Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

„In den Kliniken fehlt es an allem“

Mehr Kranke, weniger Geld. Dem griechischen Gesundheitswesen werden Mittel gekürzt, gespart wird dadurch dennoch wenig. Ein Gespräch mit Antonis Karavas *


Von den mit den Gläubiger Griechenlands ausgehandelten Austeritätsmaßnahmen ist auch das Gesundheitswesen betroffen. Wie ist die Situation dort?

Die Krise läßt die Zahl der Kranken wachsen. Depressionen, Selbstmordgefährdung, Drogenkonsum haben zugenommen. Aber auch bei körperlichen Krankheiten ist es schlimmer geworden. Griechenland hat keine Struktur für eine grundlegende Gesundheitsfürsorge. Viele Vorsorgeuntersuchungen z.B. werden von der Kasse nicht übernommen. Mit der Krise hat sich die finanzielle Situation für viele Griechen drastisch verschlechtert, mit der Konsequenz, daß man erst dann zum Arzt geht, wenn die Krankheit schon weit fortgeschritten ist. Und statt daß diese Menschen mit staatlichen Strukturen unterstützt und geschützt werden, werden die Aufwendungen im Gesundheitswesen ständig gesenkt.

Wie sieht die Situation im Krankenhaus konkret aus?

Es fehlt an allem, weil die Zulieferer nicht bezahlt werden und ihre Lieferungen einstellen. Es fehlen alltägliche Gebrauchsmittel, Verbände, Desinfektionsmittel, sogar das Essen für die Patienten muß teilweise von Verwandten gebracht werden. Operationen werden verschoben, weil Material fehlt. Ein tragisches Bild für das 21. Jahrhundert.

Auf der anderen Seite hat die Korruption nicht aufgehört. Immer noch werden Materialien und Medikamente zu völlig überhöhten Preisen eingekauft. Firmen bezahlten Ärzte, um ihre Produkte unterzubringen.

Die Regierung hatte 2010 angekündigt, den Bedarf für Krankenhäuser zentral einkaufen zu wollen. Was ist daraus geworden?

Nichts. Es wäre sehr gut, wenn zentral ausgeschrieben und eingekauft würde. Statt dessen kauft jedes Krankenhaus den eigenen Bedarf selbst ein. Eigentlich dürfen Krankenhäuser Bestellungen im Wert von über einer Million Euro nicht selbst tätigen. Aber um eine Kontrolle zu umgehen, werden solche Bestellungen einfach gesplittet. Das ginge auch anders, wie beispielsweise England zeigt. Dort werden Daten erhoben, wie viele Herzschrittmacher im Schnitt im Jahr gebraucht werden und entsprechend mittels einer zentralen Ausschreibung günstig eingekauft. Hier wird das nicht gemacht, denn dazu müßte man sich mit den Nutznießern von Korruption und Klientelwirtschaft anlegen.

Neue Austeritätsmaßnahmen sind in Planung, was kommt diesmal auf das Gesundheitswesen zu?

Vor allem sollen Krankenhäuser geschlossen oder zusammengelegt werden. Konkret ist geplant, von den 132 Kliniken in Griechenland 50 aus Kostengründen zu schließen. Kandidaten dafür sind vor allem Krankenhäuser in ländlichen Gegenden und kleinere Kliniken in Athen. Sie wurden unter dem Vorwand ausgewählt, daß sie nicht ausgelastet seien. Die entsprechenden Erhebungen sind nach Meinung der Gewerkschaft im Gesundheitswesen nicht richtig.

In die Diskussion geworfen wurde auch der Vorschlag, Aufwendungen nur bis zu einer Grenze von 1500 Euro jährlich ganz von der Kasse übernehmen zu lassen und darüber hinaus bis zu 50 Prozent Eigenzuzahlung einzuführen. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Dies ist ein absolut inakzeptabler Ansatz. Hier wird Gesundheit unter buchhalterischen Aspekten betrachtet. Das kann nicht sein. Chronisch Kranke, beispielsweise Nierenkranke, die regelmäßige Blutwäsche brauchen, hätten diese Grenze wohl bereits nach einem Monat überschritten. Einige Medikamente zum Beispiel gegen Krebs kosten Hunderte Euro. Ein Tag auf der Intensivstation kostet 700 bis 800 Euro. Soll jemand, der nicht zahlen kann, nach zwei Tagen aus der Intensivstation fliegen?

Griechenlands Aufwendungen für medizinische Versorgung sind unbestritten sehr hoch. Woran liegt das?

Man muß zwischen den Aufwendungen für die staatliche Gesundheitsfürsorge und denen für private Einrichtungen unterscheiden. In der staatlichen Gesundheitsfürsorge zeigen die Zahlen nämlich ein ganz anderes Bild. Während hier der Schnitt in der Euro-Zone bei zwölf Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) liegt, wurden in Griechenland schon vor der Krise nur sechs Prozent des BIP für die staatliche Gesundheitsfürsorge aufgewendet. Mit den Kürzungen sind wir mittlerweile bei etwa vier Prozent angelangt.

Insgesamt aber sind die Aufwendungen Griechenlands für Gesundheitsfürsorge sehr hoch, denn viel mehr Geld fließt an private Einrichtungen. Dies wurde im Zuge der Krise nicht verbessert, sondern sogar noch verstärkt. Wenn wir uns die Verträge der aus dem Zusammenschluß der bisherigen Einzelkassen geschaffenen neuen einheitlichen Krankenkasse mit privaten Einrichtungen ansehen, dann wird hier teilweise stark überteuert bezahlt. Anstatt die Tarife beispielsweise für eine Geburt in einer Privatklinik zu senken, bezahlt der Staat dort 4000 Euro, während ein Privatpatient nur 2000 Euro zahlt. Insgesamt bezahlten wir im privaten Sektor Beträge vergleichbar mit Ländern wie USA oder Mexiko, die ihre Gesundheitsfürsorge vollkommen privatisiert haben. Einige private Einrichtungen machen hohe Gewinne.

Wenn derart gar nicht gespart wird, worum geht es bei den Maßnahmen dann?

Es geht nicht nur um Kürzungen. Das Gesundheitswesen soll privatisiert werden. Bisher hat man beispielsweise die meisten Untersuchungen in Laboren der staatlichen Krankenkasse durchgeführt. Die haben keine Mittel und die Leute werden gezwungen, auf private Labore auszuweichen. Das kostet die Kassen viel mehr Geld, als wenn sie ihre eigenen Labore unterhalten würden. Wir haben also einerseits die drastischen Kürzungen und andererseits wird das Gesundheitswesen immer weiter privatisiert. Endziel ist die komplette Auslagerung des Gesundheitswesens ins Private.

Als Grund für die Misere der staatlichen Kassen wird von Regierung und Medien immer wieder die Tatsache angeführt, daß sich viele, vielleicht Tausende Griechen unberechtigterweise eine Invalidenrente beschaffen konnten. Sind die berühmt-berüchtigten »Scheinblinden mit Taxifahrlizenz« schuld an der drohenden Kassenpleite?

Diese Situation ist in Griechenland über Jahrzehnte geschaffen worden. Sie beruht auf einem falschen Verständnis von Sozialstaat, der sich hier zu einem Klientelstaat entwickelt hat. Das muß natürlich geändert werden. Aber statt gezielt dagegen vorzugehen, werden die Aufwendungen für alle gekürzt. Doch die von den Medien vorgenommene Gewichtung ist völlig falsch. Es wird so getan, als wären die ungerechtfertigt ausgezahlten Invalidenrenten die Ursache für die Krise der Krankenkassen. In Wirklichkeit handelt es sich dabei um einen Tropfen im Ozean. Einen viel größeren Teil macht die Hinterziehung von Beiträgen durch Unternehmen aus. Allein im vergangenen Jahr ging es dabei um einen Betrag von etwa acht Milliarden Euro. Unternehmer zahlen in großem Stil keine Krankenkassenbeiträge. Entweder, weil sie die Arbeiter schwarz beschäftigen, oder indem sie die Beiträge einfach nicht einzahlen. Selbst im letzten Fall passiert ihnen nicht viel, entweder die Forderungen verjähren oder es gibt eine gerichtliche Einigung und der Unternehmer bezahlt einen geringen Teil. Dazu kommen die rückläufigen Einnahmen der Krankenkassen durch gestiegene Arbeitslosigkeit, Lohnkürzungen und Umwandlung von Vollzeitstellen in flexible, schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse. Dagegen sind die erschwindelten Invalidenrenten betragsmäßig bedeutungslos.

Vor allem in den großen Städten wie Athen und Thessaloniki sind mittlerweile verschiedene selbstverwaltete Gesundheitszentren entstanden. Ärzte bieten dort kostenlose Versorgung für Menschen ohne Krankenversicherung an. Kann dies die Lösung des Problems sein?

Diese Initiativen sind sicher sehr wichtig. Vielen Menschen wird dadurch geholfen, vor allem all jenen, die keinerlei Zugang zu einer grundlegenden Gesundheitsvorsorge haben, die es ja staatlicherseits ohnehin nie gegeben hat in Griechenland. Aber diese selbstverwalteten Gesundheitszentren können nur sehr einfache Fälle behandeln. Damit kann man keine Schließungen von Krankenhäusern ausgleichen. Mann kann dort keine Operationen durchführen, keine teuren Medikamente sammeln und ausgeben. Es sind gute Initiativen, die jedoch auf keinen Fall die entstehende Lücke in der staatlichen Gesundheitsfürsorge schließen können.

* Antonis Karavas ist Arzt im öffentlichen Gesundheitssystem Griechenlands

Interview: Heike Schrader, Athen *

Aus: junge Welt, Mittwoch, 15. August 2012


Zurück zur Griechenland-Seite

Zurück zur Homepage