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Hellenische Testkaninchen

Mogelpackung Hilfspaket: Das Europa der Konzerne will im globalen Rennen bleiben und seine Einheitswährung retten. Der Rest ist ein Experiment mit Menschen

Von Klaus Fischer *

Am Rosenmontag (20. Feb.) wurde gerettet. Unter dem Beifall einiger Claqueure rollte von Brüssel aus ein weiterer Hilfszug Richtung Athen. »Griechenland ist unabsteigbar«, skandierte ein handverlesenes Publikum und dessen Dirigenten hofften auf einen Marketingeffekt. Vergeblich. Am Dienstag kamen die Zweifel. Und obwohl deren materielle Ursachen bereits vor dem Verpacken der neuen Wundertüte bekannt waren, spielten die Beteiligten die Farce Zug um Zug durch. Hauptanlaß für die »plötzlich« aufkommenden Bedenken waren aktuellen Zahlenspiele zur Wirtschaftslage Griechenlands.

Die Einsatzgruppe der Troika aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank hatte aus Athen Daten gemeldet, deren Analyse nur einen Schluß zuläßt - an der Pleite führt kein Weg vorbei. Hauptgrund: Die griechische Wirtschaftsleistung verringerte sich mit rasantem Tempo, weitaus stärker als bisher angenommen. Im Oktober hatten die Troika-Prüfer ihre Prognose für den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im selben Jahr von 2,8 auf 5,5 Prozent korrigiert. Inzwischen rechnen sie mit 6,1 Prozent, wie die Nachrichtenagentur dapd aus der vorläufigen Schuldentragfähigkeitsanalyse zitierte. Für 2012 wird ein Schrumpfen des BIP um 4,3 Prozent statt wie bisher angenommen um drei Prozent erwartet, noch im letzten Sommer hatten die Fachleute von 0,7 Prozent Wachstum geträumt.

In den kommenden Jahren dürfte demnach die anhaltende Rezession alle Hoffnungen auf ein Gelingen des »Rettungsplanes« zunichte machen. Der basiert nämlich auf der Annahme, daß die Wirtschaftsleistung ab 2013 wieder wachsen wird und der Staat im Jahr 2020 seine Verbindlichkeiten auf dann vermeintlich »tragbare« 120,5 Prozent des BIP reduziert haben könnte. Statt dessen wird Griechenlands Wirtschaftsleistung nach aktuellen Annahmen 2013 allenfalls stagnieren. Unter derartigen Voraussetztungen erübrigt sich die Kommentierung der Prognose, die jetzt für 2014 ein Wachstum von 2,3 Prozent unterstellt.

Wie in einer verknüpften Excel-Tabelle verschlechtern sich damit auch alle anderen Zahlen in der aktuellen Wirtschaftsprognose für Athen: Die Neuverschuldung des Staates steigt, eine Reduzierung auf etwa 120 Prozent in acht Jahren ist Illusion. Erhöhen wird sich vor allem die Summe der notwendigen Hilfszahlungen, woher auch immer sie kommen mögen.

Dabei ist nicht die Rede von Unterstützung für die Mehrzahl der griechischen Bürger. Denen kommt in den Planspielen der Eurokraten allenfalls die Rolle von Versuchskaninchen zu. Lohnkürzungen werden diktiert - ohne Einfluß auf die Preise zu haben. Auch beim Rentenklau hält sich die Obrigkeit strikt an die Grundregeln des Klassenkampfes von oben. Hohe Pensionen werden gering, niedrige stark gekürzt. Wer will auch einem verdienten Admiral die Hälfte der Altersbezüge wegnehmen, wo er sich doch immer für den Kauf deutscher U-Boote eingesetzt hat? Selbst die bekennenden Soziopathen in Brüssel und Washington (IWF) mußten Druck machen, damit Athens Oligarchen ihre Paladine in Regierung, Justiz und Militär nicht komplett von den Kürzungen ausnehmen.

Griechenlands Gewerkschaften und Linke Parteien wären schlecht beraten, wenn sie die Schuldigen an ihrer Misere ausschließlich in Berlin, Brüssel oder Paris suchten. Es gehört zum Kalkül der Herrschenden, in Krisensituationen die Völker gegeneinander aufzuhetzen. Daß ihnen dies trotz erwiesenem Können bei der Herbeiführung dieser Krisen und legendärer Unfähigkeit bei deren Lösung immer wieder gelingt, kann schon fast als Makel unserer Art angesehen werden.

Beispiel für kalkulierte Verantwortungslosigkeit ist der vom Europa der Konzerne geplante Ölboykott gegen Iran. Da wird dem potentiellen persischen Atomaufsteiger angekündigt, dessen Öl nicht mehr kaufen zu wollen. Doch die großsprecherisch inszenierte Aktion ist allenfalls ein Hungerstreik, für Griechenland aber womöglich ein »Todesfasten«. Athen nimmt Teheran mehr als ein Drittel des nach Europa gehenden Erdöls ab. Sollen die Griechen den dringend benötigten Energieträger dann am »freien Markt« kaufen? Schon jetzt wird der Preis des Petroleums von Spekulanten in neue Rekordhöhen getrieben. Es ist kaum auszudenken was geschieht, wenn das Land mit der Hälfte oder weniger des bisher verbrauchten Öls auskommen müßte.

Europas Herrscher dürften das als Kollateralschaden akzeptieren. Sie und ihre Helfer haben derzeit alle Hände voll zu tun, damit ihnen nicht der ganze Laden um die Ohren fliegt. Die Schuldenkrise ist, trotz zahlreicher Facetten, hauptsächlich ein transatlantischer Wirtschaftskrieg, ein Kampf um eines der wichtigsten Werkzeuge beim Ausplündern der Welt - um eine dominante globale Währung. Washington und Wall Street, assistiert von ihren Komplizen im Londoner Ausguck, üben gewaltigen Druck aus, um den Euro als Konkurrenten auszuschalten. Das könnte gelingen. Obwohl Dollar und Pfund mindestens ebenso marode daherkommen wie der Euro, die Schulden beider Kontrahenten einander in nichts nachstehen, kann die Dollar-Fraktion auf den Vorteil bauen, jahrzehntelang beherrschend zu sein. Den spielt sie derzeit aus - nicht ohne gleichzeitig am Ast zu sägen, auf dem sie selbst hockt.

* Aus: junge Welt, 23. Februar 2012


"Irgendwann reicht die Kraft nicht mehr"

In Griechenland kommen viele nicht mehr ohne Hilfe von Verwandten und Freunden über die Runden. Ein Gespräch mit Katerina Nika **

Katerina Nika aus Athen ist 42 Jahre alt und alleinerziehende Mutter eines siebenjährigen Sohnes.

In Griechenland wird gespart, bis es knirscht - wie hat die Krise Sie persönlich getroffen?

In meinem Ausbildungsberuf als biomedizinische Helferin habe ich nie Arbeit gefunden. Die letzten drei Jahre war ich im Lager einer kleinen Bekleidungsfirma - für etwa 725 Euro netto im Monat. Meine zwölfjährige Berufserfahrung aus meiner vorherigen Arbeit bei einer branchenfremden Firma galt nicht, deswegen mußte ich wieder mit dem Mindestlohn anfangen. Lohnminderungen hat es bei der Firma zwar nicht gegeben, wohl aber Entlassungen. Mit 2000 Euro Abfindung, das ist gesetzlich vorgeschrieben, wurde ich um Weihnachten herum auf die Straße gesetzt.

Was haben Sie daraufhin gemacht?

Ich habe sofort einen Antrag auf Arbeitslosengeld gestellt, bis heute aber noch keinen Cent gesehen. Wenn gezahlt wird, gilt auch für mich die Absenkung des Arbeitslosengeldes von 461 auf 323 Euro.

Es ist unglaublich schwierig, Arbeit zu finden. Ich habe alle Bekannten informiert, melde mich auf jede Anzeige - aber überall höre ich nur, die Stelle sei vergeben. Man fühlt sich unfähig, kann zu nichts etwas beitragen, kann sich nicht einmal mehr aus eigener Kraft ernähren - ein schreckliches Gefühl! Wenn ich allein wäre, wäre es nicht ganz so schlimm: Ich habe keine Schulden, was zu essen würde ich auftreiben, zur Not auf der Parkbank schlafen. Aber ich habe ein Kind, da sieht alles anders aus.

Kann Ihre Familie helfen?

Ich bin nicht die einzige Arbeitslose in der Familie. Mein Bruder mußte vor zwei Jahren seinen Kiosk aufgeben und hat seitdem keine Arbeit mehr gefunden. Wer stellt schon einen 48jährigen ein, wenn ein 20jähriger viel billiger ist? Mein Sohn und ich leben zur Zeit von meiner Abfindung und der Rente meiner Mutter, die 600 Euro im Monat bekommt. Sie hat schwere Zeiten durchgemacht und hart gearbeitet, damit sie sich im Alter selbst versorgen kann. Sie hat jahrelang gekämpft, damit wir auf eigenen Füßen stehen können, und nun muß sie ihre Kinder wieder durchfüttern. Da wir kein eigenes Haus haben, gehen allein 400 Euro im Monat für die Miete drauf. 120 Euro kostet die Stromrechnung, alle zwei Monate. Und dieses Jahr soll der Strom auch noch um 15 Prozent teuer werden! Momentan leiste ich mir noch den Luxus Internet, aber das muß ich bald aufgeben.

Wie geht Ihr Kind mit der Situation um?

Andere Aktivitäten, als daß mein Sohn die Schule besucht, können wir uns nicht leisten. Dort lernt er aber nicht viel und Geld, etwa für privaten Unterricht in einer Fremdsprache, habe ich nicht. Er interessiert sich für Musik, aber ich kann keinen Unterricht finanzieren. Ich kann ihm auch nicht die Mitgliedschaft in einem Sportverein bezahlen. Nichts geht mehr.

Hat die Gemeinde keine kostenlosen Angebote?

(Lacht) Die Gemeinde versucht zur Zeit, ihre Sensibilität zu zeigen, indem sie Mahlzeiten an unterernährte Kinder verteilt. Mehr ist nicht vorgesehen. Geld gibt es allerdings genug für die Polizei, damit sie Migranten und Obdachlose von den Plätzen vertreibt, weil sie das Stadtbild stören.

Wie und wovon lebt man unter diesen Umständen?

Von Solidarität. Wenn wir Schulden haben, dann bei Verwandten und Freunden. Jeder hilft, so gut er kann. Ein Freund könnte meinem Sohn z.B. Nachhilfeunterricht geben. Aber das befriedigt mich nicht, es reicht auch nicht zu wissen, daß man schon irgendwo eine Mahlzeit findet, wenn man Hunger hat. Wir können nicht die Probleme lösen, die durch den Abbau des Sozialstaats über uns hereinbrechen. Irgendwann werden unsere Kräfte nicht mehr reichen. Natürlich gibt es Solidarität - die kommt aber nur von Lohnabhängigen, die selbst unter den Einsparungen leiden.

Wovon versprechen Sie sich eine Änderung?

Ich erwarte nichts von Wahlen. Umfragen sagen den linken Parteien zwar einen hohen Zuspruch voraus - sie gehen aber getrennte Wege. Aber wahrscheinlich läuft es wieder auf eine Koalition unter den ewig Gleichen hinaus, und alles ist so wie vorher.

Ich war bei den »Empörten« auf dem Syntagmaplatz, bringe mich in Stadtteilversammlungen ein. Die Linke muß endlich ihre Verantwortung übernehmen und sich den Problemen stellen

Interview: Heike Schrader, Athen

* Aus: junge Welt, 23. Februar 2012

Das Allerletzte

Griechisches Kochbuch gibt Tipps für Hungernde

Angeblich der große Renner in Griechenland: Ein Kochbuch von Eleni Nikolaidu mit Rezepten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, als das griechische Volk Opfer der deutschen Aggression und der Nazi-Besatzung geworden war. Bohnensuppen ohne Bohnen werden dort etwa empfohlen, oder das Einsammeln von Krümeln, die auf dem Tisch übrig bleiben, um sie später wieder verwerten zu können.
Vor 70 Jahren wurden deutsche Panzer, Flugzeuge und Soldaten losgeschickt, um Griechenland in die äußerste Not zurück zu bomben. Heute besorgen das die Banken und die Europäische Union unter maßgeblicher Unterstützung der deutschen Regierung.




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