Dinge auf ihre Plätze leichter und schneller zu stellen. Im Endergebnis werden Russland und Georgien womöglich sogar durch und durch transparente und rationelle Beziehungen entwickeln, die frei von dem politischen Theater, Erpressungen und Androhungen sein werden.

Doch zuerst muss man mit sehr unangenehmen Finanz- und Wirtschaftssanktionen fertigwerden, die von dem Unterhaus des russischen Parlaments, der Staatsduma, bereits gebilligt sind. Als erstes muss auch eine Phase der auf Eis gelegten Beziehungen hinter sich gebracht werden, was der georgischen Wirtschaft zwangsläufig einen Schlag versetzen und die Interessen von hunderttausenden Georgiern beeinträchtigen wird. Von den georgischen Bürgern, die keine Arbeit zu Hause gefunden haben und nach Russland gekommen sind, um ihr Brot zu verdienen. -All das wird nun auf die Waage gelegt, und letztendlich soll sich ein neues Gleichgewicht in den zwischenstaatlichen Beziehungen ergeben. Anders kann es nicht mehr gehen.

* Quelle: RIA Novosti, 21. Oktober 2006;
http://de.rian.ru



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