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Die Goldene Morgenröte tötet

Der Grieche Giorgos Mitralias über die zunehmende Gefahr der neofaschistischen Partei *


Die rechtsradikale Partei Chryssi Avgi (Goldene Morgenröte) verbreitet in Griechenland Angst und Schrecken. Über die immer brutaleren Attacken der Neofaschisten sprach Stephan Lindner für »nd« mit Giorgos Mitralias. Der 65-Jährige ist Journalist und engagiert sich unter anderem im griechischen Komitee gegen die Schulden.


nd: Warum darf die Gefahr von rechts nicht unterschätzt werden?

Mitralias: Die rechtsradikale griechische Partei Goldene Morgenröte kam bei den letzten Parlamentswahlen im Juni von nichts auf sieben Prozent und steht jetzt in Umfragen sogar bei zwölf. Sie ist damit die am schnellsten wachsende Partei, die in aktuellen Umfragen bereits mehr Stimmen auf sich vereint als die sozialdemokratische PASOK, die vor knapp drei Jahren noch mit 45 Prozent ihren größten Wahlerfolg feierte.

Wofür steht diese Partei?

Sie ist ein reiner Neonazi-Klon. Entscheidender als ihr Wahlprogramm ist, was ihre Mitglieder und Anhänger jeden Tag auf der Straße machen. Man kann es in einem Wort zusammenfassen: Töten. Die ersten, die für ihre miesen Kampagnen bezahlten, waren die Migranten. Die Anhänger der Goldenen Morgenröte begehen ihre Morde öffentlich, denn sie wissen, dass sich das bei Wahlen auszahlt. Sie bedrohen Führer und Aktivisten linker Parteien ebenso wie Roma, nationale Minderheiten, Homosexuelle und Behinderte. Aber die Goldene Morgenröte ist auch eine Massenbewegung, die sich radikal gegen das gegenwärtige System richtet. Sie bekämpft die Memoranden und setzt sich für einen erlass der Schulden Griechenlands ein.

Wissen Sie von konkreten Vorfällen, bei denen Menschen umgekommen sind?

Natürlich, das passiert ständig. Und es liegt leider in der Natur des Menschen, sich daran zu gewöhnen. Am Anfang war es für alle ein großer Schock, wenn jemand zu Tode kam, jetzt aber wird kaum noch darüber gesprochen. Vor kurzem griff eine Gruppe von 30 Personen ein von Migranten bewohntes Haus in Kalamata an, einer kleinen Provinzstadt im Süden der Peloponnes. Sie nannten sich SA und legten Feuer. Als die Polizei kam und drei verbrannte Migranten fand, begann sie nicht die Täter zu verfolgen, sondern verhaftete die übrigen Migranten. Das ist nur vor dem Hintergrund zu verstehen, dass bei den letzten Wahlen jeder zweite Polizist für die Goldene Morgenröte gestimmt haben soll.

Was muss gegen die Gewalt der Faschisten unternommen werden?

Wichtig wäre, eine Selbstverteidigung zu organisieren. Leider ist das bei den linken Parteien in Griechenland ein Tabu. Niemand spricht darüber. Dabei gibt es im ganzen Land immer mehr Zonen, die von den Neonazis kontrolliert werden. Wir können viel von Streiks, Kämpfen und Demonstrationen erzählen, wenn wir nicht einmal unser Haus verlassen können, um uns zu treffen und das zu organisieren. Leider gibt es kein kollektives Gedächtnis innerhalb der Arbeiterbewegung zu dem, was sich in den 30er Jahren in Italien und Deutschland ereignet hat.

Glauben Sie, dass sich in Griechenland gerade dieser Teil der Geschichte wiederholt?

Ja, und zwar leider nicht als Farce, sondern als große Tragödie. Unter den sehr speziellen Umständen, die in Griechenland gerade herrschen - ich vermute, Deutsche können das leichter verstehen - durchleben wir gerade die letzten Monate der Weimarer Republik. Und das im Jahr 2012, mitten in Europa! Die Menschen stehen vor existenziellen Problemen. Sie wollen überleben. Man muss sich nur die extremen Wählerwanderungen anschauen, die zu dem kometenhaften Aufstieg der Goldenen Morgenröte geführt haben. Vor einem Jahr war das noch eine Gruppe von vielleicht 200 Studenten, jetzt ist sie in Umfragen schon die drittstärkste Partei und vielleicht bald nur noch einen Schritt von der Macht entfernt.

Welche Lehren müssen aus der Entwicklung in Griechenland gezogen werden?

Für viele mag das, was in Griechenland gerade passiert, exotisch erscheinen. Das war es für Griechen vor zwei Jahren auch. Aber ich weiß auch, dass es vor weniger als einem Jahr für französische Linke noch Science Fiction war, dass in Frankreich die Krise ausbrechen würde, von Spanien, Italien usw. ganz abgesehen. Griechenland ist derzeit ein Experimentierlabor. Was sich hier ereignet, kann auch schon bald anderswo in Europa passieren.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 12. Oktober 2012


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